„Der Heilige Stuhl wackelt ein bisschen“

Weltgebetstag 2023: Gespräch mit dem taiwanesischen Repräsentanten in Deutschland
Jhy-Wey Shieh
Foto: Holger Weng
Jhy-Wey Shieh

Taiwan steht im Zentrum des Weltgebetstags 2023, der heute begangen wird. Aus diesem Anlass hat zeitzeichen-Mitarbeiter Tilman Asmus Fischer mit Professor Jhy-Wey Shieh  gesprochen. Er ist Repräsentant von Taiwan in der Bundesrepublik Deutschland.

Ende der 1980er-Jahre gelang der Republik China, so der offizielle Name, die erfolgreiche Transformation von einer Militärdiktatur in eine lebendige Demokratie. Der Volksrepublik China gilt Taiwan jedoch als abtrünnige Provinz – und weltweit erkennen nun 14 Staaten die Republik als souveränen Staat an. Christen standen als politische Akteure sowohl auf der Seite der Demokratiebewegung als auch derjenigen der mit Kriegsrecht regierenden Kuomintang. Heute genießen insbesondere buddhistische Tempel politischen Einfluss. Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage sieht Professor Jhy-Wey Shieh, der Repräsentant Taiwans in der Bundesrepublik Deutschland, den diesjährigen Weltgebetstag als ein hoffnungsvolles Zeichen.

zeitzeichen: Exzellenz, drei Tage vor dem heutigen Weltgebetstag hat Taiwan wie jedes Jahr an den 28. Februar 1947 erinnert. Welche Ereignisse verbinden sich mit diesem Datum?

Jhy-Wey Shieh: 1945 hatte die Republik China, die damals ganz China umfasste, die Herrschaft über Taiwan übernommen und von der japanischen Kolonialherrschaft befreit. Schnell wurden jedoch die hiermit verbundenen Hoffnungen der Taiwaner auf ein Ende der kulturellen Unterdrückung enttäuscht, da die in China regierende „Nationale Volkspartei Chinas“ Kuomintang (KMT) unter Chiang Kai-shek ihrerseits Taiwans Sprache und kulturelle Identität zugunsten des Mandarin und einer gesamtchinesischen Identität zu unterdrücken begann. Proteste der Taiwaner und gewaltsame Reaktionen der chinesischen Regierung führten ab dem 28. Februar 1947 zu einem Massaker, dem 10.000 bis 30.000 Zivilsten zum Opfer fielen. Zugleich war der 28. Februar 1947 ein Vorbote der Zeit von 1949 bis 1987, in der die KMT – nach der Vertreibung vom Festland durch die Kommunisten unter Mao – Taiwan mit dem Instrument des Kriegsrechts als Ein-Parteien-Staat regierte.

Welche erinnerungspolitischen Implikationen verbinden sich vor diesem Hintergrund mit dem 28. Februar?

Jhy-Wey Shieh: Der 28. Februar steht für die Aufarbeitung der Diktatur, die Chiang Kai-shek und sein Sohn, Chiang Ching-kuo, in Taiwan mit der Verhängung des Kriegsrechts errichtet haben. Viele Menschen haben darunter gelitten. Und wenn wir uns heute fragen: „Wie stellten wir uns unsere Zukunft vor?“, dann kann diese Zukunft nie konkret genug beschrieben werden, wenn man die Vergangenheit nicht kennt. So viele Menschen sind auf der Strecke geblieben, damit wir heute mit Stolz darauf hinweisen können, dass uns der Übergang von einer Diktatur zur Demokratie gelungen ist. Und das ist nicht vom Himmel gefallen. Mit der Demokratisierung 1987 ist ein Paradigmenwechsel gelungen: Die Taiwaner haben den chinesischen Nationalismus überwunden und erkannt, dass Freiheit und Demokratie ein höherer Wert sind als eine Wiedervereinigung unter Gewalt und Diktatur. Das freilich macht uns in den Augen der Chinesen zu Verrätern.

Präsident Chiang Kai-shek war aktives Mitglied der Methodistischen Kirche. Welche Rolle spielte die methodistische Kirche in der Militärdiktatur?

Jhy-Wey Shieh: Um dies zu verstehen, muss man sich die Situation in den 1960er-Jahren vor Augen führen: Die Evangelisch-methodistische Kirche, zu der auch die Taiwanischen Methodisten gehören, war und ist Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen. Dieser war in den 1960er-Jahren jedoch für eine UN-Mitgliedschaft der Volksrepublik China eingetreten, was im diametralen Gegensatz zu den Interessen Chiang Kai-sheks stand, der für die Republik China auf Taiwan den Alleinvertretungsanspruch für Gesamtchina erhob. Damit saßen die Methodisten zwischen zwei Stühlen: Wem sollte man folgen, dem eigenen Diktator oder den Geschwistern in der Ökumene? Es kam zu Spannungen in der methodistischen Kirche Taiwans und zu inneren Auseinandersetzungen. Diese konnte Chiang Kai-shek – vor allem durch den Einsatz von Agenten in den Reihen der Kirche – für sich entscheiden. Seitdem steht die methodistische Kirche treu an der Seite seiner Partei, der KMT.

Wie positionierten sich andere christliche Konfessionen in dieser Zeit?

Jhy-Wey Shieh: Die größte christliche Konfession Taiwans, die Presbyterianer, war ein unmittelbarer Förderer der Demokratisierung. 1971, 1975 und 1977 veröffentlichte die Presbyterianische Kirche Erklärungen für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. Außerdem verwendeten viele ihrer Pfarrer in Predigten und Seelsorge die taiwanische Sprache. Das war natürlich ein Affront gegenüber der KMT, die versuchte, das Japanische und Taiwanische zugunsten des Chinesischen zu verdrängen. Außerdem betrieben die Presbyterianer – ebenso wie Methodisten und Katholiken – Schulen und Universitäten in Taiwan. Auch hierüber konnte sie positiv Einfluss nehmen. Aber es gab auch Vertreter der Kirche, die selbst politisch aktiv wurden.

Zum Beispiel?

Jhy-Wey Shieh: Einer von ihnen war Lin Hung-hsuan, ein presbyterianischer Pfarrer. Er hatte in den USA studiert und war eigentlich in den 1970er-Jahren dort mit seiner Promotion befasst, die er jedoch abbrach und nach Taiwan zurückkehrte, um die Dangwai-Bewegung zu unterstützen. Dangwai heißt „außerhalb der Partei“ diese Gruppe hatte sich als Opposition zur KMT formiert und trat für ein Ende von Kriegsrecht und Diktatur ein. So wie viele Presbyterianer, die ich nachher kennengelernt habe, sagte Lin: Die Gerechtigkeit Gottes macht keinen Halt – selbst vor allmächtigen Herrschern nicht, und gerade unter ihnen muss man sich als Christ für die leidenden Menschen engagieren. Und wo leiden Menschen am schwersten? Dort, wo das Regime keine Gnade kennt. Und dann kam es zum Formosa-Vorfall.

Was hat es damit auf sich?

Jhy-Wey Shieh: 1979 entstand ein unmittelbarer Konflikt zwischen Chiang Ching-kuo und der Dangwai-Bewegung. Während bei nationalen Parlamentswahlen Oppositionsparteien verboten waren, war es auf Kommunal- und Provinzebene möglich, gegen die KMT zu kandidieren, was die Dangwai-Bewegung mit wachsendem Erfolg tat. Als die KMT die für angesetzten 1979 Provinzwahlen aussetzen, gingen die Oppositionellen trotz der schärfsten Warnungen Chiang Ching-kuos in der Stadt Kaohsiung auf die Straße, es kam zu Ausschreitungen, und die Demonstration endete damit, das zwölf führende Persönlichkeiten – zwei Frauen und zehn Männer – inhaftiert und vor Gericht gestellt wurden. Lin Hung-hsuan gehörte zu den „Acht von Kaohsiung“, die zu ausgesprochen langen Haftstrafen verurteilt wurden.

Schreibt sich dieses Erbe religiös motivierten Engagements in der Politik in die Gegenwart fort? Welchen Einfluss hat Religion – und haben konkret die christlichen Kirchen – für Gesellschaft und Politik im heutigen Taiwan?

Jhy-Wey Shieh: Insgesamt stellen Christen in Taiwan eine Minderheit – von etwa 600.000 Menschen – dar. Wenn man heute von religiösen Einflüssen auf die Politik spricht, geht es vor allem um buddhistische und daoistische Tempel. Es gibt hunderte und tausende von ihnen, und sie haben vor allem auf dem Lande einen großen Einfluss auf die Bevölkerung. Da die Gläubigen viel spenden, sind die Tempel sehr reich; zudem werden sie aufgrund fehlender rechtlicher Regelungen für Religionsgemeinschaften nicht besteuert. Jeder größere Tempel, zu dem zigtausende Menschen kommen, hat einen Vorstand – und zu einem dieser Vorstände zu gehören, verspricht Prestige und politischen Einfluss.

In welche Richtung wird dieser Einfluss genutzt?

Jhy-Wey Shieh: Von den vier größten Tempeln wurde nur einer – dafür aber der bedeutendste – von einer gebürtigen Taiwanerin, Cheng Yen, gegründet. Zu ihrem Tempel in Hualien gehört die Tzu Chi Foundation, die weltweit humanitäre Hilfe organisiert. Die drei anderen Tempel und ihre Organisationen jedoch wurden durch Festlandchinesen gegründet, die mit Chiang Kai-shek nach Taiwan kamen. Zudem stammen auch ihre Götter vom Festland – was zur identitätspolitischen Aufladung ihrer Form von Buddhismus beiträgt: Zwei von ihnen stehen traditionell an der Seite der KMT und fordern ihre Anhänger zu deren Unterstützung – etwa bei Wahlen – auf.

Was bedeutet das für die gegenwärtig regierende liberaldemokratische „Demokratische Fortschrittspartei“ DDP, die aus der Bürgerrechtsbewegung entstanden ist?

Jhy-Wey Shieh: Ihre Lage ist – fragt man nach der Unterstützung durch religiöse Akteure – relativ schlecht. Tzu Chi hält sich traditionell ganz deutlich politisch neutral. Teils agiert die Stiftung dezidiert unpolitisch und betreibt unter anderem Projekte auch in China, was das Risiko einer Einflussnahme durch Peking birgt. Die anderen Tempel halten sich meistens, wie gesagt, zur KMT; ähnlich sieht es bei den Methodisten aus. Lediglich unter den Anhängern der presbyterianischen Kirche gibt es eine klare Präferenz für die DDP.

Lassen Sie uns den Blick über Taiwan hinaus weiten! Welche Bedeutung hat es für Ihr Land, das nicht Mitglied der UNO ist und von Festlandchina aggressiv an der Mitarbeit in UN-Organisationen gehindert wird, dass die Christen des Landes als eigenständige Gruppe innerhalb von Institutionen wie dem heutigen Weltgebetstag in Erscheinung treten?

Jhy-Wey Shieh: Als ich von der – bereits 2017 getroffenen – Entscheidung für Taiwan erfuhr, war ich positiv überrascht, dass Taiwan in einer so großen Organisation im Mittelpunkt steht. In den vergangenen Monaten haben meine Kollegen und ich dann viele Einladungen bekommen, nach Berlin – aber wir sind auch z. B. nach Sachsen gefahren. Das steht natürlich im Kontrast zur politischen Isolation Taiwans, das allseits als lebendige Demokratie, nicht aber als souveräner Staat anerkannt ist, sodass wir international auf politischer Ebene kaum Handlungsmöglichkeiten haben. Dies aber kann kompensiert werden dadurch, wie wir etwa im Rahmen des Weltgebetstags behandelt werden. Ich würde mir sehr wünschen, dass es häufiger zu solchen Signalen kommen würde. Das ist etwas, das uns tröstet.

Der Weltgebetstag ist ein ökumenisches Forum, an dem nicht zuletzt auch katholische Christen mitwirken. Wie blicken Sie auf die laufenden unter Geheimhaltung stehenden Verhandlungen des Vatikans – des einzigen europäischen Staates, der einen offiziellen diplomatischen Kontakt mit Taiwan pflegt – mit der Kommunistischen Partei Chinas über die bilateralen Beziehungen?

Jhy-Wey Shieh: Manchmal sage ich scherzhaft, dass der Heilige Stuhl ein bisschen wackelt. Aber man muss dem Vatikan – dem ich keinen Vorwurf mache – hoch anrechnen, dass er sich für Millionen von Katholiken einsetzt, die in China leiden. Es gibt einen Investiturstreit zwischen Peking und dem Heiligen Stuhl über die Einsetzung der Bischöfe in den chinesischen Diözesen – und damit eine Spaltung der katholischen Kirche in eine regimetreue Amtskirche und eine Rom-treue Untergrundkirche, die durch Peking verfolgt wird. Der Vatikan scheint bereit zu sein, Kompromisse zu machen, um die Situation der eigenen Gläubigen zu verbessern.

Was treibt Peking zu einer so harten Haltung gegenüber den Katholiken?

Jhy-Wey Shieh: Im 19. Jahrhundert gab es in China die Taiping-Bewegung: christliche Rebellen, die versuchten, die Qing-Dynastie zu stürzen, und die im Südosten des Landes eine christliche Theokratie errichteten. Diese hatte keinen Bestand. Aber China hat die historische Erfahrung gemacht, dass aus der Bevölkerung eine religiöse Bewegung entstehen kann, die die Macht des Staates bedroht, dies mag erklären, warum Peking Religionen als prinzipielle Bedrohung ansieht.

Könnte ein wie von Ihnen angedeuteter Kompromiss mit Peking beinhalten, dass der Heilige Stuhl die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan zugunsten Festlandchinas aufgibt?

Jhy-Wey Shieh: Darauf zielt China natürlich ab und die Befürchtung ist begründet. Auch vor dem Hintergrund, dass von den weltweit 14 Staaten, die Taiwan anerkennen, einige auf dem südamerikanischen Kontinent liegen und durch die Bank katholisch sind. Ich glaube, China möchte den Vatikan für sich gewinnen in der Erwartung, dass diese Staaten dem Beispiel folgen und gleichfalls ein Arrangement mit China anstreben. Das bedeutet immer: Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Taiwan. Im Moment sieht es – im Sinne Taiwans – nicht schlecht aus. Und vielleicht setzt der Weltgebetstag ja auch ein Zeichen.

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

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Jhy-Wey Shieh

Jhy-Wey Shieh (*1955) ist ein taiwanischer Germanist und seit 2016 der derzeitige diplomatische Vertreter Taiwans in der Bundesrepublik Deutschland. 

Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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