Frost statt Barmherzigkeit

Der Wahlkampf der Berliner CDU steckt voller Ressentiments
Foto: privat

Am 12. Februar wird in der Bundeshauptstadt wieder einmal gewählt. Zunächst einmal werden in Berlin die im Jahre 2021 fehlerhaft durchgeführten Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen wiederholt. Auch die Bundestagswahl muss in einigen Wahlbezirken wiederholt werden, aber zu einem späteren Zeitpunkt. Berlin steckt also binnen kurzer Zeit erneut im Wahlkampf.

Nun gibt es eine Menge, was die Berliner:innen bei dieser Wahlwiederholung bewegt: Zentrale Fragen des urbanen Lebens wie Wohnen und Verkehr stehen auf den Redezetteln der Wahlkämpfer:innen. CDU und AfD haben im Nachgang der vermeintlichen Ausschreitungen zu Silvester außerdem die Themen „Ausländerkriminalität“ und Sicherheit auf die Agenda geschoben.

In dieser Melange machte gestern eine religionspolitische Meldung die Runde, deren Kommentierung durch die wahlkämpfenden Parteien ein Schlaglicht darauf wirft, wie sie sich das Zusammenleben in der multireligiösen Hauptstadt unserer pluralisierten Republik vorstellen.

Wie gestern bekannt wurde, hat das Bundesverfassungsgericht bereits Mitte Januar eine Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin "ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen“, die sich gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2020 richtete, das wiederum beschieden hatte, ein pauschales Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen sei verfassungswidrig.

Herausforderung für die Religionspolitik

Eigentlich hat sich durch die Nichtannahme der Beschwerde durch das Bundesverfassungsgerichts nichts weiter geändert. Bereits 2015 hatten die Karlsruher Richter:nnen entschieden, dass solche Verbote im Bildungsbereich nur zulässig sind, wenn der Schulfrieden konkret gefährdet ist. Allerdings hatte sich die noch amtierende rot-grün-rote Koalition die seit langem überfällige Überarbeitung des „Neutralitätsgesetzes“, dessen Kern das Verbot offensichtlicher religiöser Kleidung ist, nur für den Fall vorgenommen, dass die seit Februar 2021 eingereichte Verfassungsbeschwerde erfolglos bleiben würde.

Sozialdemokraten, Grüne und Linke sind sich nämlich nicht vollständig einig, was die Reform des Gesetzes angeht. Insbesondere die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hegt große Sympathien für das Gesetz in seiner bisherigen Form und hatte auf einen Sinneswandel in Karlsruhe gehofft. Grüne und Linke drängen seit längerem auf eine Reform und wollen das Gesetz nicht wie die SPD vor allem „rechtssicher“ machen, sondern substanziell reformieren.

Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) will das Neutralitätsgesetz sogar am liebsten ganz loswerden. Dem RBB sagte sie, eine Abschaffung sei „zeitgemäß“, denn: "Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, und die staatliche Neutralität wird nicht darüber hergestellt, dass einzelne Kleidungsstücke verboten werden." Die Sprecherin für Antidiskriminierung der Grünen, Tuba Bozkurt, erklärte, die Diskriminierung muslimischer Frauen von Staats wegen müsse enden. Der neuerliche Bescheid aus Karlsruhe sei „ein großer Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft, eine große Erleichterung in religiösen Communities."

Ausdrücklich gemeint fühlen dürfen sich damit natürlich die Muslime in der Bundeshauptstadt, gegen die die Paragraphen des Neutralitätsgesetzes mit Vorliebe in Anschlag gebracht wurden. Justizsenatorin Kreck sprach zu Recht davon, es gelte, Stigmata und Rassismen zurückzudrängen. Wem an der Emanzipation muslimischer Frauen aus patriarchalen Strukturen liegt, die in nicht geringem Maße religiös begründet werden, der sollte ihnen nicht zugleich neue Kleidungsvorschriften an ihrem selbstgewählten Arbeitsplatz auferlegen.

Staatliche Neutralität gegenüber (nicht-)religiöser Vielfalt

Wie die gebotene Neutralität des Staates gegenüber Religionsgemeinschaften gelebt werden soll, ist gleichwohl Gegenstand langjähriger Diskussionen. Berlin als Stadt mit einer großen muslimischen Minderheit, mit lebendigen jüdischen Communities und einer großen Vielfalt christlicher Konfessionen und Gemeinschaften sowie einer wachsenden Zahl konfessionsloser Bürger:innen ist für die Religionsgesetzgebung des Landes Labor und Ernstfall zugleich. Die einen verstehen die Neutralitätspflicht als Gleichbehandlung religiöser Vielfalt, die sich selbstverständlich auch in der persönlichen Lebensgestaltung (am Arbeitsplatz) ausdrücken darf. Andere verstehen darunter das weitgehende Zurückdrängen jeder Religion aus dem öffentlichen Leben.

In Berlin hat letztere Interpretation eine stolze Tradition, was nicht zuletzt der Streit um den Religionsunterricht vor ein paar Jahren gezeigt hat, in den auch Berliner Christen sich engagiert einbrachten. Sollte die Mitte-Links-Koalition nach der Wahl am 12. Februar fortgesetzt werden, ist nun davon auszugehen, dass das Pendel stärker in Richtung der ersteren Position ausschlägt. Gleichwohl werden die Abstimmungsprozesse innerhalb der Koalition sicher kein „Anything goes“ als Ergebnis zeitigen. Eine „Islamisierung“ der Berliner Schulen und Verwaltungen steht so oder so nicht bevor.

Ganz anders könnte die Reform des immerhin verfassungswidrigen Neutralitätsgesetzes jedoch ausfallen, wenn – wie neueste Umfragen zeigen – die neue Berliner Regierung von der CDU angeführt würde. Zwar folgt die Partei mit dem „C“ im Namen keinem religionsaversiven Ressentiment wie die AfD, aber ihr gelingt es auch im Jahr 2023 nicht, den Spirit staatlicher Neutralität gegenüber der tatsächlichen religiösen Vielfalt in der Bundeshauptstadt durchzuhalten.

So jedenfalls muss man die gestrigen Einlassungen von Cornelia Seibeld wohl verstehen. Seit 2006 vertritt die evangelische Christin das traditionell CDU-dominierte Lichterfelde im Südwesten der Hauptstadt als direkt gewählte Abgeordnete im Abgeordnetenhaus. Seibeld ist dessen Vizepräsidentin und zugleich frauen- und religionspolitische Sprecherin ihrer Fraktion sowie deren Sprecherin für den Kampf gegen Antisemitismus. Seibeld – so viel darf vermutet werden – weiß also, wovon sie spricht, wenn sie sich zu religionspolitischen Themen äußert.

Umso mehr verwundert es, wenn sie erklärt, es könne nicht geduldet werden, „wenn religiöse Symbole wie das islamische Kopftuch in staatlichen Einrichtungen demonstrativ zur Schau gestellt werden“. Zur Begründung führte sie an, dies würde den Frieden und Zusammenhalt in der Gesellschaft gefährden.

Was ist mit Kreuz und Kippa?

Die freie Entscheidung examinierter Fachkräfte zum Tragen eines Kopftuchs gilt Seibeld als demonstratives Zurschaustellen eines religiösen Symbols, das - so darf man ihr wohlwollend unterstellen - die Ungleichwertigkeit von Frauen und Männern verkündet. Das kann man natürlich auch im Berlin des Jahres 2023 so meinen. Verwunderlich ist allerdings der Reflex, mit dem Seibeld auf die Muslime als Ziel der „Neutralitätsgesetzgebung“ zu sprechen kommt.

Oder anders gefragt: Gelten auch die demonstrative Zurschaustellung von Kreuzen oder das Tragen einer Kippa Seibeld und der CDU als Gefährdung für den Frieden und Zusammenhalt in der Gesellschaft? Das ist in einer Stadt, in der es viel zu häufig zu gewalttätigen Übergriffen auf Juden kommt, eine wichtige Frage. Es stellt sich außerdem die Frage, welche öffentliche Sichtbarkeit Christ:innen und Kirchen, die sich in Berlin längst in einer Minderheitensituation wiederfinden, eigentlich von der Christdemokratie noch zugestanden wird.

Wer die Legitimität religiöser Symbole und Praktiken an ihren Wert für den Frieden und Zusammenhalt in der Gesellschaft bindet, bewegt sich auf einem schmalen Grat und – meinem Empfinden nach – jenseits der in Artikel 4 Absatz 2 des Grundgesetzes garantierten Freiheit der Religionsausübung, die dort nicht an irgendeine positive Wirksamkeit für „Frieden und Zusammenhalt“ gebunden wird.

Vor allem aber bewegt sich Cornelia Seibeld damit ganz auf Linie der aktuellen Führung ihrer Partei, der es nicht zu billig ist, am rechten Rand auf Stimmenfang zu gehen. Die CDU der Ära Merz gebärdet sich hier – wenn auch im Ton bieder-bürgerlich – nicht anders als die Republikanische Partei in den USA. Unter Verdacht werden mit Vorliebe jene Menschen gestellt, die eine ressentimentgeladene Wählerschaft bereits als fremd und anders markiert hat.

So ist sich die Berliner CDU auch nicht zu fein, die „Rückführung“ von Flüchtlingen aus der Republik Moldau zu fordern, für die die Berliner Regierung Anfang Dezember 2022 einen Abschiebestopp erklärt hat. Zur Begründung führt die CDU an, die Berliner Flüchtlingsunterkünfte würden „aus allen Nähten platzen“ und für die tatsächlich bedürftigen Flüchtlinge aus der Ukraine sei wegen der Moldawier kein Platz: „Mit den 600 Abschiebungen hätte der Senat etwas Druck aus der angespannten Situation in den Flüchtlingsunterkünften nehmen können“.

Die Flüchtlinge aus Moldawien eigneten sich, so die CDU, gerade deshalb für eine „Rückführung“, weil „deren Asylanträge fast nie positiv beschieden werden“ und sich unter ihnen auch „Schwerstkriminelle“ befänden. Dass der Senat die Winterkälte im ärmsten Land Europas als einen Grund für den Abschiebestopp anführt, weist die Christdemokratie der Hauptstadt mit dem Hinweis zurück, „schlechtes Wetter“ sei auch sonst kein Asylgrund.

Wahlkampf auf dem Rücken von Minderheiten

Mich fröstelt angesichts solcher Statements, die erkennbar nicht von einem Geist der christlichen Barmherzigkeit geprägt sind. Sie nähren den Zweifel daran, dass die CDU in der Lage ist, eine multinationale und -religiöse Metropole wie Berlin gut zu regieren. Denn im Konzert der Religionen und Weltanschauungen kommt es gerade darauf an, sich in Barmherzigkeit zu übertreffen.

Dem Frieden und Zusammenhalt in der Gesellschaft dient die CDU mit einem ressentimentgeladenen Wahlkampf sicher nicht. Sollte sie damit in Berlin Erfolg haben, steht zu befürchten, dass diejenigen Kräfte in der Union weiter Auftrieb erhalten, die auf dem Rücken von Minderheiten den politischen Erfolg erzwingen wollen. In Berlin sind das offenbar Muslime und Flüchtlinge, in Hamburg und anderswo wird verbal gegen „Genderismus“ und LGBTQI aufgerüstet. So aber treibt die Christdemokratie tatsächlich die Spaltung unserer pluralistischen Gesellschaft voran und diskreditiert nebenbei ihre christlichen Wurzeln – zuletzt schaufelt sie sich so ihr eigenes Grab.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"