Vom Wesen und Wesentlichen

Gabriele Münters Menschenbilder in Hamburg berühren mit ihrer intensiven Leuchtkraft
Gabriele Münter: „Bildnis Marianne von Werefkin“ (1909).
Foto: Lenbachhaus
Gabriele Münter: „Bildnis Marianne von Werefkin“ (1909).

Gabriele Münter (1877–1962) ist im pauschalen Blick auf den „Blauen Reiter“ meist nur eine Randerscheinung. Zu sehr ziehen Franz Marc als tragisch Frühvollendeter und Wassily Kandinsky als vergeistigtes Genie alle Blicke auf sich, als dass eine/diese Frau ebenbürtig Platz zwischen ihnen hätte. Dabei zählen sowohl ihr „Bildnis Marianne von Werefkin“ als auch „Jawlensky und Werefkin“ (beide 1909) zu den Kostbarkeiten der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, die sich dem „Blauen Reiter“ verschrieben haben. Das Doppelporträt auf einer geneigten Sommerwiese vor einer Bergwelt mit grandios flammendem Wolkenspiel erscheint wie das Abbild von Rainer Maria Rilkes Fragment „Immer wieder, ob wir der Liebe Landschaft auch kennen“, das wie „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ viel von der Landschaft trägt, die Gabriele Münter immer wieder aufscheinen lässt.

Kathrin Baumstark, Direktorin des Bucerius Kunst Forums, hat 2023 zum Jahr der Frauen ausgerufen und eröffnet es mit einer Retrospektive dieser besonderen Malerin bis zum 21. Mai unter besonderem Aspekt: ihren Menschenbildern. Die gesamte, knapp 80 Gemälde, Grafiken und Fotos umfassende Ausstellung mit diversen selten zu sehenden Leihgaben nimmt Porträts in den Blick, zu deren Entstehung Gabriele Münter selbst anmerkte: „Ohne Respekt vor dem Menschen ist kein wahres Bildnis möglich. Man muss Teilnahme und Verständnis haben, um einem Menschen gerecht zu werden. Nur wer Herzlichkeit mitbringt und bescheiden in den anderen sich versenkt, hat Aussicht auf Gelingen.“

Schönes, Intimes, Stilles

Dass diese Erkenntnis früh gereift ist, zeigen zunächst die eindrücklichen Bilder der zweijährigen Amerikareise, die Gabriele Münter mit ihrer Schwester Emmy nach dem Tod der Eltern als Einundzwanzigjährige 1898 – 1900 unternahm und sie als bemerkenswert reife, sehr bewusst inszenierende Fotografin zeigt. Daran schließt sich der Umzug nach München an die Damen-Akademie des Münchner Künstlerinnen-Vereins an, der sie als Künstlerin auf den Weg bringt und ihr schon 1908 die erste Einzelausstellung in Köln einbringt. All das lässt sich (auch in dem exzellenten Katalog zur Ausstellung) nachlesen. Sehen lässt sich hingegen dieser besondere Ausschnitt Münterschen Schaffens nur in Hamburg – und dieses Sehen ist etwas ausgemacht Schönes, Intimes, Stilles. Etwas, das berührt. Denn auf den 800 Quadratmetern Ausstellungsfläche, geschickt verwinkelt und mit kraftvollen Dunkelfarben höhlenartig gebannt, findet sich Gesicht an Gesicht in immer neuer, immer einnehmend eröffneter Wesentlichkeit – nie bloßstellend, nie karikierend oder infrage stellend. Gabriele Münter vermag es, Charakter und Atmosphäre direkt und voller Achtung – wie durch ein vom Gegenüber für den Moment geöffnetes Fenster – zu zeigen in großer Übereinkunft und Selbstverständlichkeit. Dafür wählt sie – auch das fällt in der wohltuenden Weite des Ausstellungsraumes besonders auf – sämtlich das kleine Format in schlichter Rahmung, das sich betont zurücknimmt und gleichermaßen zum doppelten Hinsehen einlädt.

So gerät jeder Blick zu einem stillen Dialog, zu einer unerwarteten, gleichwohl bewussten Begegnung. Die Stärke der Bilder Gabriele Münters liegt dabei neben der fokussierten Wesentlichkeit vor allem in der intensiven Leuchtkraft, die den puren Farben entspringt, mit denen sie arbeitet – und der von der Hinterglasmalerei übernommenen Eigenheit, alles mit feinem schwarzem Strich zu konturieren, wodurch immens klare Konturen entstehen und die Flächigkeit eine neue Präsenz erhält – eindrucksvoll ablesbar im „Mädchenbildnis“ (1908), dem „Bildnis Frau von Hartmann“ (1910) oder „Fräulein Gerti Holz“ (1917). Wie neu positioniert und einer neuen Sachlichkeit zusprechend, geraten hingegen Bilder der späten 1920er-Jahre, in denen sie auf Grün und Gelb verzichtet und in Blau-Schwarz-Rot-Weiß atmosphärisches Neuland betritt. Es gäbe noch viel zu sagen – noch mehr ist zu sehen. Das müssen Sie selbst. 

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