Atemlos

Suche nach entschleunigter Zeit

Wir leben in immer schnelleren Zeiten. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat diese Alltagserfahrung bereits 2005 in einen soziologischen Entwurf zur „Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne“ gegossen. Spricht Rosa darin noch von mehreren Motoren gesellschaftlicher Beschleunigung, verfolgt der renommierte Theologe, Ökonom und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ, langjähriger Leiter des Oswald von Nell-Breuning-In­stituts an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen sowie zeitgleich Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac, eine monokausale These: Es sind die Akteure des Finanzsystems, die um die Jahrtausendwende herum eine „Kaskade der Beschleunigung“ in Gang gesetzt hätten.

Das erste Kapitel dient der Plausibilisierung wie auch Differenzierung der „atemlos“ machenden Beschleunigungserfahrung. Seine These baut der Autor im zweiten Kapitel detailreich aus: Seit den 1990er-Jahren hätten die großen Finanzakteure im Schulterschluss mit den neuen digitalen Möglichkeiten zunächst die Kontrolle über börsennotierte Unternehmen gewonnen und dann – insbesondere in der Bankenkrise – die Politik „als Geisel genommen“. Hernach seien die Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr eingerissen worden, bis das Regime der Beschleunigung über flexibilisierte Arbeit und Konsumsog die Beschäftigten und Privathaushalte erreicht habe – insbesondere die Frauen.

Von Augustin bis Armin Nassehi arbeitet Hengsbach im dritten Kapitel einen instruktiven Zeitbegriff heraus, der Zeit als sozial konstruierten Angleichungsprozess unterschiedlicher Handlungssequenzen versteht. Die Frage ist dann, wer der Gesellschaft den Takt vorgibt, also die Macht über die Zeit hat. Das vierte Kapitel wendet sich den gleichermaßen „verschlissenen“ Begriffen der Gerechtigkeit und Solidarität zu. Es liest sich als Plädoyer gegen die Verdrängung von Verteilungs- und Gleichheitsfragen aus der Gerechtigkeitsdebatte und dafür, Solidarität als „Steuerungsform“ der Gesellschaft zu verstehen, um gemäß dem obigen Zeitbegriff die Handlungssequenzen ihrer Akteure anzugleichen.

All das liest sich für sich anregend, steht aber noch recht unvermittelt nebeneinander. So sollen die „Bausteine“ im letzten Teil zu einem Reformprogramm zusammengesetzt werden. Der Autor macht eine ganze Reihe konkreter Vorschläge. Sie beginnen bei individueller Entschleunigung und führen über die Reform von Finanzmärkten, Unternehmensstrukturen und des Sozialstaats, über einen Paradigmenwechsel in der Klimapolitik und neue Arbeitskonzepte zur Vision eines insgesamt gelungenen Lebens. Leider dominiert dabei noch zu häufig die Problembeschreibung. Die Vision bleibt als Ganze blass. Auch der Ansatz des Buches bei der Zeit- und Beschleunigungserfahrung gerät zu sehr in den Hintergrund – bevor er in einem starken Schlussakzent für ein Neudenken von Erwerbs- und Sorgearbeit wieder hervortritt.

Dass das Buch in erster Auflage bereits 2012 erschienen ist und nun zur Neuauflage aktualisiert wurde, kann es nicht leugnen: Die Bezugsdiskurse und -probleme der ursprünglichen und hinzugekommenen Passagen sind erkennbar unterschiedlich. Die fundierte und weitgreifende Expertise des Autors bei der Beschreibung der sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte macht die Lektüre insgesamt aber zu einem großen Genuss. Wer auf der Suche nach wirtschafts- und sozialpolitischen Neuansätzen ist, ist hier richtig. Dass es dabei vor allem um Zeit gehen soll, genauer gesagt um den Widerstand gegen ein Regime der Beschleunigung, muss der Lesende sich allerdings von Zeit zu Zeit selbst in Erinnerung rufen.

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Foto: Michael Greder

Hendrik Meyer-Magister

Dr. Hendrik Meyer-Magister  ist Studienleiter für Gesundheit, Künstliche Intelligenz und Spiritual Care an der Evangelischen Akademie Tutzing.


 

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