Zentrale Katastrophe

Europäische Geschichte

Geschichte geht es nicht um Meinungshoheit. Schlüssig soll sie sein, zutreffend und belegt, um zu wissen und zu verstehen sowie auch Schlüsse nach vorn zu erlauben. Dem Osteuropahistoriker Timothy Snyder ist 2010 mit Bloodlands in der Hinsicht ein großer Wurf gelungen. Gegenstand ist die aus seiner Sicht „zentrale Katastrophe des modernen Europas, die Ermordung von 14 Millionen Menschen im selben Zeitraum in derselben Region“: Westrussland, der Ukraine, Belarus, den baltischen Staaten und Polen, eben dem „Europa zwischen Hitler und Stalin 1933-1945“. Er fragt, wie konnte es dazu kommen, und wie ist es passiert.

Im Fokus standen zuvor bloß die Massenerschießungen von Stalins Großem Terror und der Holocaust.

Snyder stellt die unbekannteren Massenmorde von Sowjets und Deutschen hinzu, die das Gebiet zu den „Bloodlands“ machten: die gelenkte Hungersnot in der Ukraine, sowjetische Morde an Polen und Balten während des Hitler-Stalin-Paktes, der Hungermord an sowjetischen Kriegsgefangenen, das Aushungern Leningrads und die Massaker an Belarussen und Polen bei sogenannten Antipartisanenaktionen. Ihm ging es um eine neue Sicht auf das Ganze, auch um gemeinsame Muster sowie Momente der Interaktion und Wechselwirkungen zu erkennen.

Pflichtlektüre, die erschüttert, ist das Buch bis heute. Die fünfte Auflage erschien 2015 nach Russlands erstem False-flag-Überfall auf die Ukraine. Jetzt liegt es, wiederum unverändert, in sechster Auflage vor, die um ein gewichtiges Nachwort erweitert ist. Zunächst legt Snyder darin offen, wie er zu seinem Ansatz kam. Das schafft zusätzliche Transparenz. Wichtiger sind indes seine Ausführungen zur Rezeption des Buches und vor allem zu den Kontroversen darum. Deren Tenor, und das von verschiedener Seite, lautet: „Du sollst nicht vergleichen!“ Er verweist lapidar darauf, dass dies Teil historischer Arbeit sei, betont aber vor allem, dass es ihm um das Einbeziehen von Ereignissen zur selben Zeit am selben Ort geht. Weil dies den Holocaust in einen Kontext stellt, warf man ihm jedoch dessen Relativierung vor. Seine Reaktion kann der deutschen Erinnerungskultur, die er eigentlich lobenswert findet, nur nützen, an der er zwei heikle Aspekte benennt: Indem sie KZs statt Erschießungsgruben und Mordfabriken ins Zentrum stellte, habe sie ein falsches Bild geschaffen. Und indem sie den Relativierungsreflex als Tabu gegenüber jeder anderen als der in der Schule gelernten Darstellung etablierte, befördere sie eine Blindheit. Denn seine Holocaust-Version sei viel umfangreicher und belaste viel mehr Deutsche als die in den Schulbüchern. Folgte man der Logik des Tabus, könnten wir die Ereignisse weder beschreiben noch erklären, sondern bloß ihrer gedenken. Eine Erinnerung ohne Geschichte verblasse jedoch zum Vergessen. Putins Variante des Vergleichsverbots habe eine politische Agenda: „Russland kann die Ukraine mit der Behauptung angreifen, einen Holocaust zu verhindern, wie es 2014 und 2022 geschah.“ Das russische Erinnerungsgesetz benutze den Holocaust, um Kritik an Stalin zu verbieten. Er sei so außergewöhnlich, dass die Erwähnung sowjetischer Verbrechen seiner Leugnung gleichkomme. Derlei symbolische Affirmation des Holocaust führe aber zu seinem Ausschluss aus der Geschichte. Snyder erwidert: „Es gibt keine Welt, in der NS-Deutschland und die UdSSR nicht 1939 gemeinsam Polen überfielen“ – was den Holocaust, wie er geschah, letztlich erst ermöglichte.

Und grundsätzlicher: „Tabus schaffen Stämme, und Unwissen schafft Mobs. Nur Geschichte individuiert, indem sie das gemeinsame Thema liefert, von dem individuelles, ethisches Nachdenken ausgehen kann.“ Die Bloodlands leisten dazu einen wichtigen Beitrag, den das Nachwort jetzt erweitert. Ein Subtext der Lektüre ist ihre irritierende Aktualität, die Snyder als public intellectual in Zeitungs- und Blog-Beiträgen zum imperialistischen Krieg Russlands derzeit vielfach herausstellt. Überaus bedenkenswert sind gerade vor dem Hintergrund der „Bloodlands“ auch sie.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Rezensionen