Marxismus, Materialismus und Religion

Das Recht in der DDR am Beispiel der Kirchen und des Religionsunterrichts
Werkausgabe von Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1922) im „Stasi-Museum“ in der Normannenstraße, Berlin-Lichtenberg.
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Werkausgabe von Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1922) im „Stasi-Museum“ in der Normannenstraße, Berlin-Lichtenberg.

Die Juristin Viola Vogel, Vorstandsmitglied der Diakonie Sachsen in Radebeul, hat über DDR-Recht promoviert. Sie erinnert in ihrem Beitrag an das Rechtswesen in der DDR und seine praktischen Wirkungen für die Kirche und den Religionsunterricht. Auf diesem Feld, so ihre These, setzte sich Lenin gegen Marx durch.

Unter Obst versteht man landläufig Früchte, die aus einer befruchteten Blüte entstehen. Dagegen zählen zum Gemüse alle essbaren Pflanzenteile mit Ausnahme der Früchte. Doch schaut man genauer hin, wird es schwierig: Wie verhält es sich mit Kürbissen, Gurken, Rhabarber und Zucchini – Früchte oder Gemüse und also doch Ähnlichkeiten?

Der Marxismus-Leninismus hat mit Marx ungefähr so viel zu tun wie Obst mit Gemüse: oberflächlich betrachtet erst einmal nichts. Und doch versuchten Lenin wie auch Stalin, sich die Gedanken von Marx und Engels in vielfacher Hinsicht zu eigen zu machen. Sie verfremdeten Marx’ Gedanken und suggerierten, der „Marxismus-Leninismus“ sei die natürliche Fortentwicklung der marxschen Gedanken zu Religion und Recht. In seinem 1902 erschienenen Buch Was tun? passte Lenin die politische Theorie des Marxismus den Bedingungen der von Verbannung und Verhaftung ständig bedrohten sozialistischen Arbeiterbewegung in Russland an.

Für die Religionsgemeinschaften in Deutschland wurde die von Lenin und Stalin entwickelte Lehre des Marxismus-Leninismus insofern praktisch relevant, als die Gedanken von Marx und Engels zum Verhältnis des Staates zur Religion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als sowjetischer Re-Import in den östlichen Teil Deutschlands zurückgelangten. Dort wurden sie über das Verfassungsrecht und das einfachgesetzliche Recht zur Weltanschauung des sozialistischen Staatsgebildes der DDR erhoben.

Marx selbst war keinesfalls ein „Feind der Religion“, wie Lenin wenige Jahre später postulierte. Für Marx und Engels war die Religionskritik lediglich Ausgangspunkt für eine umfassende Gesellschaftskritik an den herrschenden politischen und ökonomischen Verhältnissen ihrer Zeit. Marx und Engels nahmen die Notwendigkeit des Bestehens von Religion und den Glauben an einen Gott als Symptom einer defizitären, weil kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft wahr. Seien die Ziele der Abschaffung der Klassengesellschaft und die Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse erst einmal erreicht, so Marx’ These, würden mangels weiterer Notwendigkeit sowohl die Religion als auch das Recht und der Staat gemäß der Gesellschaftsutopie des Kommunismus schlicht „absterben“.

Marx schloss sich der von Hegel vertretenen These eines von der Religion getrennten, nur dem Allgemeininteresse verpflichteten Vernunftstaates an. Für Hegel war die Philosophie der Religion insofern überlegen, als sich die philosophische Reflexion auf der, wie er fand, höher zu wertenden Ebene des Begriffes bewegte, während die Religion lediglich in der Form der subjektiven Anschauung Wahrheitssuche zu betreiben imstande sei. Hegel glaubte nicht mehr an Gott. Er dachte Gott als endgültige Verkörperung des Weltgeistes. Die Religion, so meinte Hegel 1820 in seinen Grundlinien einer Philosophie des Rechts, sei aber insofern für den Staat relevant, als sie für den Staat das „Tiefste der Gesinnung integrierende Moment“ sei.

Der Schüler Hegels, Ludwig Feuerbach, war hier radikaler. Er vertrat einen zutiefst diesseitsorientierten Ansatz und postulierte: Nur, was sinnlich wahrnehmbar sei, sei auch wahr oder existent. In der Folge, so führte er in seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums aus, sei Religion ein ideologisches Konstrukt des Menschen selbst und Gott also eine bloße Projektion des Menschen außerhalb seiner selbst.

Religiös hochgebildet

Der religiös hochgebildete Neffe und Enkel einer angesehenen Trierer Rabbinerfamilie, Karl Marx, übernahm diese religionskritischen Gedanken Feuerbachs und Hegels während seines Jurastudiums 1836 in Berlin und hoffte, der Mensch möge befähigt werden, sich nicht um die vermeintliche „Sonne Gott“, sondern „um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne“ zu bewegen, wie er in seiner Rechtsphilosophie (1843/44) schrieb.

Den so verstörenden und viele Christen in der DDR diskriminierenden kämpferisch-ideologischen Unterton erhielt die Religionskritik nicht von Marx, sondern durch Lenin und Stalin. Lenin war es, der aus der marxschen Theorie über gesellschaftliche Prozesse und politische Ökonomie eine Revolutionsideologie machte. Dadurch verkehrte Lenin die marxsche Kritik an jeder Form von Ideologie in ihr Gegenteil. Lenin bezeichnete den Marxismus-Leninismus nun selbst im positiven Sinne als Ideologie – von Marx nie beabsichtigt.

Fortan standen sich deshalb aus marxistisch-leninistischer Sicht die „religiöse Ideologie“ und die „marxistisch-leninistische Ideologie“ feindlich gegenüber. Religion wurde in der DDR aufgrund dieser Verfremdungen Lenins als unwissenschaftlich diffamiert; Materialismus und kämpferischer Atheismus in eins gesetzt und zu einer Zugangsvoraussetzung erhoben für die Verfechter des wahren Marxismus. Das gipfelte in der Leninschen Formel: „Ein Marxist muss Materialist sein, d. h. ein Feind der Religion.“

Auslegungsprimat der Partei

Für das sozialistische Religionsrecht hatte Lenins Umdeutung der marxschen Gedanken einer Ideologiekritik zur marxistisch-leninistischen Ideologie zur Folge, dass Lenin nach der Oktoberrevolution 1917 mit seinen juristischen Hauptvertretern Alexander Gojchbarg, Pēteris Stučka und Jewgeni Pašukanis einen eigenständigen sozialistischen Rechtsbegriff entwickelte. Das neue, sozialistische Recht sollte parteilich, instrumentell und relativ sein.

Die viel gerühmte „sozialistische Gesetzlichkeit“ der DDR war damit Ausdruck parteilichen Rechts, welches stets unter dem Auslegungsprimat der Partei stand. Es war in hohem Maße wandelbares und aus Sicht des Bürgers unberechenbares Recht. Denn nach sozialistischer Lesart war eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Judikative und Legislative jetzt, nach der Abschaffung der Klassengesellschaft und der Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse, nicht mehr nötig. Anstelle des Prinzips der Gewaltenteilung trat deshalb das sozialistische Prinzip der Gewalteneinheit. Es war nach dieser Rechtsauslegung einer einzigen, zentralen Staatsgewalt nur konsequent, 1952 mit einer Verwaltungsreform in der DDR sowohl die gesamte kommunale Selbstverwaltung, den Verwaltungsrechtsweg als auch die Bundesstaatlichkeit zu Gunsten eines hierarchisch aufgebauten Zentralstaates abzuschaffen.

Lenin entwickelte aus Marx’ Gedanken eine Revolutionsideologie seiner Partei. Diese harsche Ausbildung eines Über-/Unterordnungsverhältnisses zwischen ideologisch geschulten Berufsrevolutionären und der übrigen Arbeiterklasse kritisierte bereits Rosa Luxemburg. Sie wies darauf hin, dass jede Zerstörung demokratischer Freiheiten notwendigerweise das politische Leben erdrücke bis dahin, so sah sie in ihrem bereits 1918 erschienenen Werk Zur Russischen Revolution prophetisch voraus, dass am Ende „einige Dutzend Parteiführer … dirigieren und regieren … und eine Elite der Arbeiterschaft … von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten [wird], um den Reden der Führer Beifall zu klatschen“.

Und so kam es auch in der DDR. Demokratischer Zentralismus, innerparteiliches Fraktionsverbot und faktische innerparteiliche Totalzensur machten die Parteimitglieder zu bloßen Befehlsempfängern einer kleinen Herrschaftselite um das Politbüro mit seinem Generalsekretär an der Spitze.

Die DDR übernahm den marxschen Ansatz, Religion als Reflex von Klassenherrschaft zu betrachten. Religion erschien den sozialistischen Machthabern in der DDR als Teil eines überwunden geglaubten Systems, des Kapitalismus. Dadurch, dass sie Religion als zu bekämpfende Gegenideologie zur Weltanschauung des Marxismus-Leninismus wahrnahmen, konnten und wollten sie der Religion keine autarke Eigendynamik zuerkennen. Diese Haltung führte bei den sozialistischen Führungseliten in der DDR zu einer Mischung aus Unverständnis, offenem und verdecktem Kampf, Mitleid und erzieherischem Eifer den Gläubigen gegenüber.

Christliche Kinder, die sich der Jugendweihe verweigerten, durften in der Regel trotz großartiger Noten in der Schule nicht die sogenannte Erweiterte Oberschule (EOS) besuchen und Abitur machen. Sie wurden in der Schule von den Lehrern verächtlich gemacht und mit der vorherrschenden „wissenschaftlichen Weltsicht“ des Marxismus-Leninismus konfrontiert nach dem Feuerbach’schen Motto: „Ich glaube nur, was ich sehe.“ Die Jugendweihe wurde eingeführt als Ersatzritus für die Kommunion und Konfirmation der katholischen und evangelischen Kirchen und von Staats wegen aktiv propagiert; der Religionsunterricht an den Schulen verboten und in die kirchlichen Räume zurückgedrängt.

„Bürgerliches Gewand“

Das alles geschah nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 nicht auf einmal und mit einem Paukenschlag. Im Gegenteil lehnte sich die am 7. Oktober 1949 verabschiedete Verfassung der DDR ihrer Form nach stark an die Weimarer Reichsverfassung an. Dieses „bürgerliche Gewand“, das die erste Verfassung der DDR trug, ist Ausdruck der Tatsache, dass die SED im Jahre 1949 noch darauf angewiesen war, mit den politischen Kräften des bürgerlichen Lagers zusammenzuarbeiten. Für den bürgerlichen Anstrich der ersten Verfassung der DDR war daneben das weltpolitische Kalkül der Sowjetunion ausschlaggebend.

Weil Stalin sich die Wiedervereinigung unter sowjetischer Hegemonie noch offenhalten wollte, ließ er zu, dass sich die DDR-Verfassung formal an der Weimarer Verfassung orientierte, um die Westmächte nicht unnötig zu provozieren.

Dasselbe gilt für die religionsrechtlichen Artikel der Verfassung. Der Wortlaut der Artikel 41 bis 48 der Verfassung der DDR von 1949 war fast wortgleich eine Wiedergabe der Artikel 136–141 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919: So sicherte die Verfassung der DDR formal „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ und „ungestörte Religionsausübung“ ebenso zu wie das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, das „Recht der Kirche auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der Schule“ sowie die Aufrechterhaltung der Staatsleistungen.

Faktisch wurden die formal gewährleisteten verfassungsrechtlichen Garantien in der Verfassung von 1949 von der SED auch vor Erlass der neuen Verfassung von 1968 durch einfaches Verwaltungsrecht unterlaufen. Hatte der Ministerrat der DDR mit den evangelischen Kirchen im Jahr 1953 in einer Art „Burgfrieden“ ein Kommuniqué geschlossen, welches die Schulen unter anderem verpflichtete, so eine Verfügung des Ministeriums für Volksbildung vom 14. November 1953, „der Kirche auf Ansuchen Räume zur Erteilung des Religionsunterrichtes kostenlos zur Verfügung zu stellen“ und den Religionsunterricht „unmittelbar vor oder nach dem planmäßigen Unterricht der einzelnen Klassen“ erteilen zu können, änderte sich dies 1958.

So erließ Volksbildungsminister Emil Lange am 12. Februar 1958 eine „Anordnung zur Sicherung von Ordnung und Stetigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozess der allgemeinbildenden Schulen“. Diese stand in diametralem Gegensatz zu dem Kommuniqué von 1953. Der Lange-Erlass ordnete an, eine angeblich bestehende „übermäßige außerschulische Beanspruchung der Schüler zu beseitigen“ dadurch, dass zwischen dem „lehrplanmäßigen Unterricht[ ] und andere[n] verbindliche[n] Veranstaltungen der Schule“ eine „angemessene Pause“ von „mindestens zwei Stunden eingeschaltet wird.“ Angeblich, um „Verkehrsunfälle vor den Schulen vorzubeugen“, wurden die Lehrer darüber hinaus angewiesen, ihre „Klasse nach der letzten Unterrichtsstunde durch das Schulhaus zum Schultor“ zu geleiten.

Das hatte zur Folge, dass selbst die Kinder, die die zwei Stunden zwischen der letzten Schulstunde und dem Religionsunterricht ausharrten, zunächst das Schulgebäude mit ihrem Lehrer verlassen mussten, bevor sie es für den Religionsunterricht wieder betreten durften. Schließlich benötigten alle Personen, die „Schüler außerschulisch … unterweisen oder erziehen“, einen jederzeit widerruflichen „Ausweis, dessen Gültigkeitsdauer vierteljährlich durch den Leiter der Schule zu verlängern“ war. Die Kinder durften nur von solchen Personen außerschulisch unterrichtet werden, die „für diese verantwortliche Aufgabe geeignet“ waren und „in ihrem Verhalten positiv zum Staat der Arbeiter und Bauern“ standen. In Paragraf 5 des Erlasses wurde der Religionsunterricht dann direkt erwähnt, dass „für die Teilnahme an religiösen Unterweisungen“ nicht geworben werden durfte und, soweit Räumlichkeiten der Schule für die religiöse Unterweisung zur Verfügung gestellt wurden, dies „nur spätestens bis zum Ablauf ihrer Grundschulpflicht“ geschehen konnte. Faktisch wurde der Religionsunterricht in den Schulen durch den Lange-Erlass abgeschafft. Die Religionsgemeinschaften wurden gezwungen, parallel zum Schulunterricht in den Kirchgemeinden eigene Formen religiöser Unterweisung der Schüler aufzubauen, die sogenannte Christenlehre, die es teilweise bis heute in den ostdeutschen Bundesländern über die Kirchgemeinden parallel zum Religionsunterricht in den Schulen gibt.

Ins Gegenteil verkehrt

Im Ergebnis lässt sich sagen, dass die Entscheidungsträger in der DDR das Verständnis von Staat, Recht und Religion genau in der Weise verfremdeten, wie Lenin und Stalin es ihnen vorgaben. Durch Einführung der Parteilichkeit als konstitutives Element der sozialistischen Gesetzlichkeit diente das Recht dem Ausbau der Macht des Parteiapparates. Durch diese Instrumentalisierung des Rechts und seine Unterordnung unter die Partei konnten zwei zentrale Anliegen von Marx in der DDR nicht verwirklicht werden: Weder konnten das Recht und seine Kodifizierungen kritisch betrachtet und gegebenenfalls als Tendenzgesetze oder Mittel in den Händen einzelner Interessengruppen entlarvt werden, noch konnte das Recht die Politik begrenzen. Für den Bürger und insbesondere den christlichen Bürger in der DDR wirkte das sozialistische Recht somit nicht freiheitsermöglichend, sondern freiheitsverkürzend. Haben Obst wie auch Gemüse gemein, dass beide der Pflanzenwelt zugehörig sind, ist es mit dem Marxismus-Leninismus anders: Er suggeriert nur durch die Wortschöpfung, eine natürliche Fortführung der Gedankenwelt des Karl Marx zu sein. In Wahrheit pervertiert der Marxismus-Leninismus Marx’ Gedanken in ihr Gegenteil.

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Viola Vogel

Dr. Viola Vogel ist im Vorstand Wirtschaft und Recht beim Diakonischen Werk der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens e.V. in Radebeul.


 


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