Alte Männer

Jazz is Dead °16

"Ganz hinten aus der Schreibtischschublade holte ich die Büroflasche. Ein Keil Sonnenlicht rutschte über die Schreibtischkante und fiel lautlos auf den Teppich. Draußen auf der Straße arbeiteten rastlos die Verkehrsampeln, Stadtomnibusse donnerten vorbei.“ Philip Marlowes Büro am Hollywood Boulevard in L.A. ist eine literarische Institution, eine Art von Zuhause auch, aber manchmal braucht mensch mehr als die bewährte Einzelgängerklause. Nicht unbedingt Gesellschaft oder Wärme, schon gar nicht gute alte Zeit, so es die überhaupt mal gegeben hat, eher einen Ort zum Fallenlassen, wo er haltlos sein kann und mag. Nennen wir es Auszeitnische.

„Jazz is Dead“ ist so ein Raum zum Abhängen und dementiert zugleich vital die Behauptung. In L.A., neben London ein Epizentrum aktueller Jazzerneuerung, war es zuerst eine Konzertreihe zur Begegnung von Beatszene und Jazz, begründet vom Promoter Andrew Lojero. Es ist nun aber auch ein Label mit demselben Ansatz: Alte Recken und junge Infizierte gehen gemeinsam ins Studio. Ali Shaheed Muhammad, einst Jazz samplender DJ der HipHopper „A-Tribe-Called-Quest“, und der Komponist, Plattenladeninhaber und Filmmusiker Adrian Younge produzieren die Aufnahmen und spielen Keyboards, Gitarre und Bass. Für „Jazz is Dead 016“ waren jetzt Phil Ranelin (Posaune) und Wendell Harrison (Tenorsaxophon, Bassklarinette) da. Die Liste ihrer Kollaborationen ist beeindruckend, ihr Beitrag zur Entwicklung der Szene Legende: In den 1970ern hatten sie in Detroit das unabhängige Label „Tribe Records“ gegründet, das eine wegweisende Plattform wurde, auf der die Musiker Verkauf und Vermarktung selbst in der Hand hatten. Kulturelles Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit der schwarzen Community wollten sie stärken, zudem boten „Tribe“-Konzertreihen und -Magazin Möglichkeiten zur Artikulation. Nachwuchsförderung kam hinzu. Die ideelle Nähe zu „Jazz is Dead“ ist demnach organisch, und der Spirit lebt eh weiter.

Die sieben Tracks auf JID016 strotzen vor Spielfreude, es gibt Space-Jazz-Ausflüge und immer wieder Latin-Muster, vor allem Bossa. Insgesamt aber prägen 70er-Fusion und Soulfunk die Aufrisse der Stücke, die also groovy sind. Komponiert und arrangiert haben die vier gemeinsam, wobei im Nachgang nicht allzu viel gefeilt wurde. Der Live-Eindruck überwiegt, wozu der junge Drummer Greg Paul immens beiträgt. Dieser Irrwisch an Können und Inspiration trommelt ansonsten bei der umtriebigen L.A.-Jazzband „Katalyst“, ist aber längst eine Art Hausdrummer der JID-Alben. Credo des jungen Mannes: „When you’re hearing the band live, you’re in the presence of something being created.“ Und so wirkt JID016 auch – ein wohltuender Einstieg in die ganze Serie, die bis auf JID0100 wachsen soll. Wir nehmen, was wir kriegen, und sehen selig der Sonne zu, wie sie über die Schreibtischkante rutscht und lautlos auf den Teppich fällt.

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