Der Angriffskrieg und die Kirchen

Der internationalen Ökumene fehlt eine klare friedensethische Linie
Transparent an der Salvatorkirche in Prag/Tschechien (Foto: 6. April 2022).
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Transparent an der Salvatorkirche in Prag/Tschechien (Foto: 6. April 2022).

Seit über einem Jahr widersteht die Ukraine dem russischen Angriffskrieg. Leider haben die Kirchen auf internationaler Ebene bisher gar nichts erreicht und kaum was versucht, kritisiert in seinem Beitrag der Politologe Fritz Erich Anhelm. Er war bis 2010 Direktor der Evangelischen Akademie in Loccum.

In der öffentlichen Diskussion über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehren sich Appelle für eine sofortige Einstellung der Kämpfe und den Beginn von Verhandlungen. Das ist richtig und fatal zugleich. Richtig wegen der ungeheuerlichen Verbrechen und Zerstörungen, die durch den Überfall seitens des Angreifers anrichtet werden. Und fatal wegen der Zumutung für die, die unmittelbar darunter leiden müssen.

In den meisten dieser Aufrufe wird zwar der Angriffskrieg grundsätzlich verurteilt. Wie die Forderung nach sofortigen Verhandlungen allerdings zu einem Vermeiden weiterer Kriegsverbrechen führen soll, bleibt jedoch in den Wolken. Angesichts der stets neu bekräftigten Absichten des Angreifers und ihrer brutalen Exekution erweist sich diese Forderung daher als indirekte Aufforderung an die Ukraine, ihr Recht auf Selbstverteidigung nicht länger wahrzunehmen, und als Absage an ihre weitere militärische Unterstützung.

Kirchen und deren ökumenische Zusammenschlüsse müssen sich in dieser öffentlichen Diskussion positionieren. Sie findet aber auch unter ihnen und in ihnen statt. Dabei zeigt sich wie in der Gesellschaft insgesamt das gleiche Unvermögen, sich über die politische Dimension der eigenen Haltung Klarheit zu verschaffen.

Spiel mit Ambivalenzen

Das zeigte sich jüngst im Vorfeld und auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im September in Karlsruhe und ebenso auf der Synode der EKD im November in Magdeburg. Im Zentrum standen auch die künftigen Beziehungen zur Russisch-Orthodoxen-Kirche und zum Moskauer Patriarchat. Vor Karlsruhe gab es eine öffentliche Aufforderung an den ÖRK und die EKD seitens kirchennaher Persönlichkeiten, sich vom Moskauer Patriarchen Kyrill klar zu distanzieren, und für ein Moratorium in den Beziehungen und die Überprüfung der Mitgliedschaft der Russisch-Orthodoxen-Kirche im ÖRK einzutreten. Der Bundespräsident forderte in seiner Grußansprache ebenso zu einer unzweideutigen Haltung gegenüber Kyrill auf. Danach verschwand das Thema in den Beratungen des Lenkungsausschusses. Am Ende wurde zu einer Verhandlungslösung aufgerufen. Wie in den offiziellen Papieren der ÖRK-Vollversammlung fand sich auch in denen der EKD-Synode kein Wort zu Kyrill.

Die Vorsitzende des Rates der EKD, Annette Kurschus, äußerte sich in Karlsruhe wie auch in Magdeburg. Sie warf Kyrill „Gotteslästerung“ wegen der Rechtfertigung des Angriffskrieges vor. Zugleich sprach sie von ihrer Skepsis gegenüber einer „Idealisierung des ukrainischen Abwehrkampfes als Verteidigung westlicher Werte“. Weiter erklärte sie: „Viele mögen Antworten im Ja-Nein-Schema. Ich mache da nicht mit. Wir verfügen nicht über ein Wissen christlicherseits, das es uns erlauben würde, einzelne politische Optionen direkt aus der Bibel abzuleiten“. In Magdeburg fügte sie in einer Predigt hinzu, sie könne „Politikerinnen und Politiker, die Waffen an die Ukraine liefern wollen, nicht vorwerfen, dass das unchristlich sei“, verwahrte sich dann aber dagegen, damit zu Waffenlieferungen aufgefordert zu haben. In diesem Zusammenhang warnte sie vor „zu hohen Rüstungsausgaben“ auf Kosten sozialer Leistungen im eigenen Land.

Das einzige Treffen mit Kyrill seit Beginn des Überfalls gab es kurz vor Karlsruhe mit dem amtierenden Generalsekretär des ÖRK. Nach außen wurde es seitens des Moskauer Patriarchats als Bestätigung der eigenen Haltung verkauft. Dass Kyrill dem Satz zugestimmt habe, Kriege könnten nicht heilig sein, wie es der ÖRK darstellte, tauchte in der Moskauer Interpretation nicht auf. Stattdessen erfuhren wir, dass Kyrill bei anderer Gelegenheit den Krieg in der Ukraine als „Verteidigung traditioneller christlicher Werte“ darstellte, dabei russische Soldaten segnete und den schon gefallenen zusagte, all ihre Sünden würden abgewaschen.  Dafür wählte er den Zusammenhang mit Opfertod Christi.

Vergebliches Bemühen

Der Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) schickte zu Beginn des Angriffs einen Brief an Kyrill, in dem er „Seine Heiligkeit“ darum bat, friedensstiftend auf Putin einzuwirken. Auf meine Rückfrage wurde mir mitgeteilt, dass eine Antwort in Brüssel nicht eingegangen sei. Das Moskauer Patriarchat hatte schon 2007 die Mitgliedschaft in der KEK suspendiert. Der Grund dafür war, dass die Orthodoxe Kirche Estlands nach ihrer Trennung vom Moskauer Patriarchat als Mitglied in die KEK aufgenommen wurde.

Nach dem Überfall auf die Ukraine bemühte sich die KEK auch darum, zur Russisch-Orthodoxen-Kirche in der Ukraine engere Kontakte anzubahnen, als diese sich nach dem Angriff vom Moskauer Patriarchat lossagte. Solche Kontakte bestanden bereits zur Ukrainisch-Orthodoxen-Kirche, die sich mit der Eigenstaatlichkeit der Ukraine gegründet hatte. Das Patriarchat in Konstantinopel hatte sie als autokephal anerkannt. Ihr stellte die KEK die Mitgliedschaft in Aussicht. Beide Kirchen sind von Kyrill mit einem Bann belegt, wobei Moskau zugleich die Lossagung der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Ukraine ignoriert und auszusitzen versucht.

Der Patriarch in Konstantinopel fand denn auch die bisher deutlichsten Worte zur unsäglichen Rolle seines Kollegen in Moskau. Er empfahl Kyrill den Rücktritt. Vom Moskauer Patriarchat, also von Kyrill, nicht direkt kontrollierte Kirchen, wie auch keine anderen Kirchen, insbesondere nicht orthodoxe, werden überhaupt nicht als christliche anerkannt. Weibliche Repräsentantinnen protestantischer Kirchen werden ohnehin nicht empfangen.

Die Ratsvorsitzende der EKD erklärte: „Wir dürfen und werden die ökumenischen Brücken zu ihr (gemeint ist die russische Orthodoxie, d. Verf.) nicht abbrechen“. Es geht jedoch nicht darum, den Kontakt zu Russisch-Orthodoxen Christinnen und Christen abzubrechen. Unter ihnen gibt es Mutige, die der Rechtfertigung dieses Überfalls durch Kyrill widersprechen. Es geht um die ausdrückliche „Heiligsprechung“ des Angriffs und der Kriegsverbrechen durch die Repräsentanten des Moskauer Patriarchats. Und wenn das sogar mit dem Wort „Gotteslästerung“ charakterisiert werden kann, dann haben diejenigen, die sie zu vertreten haben, in der globalen Ökumene der Kirchen keinen Platz. Es geht darum, diesen kirchlichen Repräsentanten den Zutritt zu ökumenischen Gremien zu verwehren. Bisher sind sie es gewohnt, dort einen Resonanzboden zu finden.

Hier sollte kirchenleitende Mut in der EKD und der Ökumene zu einer situativ und öffentlich klar begründeten Ansage kommen. Und darüber hinaus: Hat im letzten Jahr ein offizieller Besuch seitens der EKD bei den beiden Orthodoxen Kirchen in der Ukraine stattgefunden, die sich vom Moskauer Patriarchat getrennt haben? Wenn ja: Was waren seine Ergebnisse und was die Verpflichtungen, die dabei übernommen wurden? Wenn nein: Warum nicht?

Alles in allem: Sowohl ökumenisch als auch seitens der EKD sind gegenüber Kyrill und dem Moskauer Patriarchat keine öffentlich wahrnehmbaren Schritte in Richtung eines „Moratoriums“ in den Beziehungen unternommen worden. Nicht einmal die Prüfung der Mitgliedschaft im ÖRK steht dort offiziell zur Debatte. Sicher: Die Russisch-Orthodoxe-Kirche ist eine der größten Mitgliedskirchen im ÖRK. Zu seiner finanziellen Unterstützung trägt sie jedoch kaum etwas bei. Von den Russisch-Orthodoxen Kirchen in den USA und Kanada sind doch inzwischen auch deutliche Absetzbewegungen gegenüber Moskau zu verzeichnen. Die Möglichkeit, Kyrill international zu isolieren, wurde nicht einmal im Ansatz genutzt. Was ist der Grund? Papst Franziskus soll ihn in einem Telefonat immerhin davor gewarnt haben, zum „Messdiener“ Putins zu werden.

Aus der Zeit meiner intensiveren Kontakte zum ÖRK und zur KEK, die nun schon einige Jahre zurückliegen, kann ich sagen, dass ich auf Konferenzen und Versammlungen niemanden erlebt habe, der wie Kyrill strategisch so gezielt und so permanent Sand in das ökumenische Getriebe geschüttet hätte. Dabei diente ihm die „westliche Dekadenz“, die auch Putin ständig als Bedrohung der russischen Identität bemüht, als die zentrale Botschaft. Von Kyrill hat man sich das lange gefallen lassen. Wie lange und unter welchen Umständen es hinzunehmen ist, das darf und muss durchaus öffentlich thematisiert werden.

Dies ist kein Plädoyer für das Konstruieren von schismatischen Trennlinien zwischen Kirchen. Davon hatten wir in der Geschichte der Kirchen wirklich genug! Aber es ist ein Plädoyer für die gebotene Selbstachtung ökumenischer Gremien und Kirchen und eine Aufforderung, die politischen Auswirkungen des eigenen, öffentlich zu verantwortenden Handelns auf eine perspektivisch tragfähige theologische und durch die Praxis bekräftigte Basis zu stellen.

Gerechter Frieden durch Herrschaft des Rechts

Die einstimmig im Rat der EKD 2007 angenommene Friedensdenkschrift, durch die das besonders auch kirchlich jahrhundertelang tradierte Paradigma des „gerechten Krieges“ durch das des „gerechten Friedens“ ersetzt wurde, beinhaltet zwei zentrale Aussagen. Auf die erste Aussage hat Franz Grubauer in seinem zeitzeichen-Beitrag „In die Irre gegangen. Der aktuelle Streit um die Friedensethik und das Darmstädter Wort“ bereits verwiesen und zugleich angemahnt, die gesellschaftlichen und kirchlichen Mentalitätsmuster in der Zeit nach dem Darmstädter Wort nun im Verhältnis zum russischen Überfall auf die Ukraine aufzuarbeiten und neu zu bewerten.

Die EKD-Denkschrift von 2007 fordert nämlich, jede Gewalt, gerade auch die militärische, der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen. Das ökumenisch und international stark zu machen, ist aller Bemühungen der EKD wert, zumal das Prinzip des „gerechten Friedens“, das Recht über die Gewalt zu setzen, inzwischen auch in jüngsten Stellungnahmen der deutschen Regierung zum Angriffskrieg auf die Ukraine bis in UN-Gremien hinein eine zentrale Rolle spielt.  Die zweite Aussage fordert, schon die Androhung des Einsatzes nuklearer Waffen nicht länger mehr zu rechtfertigen. Angesichts der wiederholten Aussagen Putins, alle seine militärischen Mittel einzusetzen, gibt es auch hier akuten Anlass, für ein deutliches öffentliches Engagement der Kirchen und der Ökumene, das auch über das noch geltende Paradigma der Abschreckung hinausweist. In den gegenwärtigen offiziellen kirchlichen Stellungnahmen vermisse ich Aussagen, die diese Haltungen nun auf den Angriffskrieg Russlands beziehen.

Niemand wird auch aus diesem Angriffskrieg ohne Schuld entlassen, sei es durch sein Handeln oder Nicht-Handeln. Kriege sind menschengemacht. Doch es wird zuerst der schuldig, der den Angriffskrieg bewusst vom Zaun bricht, das heißt für wessen Interessen auch immer militärische Gewalt gegen ein anderes Land einsetzt und sie dem Angegriffenen aufzwingt. Diese „Erstschuld“ schließt die ein, die den Angreifer bewusst oder unbewusst unterstützen, rechtfertigen oder sein Handeln in Kauf nehmen, die es sogar religiös glorifizieren oder es säkular ideologisieren.

Vorsätzliches Verbrechen

Der Angriffskrieg ist im global anerkannten Völkerrecht ein vorsätzliches Verbrechen. Dem Angegriffenen steht deshalb das Recht zur Selbstverteidigung zu, einschließlich militärischer und humanitärer Hilfeleistung von außen. Für die Verurteilung und Bestrafung des Angreifers gibt es jedoch leider noch kein global anerkanntes Verfahren, das mit strafrechtlichen Konsequenzen bewehrt ist. Dafür künftig Voraussetzungen zu schaffen, sollte das erkennbare Engagement auch der Kirchen und der Ökumene herausfordern. Die Friedensdenkschrift der EKD bietet die Grundlage, auch im internationalen Rahmen die Anwendung von Gewalt dem Recht zu unterwerfen.

Der Aggressor zwingt den Angegriffenen dazu, in Notwehr zu handeln. Situativ erzwungene Notwehr rechtfertigt Gegengewalt. Sie ist legitim. Der Angreifer ist durch nichts legitimiert. Soweit waren wir doch schon in der kirchlichen Diskussion zum „gerechten Frieden“. Gerechter Frieden wird jedoch sinnlos in einer Konstellation, in der der Angreifer den Angriff ungehindert fortführen will und kann, besetzte Gebiete annektiert und dabei ungeheuerliche Kriegsverbrechen verübt. Gerechter Frieden gewinnt dann einen Sinn, wenn der Angreifer die militärischen Aktivitäten einstellt, sich aus den eroberten Gebieten zurückzieht, sich dem Urteil über seine Kriegsverbrechen stellt und zur Wiedergutmachung der Schäden bereit ist. Darunter ist ein gerechter Frieden nicht zu haben. Er ist nicht gerecht, wenn er auf Kosten des Angegriffenen angelegt ist. Die Ukrainer wissen das am besten. Dahinter fallen die bisherigen offiziellen ökumenischen und kirchlichen Stellungnahmen zum Angriffskrieg auf die Ukraine zurück. Und das ist ihr Dilemma.

Es ist es hohe Zeit, den gerechten Frieden als Referenzrahmen und das Prinzip des Rechts, dem militärische Gewalt justiziabel unterworfen ist, auf globaler Ebene einzufordern. Dies wäre ein entscheidender Beitrag gerade auch der Kirchen und der Ökumene zur Absicherung einer künftigen europäischen und globalen Friedensordnung. Der Ukraine aber steht in ihrer Notwehrsituation jede Hilfe zu, einschließlich ihrer überlebensnotwendigen militärischen Unterstützung.

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Foto: Julia Plümer

Fritz Erich Anhelm

Fritz Erich Anhelm (*1944) ist promovierter Politologe (Internationale Beziehungen), war Bundestutor für gesellschaftspolitische Jugendbildung, Generalsekretär der Evangelischen Akademien und des Zusammenschlusses ökumenischer Tagungszentren in Europa, sowie Direktor der Evangelischen Akademie Loccum.


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