Eine Erfolgsgeschichte

Vom langen Weg der Gemeinschaft zwischen lutherischen und reformierten Kirchen
Mehr Erleichterung als Euphorie: das Abschlussfoto der Tagung im März 1973 auf dem Leuenberg bei Basel.
Foto: GEKE
Mehr Erleichterung als Euphorie: das Abschlussfoto der Tagung im März 1973 auf dem Leuenberg bei Basel.

Es ist fünfzig Jahre her, dass auf dem Leuenberg bei Basel der endgültige Text der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa erarbeitet und übergeben wurde. Er ermöglichte die Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und unierten Kirchen. Martin Friedrich, bis vor kurzem Studiensekretär der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa, beschreibt den Weg der Leuenberger Konkordie.

Nur ein einziges Foto dokumentiert die Tagung, bei der im März 1973 der Text der Leuenberger Konkordie (LK) abschließend redigiert und verabschiedet wurde. Nur etwa zwanzig der über vierzig Delegierten hatten nach dem Ende der Arbeit noch Zeit für ein Gruppenbild. Den Gesichtern ist mehr Erleichterung als Euphorie anzusehen. Das zeigt schon: Was heute Anlass eines festlichen Rückblicks ist, wurde von den Beteiligten „ohne großen Jubel“ aufgenommen, wie Oberkirchenrat Helmut Zeddies zum 30. Jahrestag schrieb. Wohl keiner der damals Beteiligten – kaum einer ist noch am Leben – hätte sich vorstellen können, welche Erfolgsgeschichte der nur 49 Paragrafen und wenige Druckseiten umfassenden Konkordie bevorstehen würde. Schon die noch ausstehende Ratifizierung durch die Kirchen konnte keineswegs als Selbstläufer erwartet werden. Und erst recht nicht, dass aus diesem theologischen Dokument eine Institution wie die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) hervorgehen würde, deren Stimme in ökumenischen und politischen Diskursen nicht nur gehört, sondern oftmals geradezu eingefordert wird.

Doch wie kam es zu der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa? Wie verlief der Weg der Leuenberger Konkordie? Geplant war nicht, eine weitere Organisation zu gründen, neben dem Ökumenischen Rat der Kirchen, der Konferenz Europäischer Kirchen und den konfessionellen Weltbünden. Das Ziel war zunächst die Versöhnung der lutherischen und reformierten Kirchen, die seit dem Abendmahlsstreit der Reformatoren Martin Luther und Huldrych Zwingli getrennte Wege gingen. Seit 1817 waren in Preußen und anderen Territorien die evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Kirchen vereint, aber diese Unionen hatten das Problem nicht gelöst, sondern eher noch verschärft. Erst die gemeinsame Erfahrung des Kirchenkampfes und des Zweiten Weltkriegs brachte die Kirchen nach 1945 dazu, intensiver nach innerprotestantischer Gemeinschaft zu suchen. 1947 beauftragte die EKD, zwischen deren Gliedkirchen anfangs keine Abendmahlsgemeinschaft bestand, eine Kommission mit einer theologischen Ausarbeitung. Die 1957 vorgelegten und 1962 ergänzten Arnoldshainer Abendmahlsthesen wurden aber von den lutherischen Kirchen nicht rezipiert. Parallel dazu gab es Gespräche zum Beispiel in Frankreich, den Niederlanden und den USA und von 1955 bis 1960 eine Gesprächsrunde auf europäischer Ebene, die aber auch keine greifbaren Ergebnisse brachten.

Einmütige Abstimmung

Erst der Abschlussbericht der Schauenburger Gespräche (1964–1967) brachte einen Durchbruch. Als Ziel der weiteren Gespräche benannte er „eine von den Kirchen zu ratifizierende gemeinsame theologische Erklärung“, „die aufweist, daß die in den Bekenntnissen enthaltenen gegenseitigen Verurteilungen ihre aktuelle Bedeutung verloren haben und eine volle Kirchengemeinschaft möglich ist“. Damit war das entscheidende Stichwort gegeben und zugleich der neue methodische Ansatz vorgelegt. Die Arnoldshainer Thesen waren theologisch viel umfassender als die spätere Leuenberger Konkordie, weil sie einen kompletten Ausgleich der Lehrkontroversen über das Abendmahl erreichen wollten. Auf der anderen Seite war aber das Ziel viel bescheidener, nämlich bloß die Abendmahlsgemeinschaft, nicht die Kirchengemeinschaft. Hierfür reiche, so die neue Erkenntnis, dass Lehre und Praxis der einen Seite von der anderen nicht mehr als schriftwidrig abgelehnt würden.

Was aber sollte „Kirchengemeinschaft“ konkret bedeuten? Zur weiteren Klärung verfasste eine Arbeitsgruppe im Juni 1970 den Bericht über Kirchengemeinschaft und Kirchentrennung, kurz „Leuenberg-Bericht“, der über das Verständnis von Kirchengemeinschaft mehr aussagt als die Konkordie selbst. Als ausreichende Grundlage der Kirchengemeinschaft sieht er, dass die „ausschließliche Heilsmittlerschaft Jesu als Mitte des Evangeliums und als einziger Grund und Kanon der Lehre und des Lebens der Kirche anerkannt“ wird. Es müsse festgestellt werden, „dass die Kirchen im Verständnis des Evangeliums inhaltlich übereinstimmen“, „dass die in den Bekenntnisschriften ausgesprochenen Lehrverurteilungen den gegenwärtigen Stand der Lehre des Partners nicht mehr betreffen“ und dass „auf Grund der Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums die Gewährung der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft“ ausgesprochen wird. Die damit erreichte Gemeinschaft soll nicht statisch sein, sondern „drängt zu größtmöglicher Gemeinsamkeit im innerkirchlichen Leben und im Zeugnis und Dienst an der Welt“. Damit ist die schon vorher gegebene Definition der Kirchengemeinschaft als „Tatzeugnis von der in Christus geglaubten Einheit der Kirche“ wieder aufgenommen.

Auf Grundlage der Rückmeldungen aus den Kirchen wurde 1971 ein Konkordienentwurf erstellt und wiederum den Kirchen zur Stellungnahme zugesandt. Die weitere Überarbeitung fand ihren Abschluss im März 1973 im Tagungshaus auf dem Leuenberg bei Basel. Obwohl in der öffentlichen Diskussion im Vorfeld auch sehr entschiedene Kritik geäußert worden war, fiel die Abstimmung mit 35 Ja-Stimmen und nur vier Enthaltungen recht einmütig aus.

Die Präambel der LK stellt mit Rückgriff auf das Augsburger Bekenntnis (Artikel VII) fest, dass für die „wahre Einheit der Kirche“ „das gemeinsame Verständnis des Evangeliums“ zusammen mit der „Übereinstimmung … in der rechten Verwaltung der Sakramente“ ausreiche. So war zunächst solide theologische Arbeit gefordert, denn die Bekenntnisschriften sollten nicht als irrelevant abgetan werden. Teil II entfaltet das „gemeinsame Verständnis des Evangeliums“, wie es in der Reformationszeit neu entdeckt wurde. Kennzeichnend ist die Hervorhebung der „Rechtfertigungsbotschaft als Botschaft von der freien Gnade Gottes“. Paragraf 11 nennt den aus der Rechtfertigung erwachsenden „Dienst in der Welt“ und bereitet damit schon den Teil IV vor. In Teil III konnte es nicht darum gehen, die gegenseitigen Lehrverurteilungen der Bekenntnisschriften „aufzuheben“; es genügte die Feststellung, dass heute im Grundverständnis eine Übereinstimmung herrscht und somit die ablehnenden Formulierungen zu Abendmahl, Christologie und Prädestinationslehre die Lehre des jeweiligen Partners nicht mehr treffen. Damit konnte Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft erklärt werden.

Entscheidend ist aber der Teil IV („Erklärung und Verwirklichung der Kirchengemeinschaft“). Er macht deutlich, dass es um mehr ging als einen theologischen Friedensvertrag. Die Erklärung der Kirchengemeinschaft führt mit sofortiger Wirkung zum Bestehen von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Sie zieht dann aber auch die bleibende Aufgabe der Verwirklichung der Kirchengemeinschaft nach sich. In kluger Formulierung spricht LK 34 von der „Überzeugung, dass sie [die zustimmenden Kirchen] gemeinsam an der einen Kirche Jesu Christi teilhaben“. Anders als viele spätere Dokumente spricht die LK also nicht von der gegenseitigen Anerkennung als Kirchen. Und mit Recht: Eine Kirche sollte nicht aus eigener Autonomie Aussagen über andere Kirchen treffen, sondern sie kann nur feststellen, dass sie gemeinsam mit anderen an der einen Kirche Jesu Christi partizipiert. Dann aber muss sich das Gemeinsam-Kirche-Sein in einer „möglichst große[n] Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt“ verwirklichen. Denn Zeugnis und Dienst sind ja nicht Arbeitsfelder, die eine Kirche nach eigenem Belieben pflegen oder auch vernachlässigen könnte. Kirche ist Werkzeug der missio Dei, oder sie ist nicht Kirche. So spricht die Ekklesiologiestudie „Die Kirche Jesu Christi“ von 1994 von der Bestimmung der Kirche als der dritten Säule des Leuenberger Modells neben Grund und Gestalt. Wenn die Kirchen sich bewusst sind, im Grund übereinzustimmen, dann haben sie sich auch in der Verwirklichung der Bestimmung der Kirche zu vereinen, unabhängig davon, welche Gestalt sie im Einzelnen haben; so kann man das maßgebliche theologische Dokument der GEKE nach der Konkordie paraphrasieren. Die Formel von der „Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst“ ist noch kennzeichnender für das Modell der Kirchengemeinschaft als die Formel „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Letzteres sagt, wie die Gemeinschaft ist, Ersteres dagegen, wozu sie ist.

Gerechtigkeit und Frieden

Doch hiermit ist schon vorausgegriffen. Abschließend ist nur noch festzustellen, dass das Klima der gesellschaftlichen und theologischen Aufbrüche der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre die Erarbeitung der Leuenberger Konkordie offensichtlich beförderte. Verglichen mit anderen ökumenischen Dokumenten aus jener Zeit ist erkennbar, wie weit sie doch vom damaligen Überschwang der 1968er-Jahre entfernt ist. Sie nahm praktisch nur das auf, was sich in der folgenden Zeit als gültig durchgesetzt hatte. Beispielhaft ist etwa die Nennung von Gerechtigkeit und Frieden als Aufgabenfelder der Kirchen in LK 11 und 36. Diese Paragrafen leisten einen wichtigen Beitrag in der Architektur der Konkordie, sind aber doch aus heutiger Sicht sehr zurückhaltend formuliert.

Wie schon die Verabschiedung ging auch die Ratifizierung leichter als erwartet. Nach drei Jahren hatten drei Viertel der 88 angeschriebenen Kirchen die LK unterzeichnet. Inzwischen zählt die GEKE 96 Mitgliedskirchen.

Aber was war nun wirklich erreicht? Die Leuenberger Konkordie hatte Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst als ersten Punkt für die Verwirklichung der Kirchengemeinschaft genannt. Dies blieb jedoch zunächst dem Belieben der einzelnen Kirchen überlassen. Nur für die theologische Weiterarbeit, die heute immer noch ein Hauptfeld der Arbeit der GEKE bildet, musste ein Rahmen geschaffen werden. Es dauerte lange, bis 1987 ein Sekretariat eingerichtet wurde, das bis 2006 seinen Sitz in Berlin, seitdem in Wien hat. Erst 2006 wurde durch ein Statut ein rechtlicher Rahmen für die weitere Entwicklung geschaffen. Schon zuvor hatte sich 2003 die „Leuenberger Kirchengemeinschaft“, eine Bezeichnung, die nie offiziell beschlossen worden war, in Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa umbenannt.

Die wachsende Gestaltwerdung erklärt sich dadurch, dass der Kirchengemeinschaft immer neue Aufgaben zuwuchsen. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 brachte das Thema „Europa“ in ganz neuer Aktualität auf die Tagesordnung. Die evangelischen Kirchen wollten sich an der Neugestaltung ihres Kontinents beteiligen. Dazu sollten jedoch, so die Europäische Evangelische Versammlung von 1992, keine neuen Strukturen geschaffen, aber die bestehenden konsequenter genutzt werden. Mit anderen Worten, die Leuenberger Kirchengemeinschaft sollte ihre bisherige Beschränkung auf Lehrgesprächsarbeit überwinden. In prägnanter Weise formulierte die Belfaster Vollversammlung 2001, dass durch Stellungnahmen zu aktuellen Fragen die „evangelische Stimme in Europa“ artikuliert werden solle. Dieses Arbeitsfeld ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich ausgebaut worden. Ein Fachbeirat für Ethik bereitet Stellungnahmen zu aktuellen Fragen, aber auch ausführliche Ausarbeitungen vor, die von Rat oder Präsidium verabschiedet werden und in Brüssel und Straßburg gehört
werden.

Erst seit den 1990er-Jahren ist der Anspruch der LK eingelöst worden, durch die innerprotestantische Gemeinschaft dem Miteinander auch mit anderen Konfessionen zu dienen. Mit der Aufnahme der methodistischen Kirchen in die Kirchengemeinschaft 1997 wurde deutlich, dass das Modell nicht allein auf die klassischen Reformationskirchen beschränkt ist. Seit dreißig Jahren führt die GEKE interkonfessionelle Dialoge und hat, zum Beispiel mit den europäischen Baptisten, schon Vereinbarungen erzielt. Seit einem Jahr beschäftigt sich sogar ein offizieller Dialog mit dem Päpstlichen Einheitsrat damit, ob das Modell der Kirchengemeinschaft auch für das evangelisch-katholische Miteinander Anregungen bietet. Doch auch wenn dies noch Zukunftsmusik ist – die Leuenberger Konkordie ist eines der wenigen Dokumente aus der Dialogökumene, die offiziell von den Kirchen rezipiert wurden und so tatsächlich Konsequenzen nach sich zogen. Dass die teilweise erst nach längerer Zeit sichtbar wurden, zeigt, welches Zukunftspotenzial immer noch vorhanden ist. 

 

Informationen

Die Leuenberger Konkordie feiert in diesem Jahr ihr fünfzigjähriges Jubiläum. Sämtliche Veranstaltungen aus den Mitgliedskirchen und weitere Informationen zeigt die neue Webseite https://www.leuenberg50.org/. Ferner ist das Buch „Von der Reformation zur Gemeinschaft – 50 Jahre Leuenberger Konkordie“ von Martin Friedrich in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen.

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