Jüdisches Fundament

Raphael Zager untersucht die Bedeutung des Alten Testamentes für Augustin
Raphael Zager
Foto: Carsten Simon

Bei der Erforschung der Quellen, die das Geschichtsdenken des bedeutenden Kirchenvaters Augustin speisten, wurde das Alte Testament vernachlässigt. Die Doktorarbeit des Wiesbadener Vikars Raphael Zager hat diese Lücke gefüllt.

Erstmals kam ich in einem kirchengeschichtlichen Seminar mit der Schrift De ciuitate dei in Berührung, die Augustin (354 – 430) verfasste. Dieses Werk fand ich hochinteressant, sodass ich mich in einer Seminararbeit mit Augustins dort entfalteter Engellehre beschäftigte.

Das Seminar leitete Volker Henning Drecoll, der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen den Lehrstuhl für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Alte Kirche innehat. Im Gespräch mit ihm entwickelte sich schließlich auch das Thema meiner Dissertation: Das Geschichtsdenken Augustins. Zur Rezeption des Alten Testaments in De ciuitate dei XV– XVIII. Dafür sprach, dass zu den vier Büchern XV– XVIII dieses Werkes bisher eine Gesamtdarstellung fehlte. Zudem fiel mir auf, dass man in der Forschung zum Geschichtsdenken Augustins dessen nächstliegende Quelle zumeist vernachlässigte: das Alte Testament. Es reizte mich, hier neue Perspektiven zu gewinnen. Und ganz allgemein interessiert mich, wie biblische Schriften in der Kirchengeschichte gewirkt haben und wie sie durch aktualisierende Interpretationen neu verstanden und auf die jeweilige Situation bezogen wurden.

Augustins Geschichtsdenken, das das europäische Denken bis in die Neuzeit hinein geprägt hat, wurzelt im Alten Testament. Zum Beispiel parallelisiert er die sechs Weltzeitalter mit den sechs Schöpfungstagen des ersten biblischen Schöpfungsberichts und das Eschaton mit dem siebten Tag.

Die von mir untersuchten Bücher XV– XVIII befassen sich mit der Geschichte der Menschheit von Kain und Abel bis zur Gegenwart Augustins. Dieser geht davon aus, dass es in der Weltgeschichte zwei Bürgerschaften (ciuitates) gibt, die Bürgerschaft Gottes (ciuitas dei) und die irdische Bürgerschaft (ciuitas terrena). Beide sind miteinander verwoben und werden erst im Weltgericht geschieden.

Beide ciuitates existierten schon vor den Menschen: Zunächst gab es nur die aus Engeln bestehende ciuitas dei. Doch ein Teil dieser Engel fiel von Gott ab und bildete die ciuitas terrena. Bei den Menschen ist für Augustin der gerechte und unschuldig getötete Abel der erste Vertreter der ciuitas dei. Sein Bruder Kain, der ihn erschlägt, ist dagegen ein paradigmatischer Vertreter der ciuitas terrena.

Die Bürger der ciuitas dei sind auf Gott ausgerichtet und lassen sich von der Gottes- und Nächstenliebe leiten, während die Bürger der ciuitas terrena von Hochmut und dem Verlangen nach irdischem Besitz bestimmt sind. Allerdings finden sich bei Augustin Textstellen, wonach sich das Gegenüber der beiden ciuitates innerhalb eines Menschen abspiele. Wer zu welcher ciuitas gehört, ist von Gott vorherbestimmt und den Menschen bis zuletzt ungewiss. Im Weltgericht wird die kleine Zahl derer gerettet, die zur ciuitas dei gehören. Sie füllen nun die einst durch den Engelfall entstandene Lücke in der himmlischen ciuitas dei. Die weitaus größere Menge der Bürger der ciuitas terrena wird dagegen verdammt. Seine Prädestinationslehre kann Augustin ebenfalls alttestamentlich begründen. So zitiert er wie Paulus (Römer 9,13) Maleachi 1,2–3, wonach Gott Jakob „geliebt“, aber Esau „gehasst“ habe.

Auch sonst ist Augustins Blick auf das Alte Testament durch seine Lektüre der paulinischen Schriften geprägt. Das zeigt sich insbesondere bei seiner christologischen Interpretation alttestamentlicher Verheißungen. Nach Augustin war das Volk Israel lange Zeit der vornehmliche Träger der ciuitas dei. Es diente als wichtiges Instrument für Gottes Offenbarung, die aber letztlich auf Christus und die Kirche abzielt. Das Volk Israel erreichte in seiner Geschichte unter den Königen David und Salomo einen Höhepunkt, um danach in eine Existenz ohne Propheten und ohne Staat abzusteigen. Mit dem Kommen Christi verlor Israel schließlich seine hervorgehobene Stellung: Denn nun begannen sich alle Verheißungen in Christus und der Kirche zu erfüllen. Die Juden dagegen, die (zum größten Teil) Christus ablehnten, gehörten zur ciuitas terrena.

Augustins antijüdische Tendenzen sind zum Teil bereits im Neuen Testament angelegt. Sie befremden mich als Theologen des 21. Jahrhunderts gerade angesichts dessen, was Christen den Juden im Laufe der Geschichte angetan haben. Zugleich finde ich es bemerkenswert, dass das Alte Testament für Augustin nicht eine belanglose Vorgeschichte des Christentums erzählt. Vielmehr kann man an Augustin sehen, dass das Alte Testament das unverzichtbare Fundament der neutestamentlichen Botschaft und der christlichen Theologie bildet. Diese Einsicht ist auch heute keineswegs selbstverständlich, denkt man an den jüngst wieder aufgeflammten Streit um den kanonischen Rang des Alten Testaments.

Mich stört, dass Augustin heute gerne auf seine Ursündenlehre und seine angebliche Leibfeindlichkeit reduziert wird. Wenig hilfreich für eine historische Einordnung sind aber auch Überhöhungen des „Heiligen“ Augustinus im römischen Katholizismus. Neben aller Problematik sehe ich bei Augustin – was überraschen mag – früheste Ansätze eines historisch-kritischen Verständnisses der Bibel. So ringt er um den historischen Sinn der Bibel und unterscheidet diesen von allegorischen Deutungen. Zuweilen lässt er unterschiedliche Interpretationen gelten und berücksichtigt sogar nichtchristliche Quellen.

Für meine Doktorarbeit brauchte ich insgesamt vier Jahre. Während dieser Zeit wurde ich durch Promotionsstipendien der Gerda Henkel Stiftung und des Evangelischen Studienwerks Villigst gefördert. Im Sommer wird meine Dissertation in der Reihe „Beiträge zur historischen Theologie“ im Tübinger Verlag Mohr Siebeck erscheinen. Zur Zeit bin ich Vikar an der Wiesbadener Lutherkirche. Mich begeistert nicht nur die wunderbare Architektur dieser Jugendstilkirche. Auch die Aufgaben in der Gemeinde und die Begegnungen mit den Menschen hier machen mir große Freude.

Gerne würde ich weiterhin wissenschaftlich arbeiten, jedoch nicht ausschließlich am Schreibtisch sitzend. Es erfüllt mich, mit Menschen zu tun zu haben: ob als akademischer Lehrer oder als Pfarrer. 

 

Aufgezeichnet von Jürgen Wandel

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