Europas Zusammenhalt ist gefährdet
Die Diversität der Muslime in Europa ist groß. Aber unter ihnen gibt es auch die Problematik des politischen Islam, der in Europa zunehmend an Einfluss gewinnt und dadurch das europäische Projekt einer Zerreißprobe aussetzt. Denn einige Anhänger dieser Ideologie gehen in ihrem Hass auf den Westen so weit, dass sie Anschläge an öffentlichen Orten durchführen oder gutheißen, warnt die Ethnologin Susanne Schröter, die das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam leitet.
Europäische Muslime sind keine einheitliche Gruppe, sondern lassen sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden. Ihre Haltung zum Islam ist eines dieser Unterscheidungsmerkmale – vielleicht sogar das wichtigste. Es gibt diejenigen, die dem islamischen Glauben längst den Rücken gekehrt haben und sich selbst als Atheisten bezeichnen. Nach orthodoxer Auffassung gelten sie jedoch weiterhin als Muslime, weil ein Austritt aus dem Islam nicht gestattet ist. Es gibt diejenigen, die eine persönliche Beziehung zu ihrem Gott unterhalten, aber Wert auf einen Abstand zur Orthodoxie legen, und diejenigen, die man als „Kulturmuslime“ bezeichnen könnte, weil sie zwar gelegentlich an religiösen Festen und Ritualen teilnehmen, sich dabei aber ebenfalls eher unorthodox verhalten. Einige wenige Muslime sind in sufistischen Orden organisiert, andere bemühen sich um einen hermeneutischen Zugang zu den Quellen des Glaubens oder praktizieren einen islamischen Liberalismus, in dem die Anerkennung der Gleichberechtigung von Frauen und die uneingeschränkte Akzeptanz von queeren Muslimen Programm ist.
Diesen eher weltlich orientierten Menschen muslimischer Herkunft, die in Europa besonders die Freiheitsrechte schätzen, stehen diejenigen gegenüber, die mit dem westlichen Säkularismus fremdeln oder ihn schlicht als gottlos ablehnen. In ihren Gemeinschaften versuchen sie, eine eigene normative Ordnung zu praktizieren, die sich an fundamentalistischen religiösen Überzeugungen sowie an antidemokratischen und menschenrechtsfeindlichen Traditionen ausrichtet. Sie kultivieren eine bewusste Opposition zur sie umgebenden Gesellschaft und lehnen Integration strikt ab. Dabei werden sie häufig von politischen Führern oder religiösen Autoritäten ihrer Herkunftsländer unterstützt, die Migranten für den Ideologietransfer oder schlicht als Wählerpotential nicht verlieren möchten. Einige dieser Personen gehen in ihrem Hass auf den Westen so weit, dass sie Anschläge an öffentlichen Orten durchführen oder gutheißen. Liberale und spirituell eingestellte Muslime sind in ihren Augen Häretiker und werden mit dem Tode bedroht.
Im Folgenden geht es ausschließlich um diese letztgenannte Gruppe. In der öffentlichen Debatte werden sie als Islamisten, Anhänger eines politischen Islam oder als Fundamentalisten bezeichnet. Der Begriff des Fundamentalismus geht ursprünglich auf eine Bewegung innerhalb des amerikanischen Protestantismus zurück, deren Mitglieder sich selbst Fundamentalisten nannten, weil sie eine Rückkehr zu den Fundamenten des Christentums als Grundlage ihrer normativen Ordnung anstrebten. Ähnliche Revitalisierungen lassen sich in allen Weltreligionen nachweisen.
Fundamentalisten, so die Religionswissenschaftler Scott Appleby und Martin E. Marty, teilen eine Reihe gemeinsamer Merkmale, darunter patriarchalische Ideen des sozialen Zusammenlebens, die Konstruktion einer vermeintlich idealen Vergangenheit als normativem Referenzpunkt, die Abwertung anderer Religionen und häufig auch den Anspruch, nicht nur die eigene Gemeinschaft, sondern auch die Gesellschaft anhand eigener Überzeugungen umzugestalten.
Der islamische Fundamentalismus basiert maßgeblich auf dem Koran in einer wortwörtlichen Auslegung sowie auf den Überlieferungen vom Leben Mohammeds und seiner Gefährten, um allgemeingültige Normen für Staat und Gesellschaft zu begründen. Er kann in eine sunnitische und in eine schiitische Variante unterteilt werden. Im sunnitischen Islam weist er eine Reihe historischer Gelehrter auf, die teilweise bis heute auch von der Orthodoxie anerkannt werden. Ihre Ideen sind noch immer einflussreich, ihre Schriften liegen in den Bibliotheken von Moscheen aus, werden in Predigten, Handreichungen und in den sozialen Medien zitiert. Sie enthalten ein explizit politisches Programm und sind zu den antimodernen Ideologien zu rechnen.
Quietistisch und politikfern
Der schiitische Fundamentalismus war historisch weitaus stärker quietistisch und politikfern ausgerichtet und hatte erst im 20. Jahrhundert, als Reaktion auf die Modernisierungsvorhaben der säkularen politischen Elite, eine politisierte Spielart hervorgebracht. Heute ist er besonders mit der Islamischen Republik Iran und den Schriften Ayatollah Khomeinis, aber auch mit Gruppierungen verbunden, die im Libanon oder in Syrien agieren oder sich auf diese beziehen. Eine besondere Bedeutung nimmt die Hisbollah ein, die in vielen westlichen Staaten als Terrororganisation verboten wurde.
In allen genannten Fällen ist islamischer Fundamentalismus gleichbedeutend mit dem politischen Islam, da die Organisationen und ihre Akteure einen dezidiert politischen Anspruch erheben und im Feld der Politik agieren. Terminologisch wird auch der Begriff des Islamismus verwendet. Teilweise wird auf Seiten der Wissenschaft zwischen quietistischen, politischen und dschihadistischen Gruppen oder zwischen legalistischen und gewaltbereiten Gruppierungen unterschieden. Eine tautologische terminologische Neuschöpfung ist der Begriff des „politischen Islamismus“, der im Jahr 2021 anlässlich der Gründung eines gleichnamigen Expertenkreises vom damaligen deutschen Bundesinnenminister Horst Seehofer verwendet wurde. Der Kreis verstand unter dem Terminus Gruppen, die „sich unter Berufung auf den Islam gegen den demokratischen Verfassungsstaat, seine Institutionen und/oder gegen demokratische Grundrechte und universale Menschenrechte richten.“ Explizit wurden als Merkmale der Ideologie des politischen Islamismus Homophobie, Antisemitismus und die Verabsolutierung des eigenen Islamverständnisses genannt.
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lassen sich drei Formen des politischen Islam in Europa unterscheiden. Bei der ersten handelt es sich um Vereinigungen mit einer klaren Struktur, ausgeprägten Hierarchien und einer langjährigen Tradition. Häufig stellen diese Gruppierungen Dependancen ausländischer Organisationen dar oder sind zumindest in vielerlei Hinsicht von diesen abhängig. Beispiele sind die Auslandsorganisationen der türkischen Religionsbehörde Diyanet, zu denen die deutsche DITIB gehört, oder diejenigen, die der türkischen Milli Görüs verbunden sind. Obwohl sie in der Regel versuchen, sich als unabhängige Vereine darzustellen, ist die finanzielle, ideologische und personelle Verbindung zur Mutterorganisation unschwer zu erkennen.
Das ist bei einer anderen international tätigen Vereinigung, der Muslimbruderschaft, weniger einfach zu durchschauen. Die Bruderschaft stellt zwar die weltweit größte und einflussreichste islamistische Organisation dar, doch sie operiert in Europa als Geheimorganisation. Spuren führen nach Ägypten, das Land, in dem sie vor fast 100 Jahren entstand, aber auch nach Marokko, nach Tunesien, Jordanien, Syrien, in die palästinensischen Gebiete in Gaza und im Westjordanland, nach Kuweit oder in den Irak, wo Bruderschaften unter eigener Bezeichnung existieren. Durch Migration und Flucht gelangen Mitglieder der Bruderschaft seit vielen Jahrzehnten auch nach Europa, und in Deutschland waren es Mitglieder dieses Ordens, die in München die erste Moschee nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten. Immer wieder führen Spuren europäischer Muslimbrüder nach Katar, wo die Bruderschaft großen politischen Einfluss ausübt. Das Emirat kauft sich nicht nur in europäische Firmen und Sportvereine ein, sondern fördert nachhaltig den europäischen Islamismus.
Kompromissloser Konfrontationskurs
Muslimbrüder geben sich nach innen geschlossen, agieren strikt antiwestlich und halten unbeirrt am Kurs ihres Gründers Hasan al-Banna fest, der den Koran als Verfassung der Muslime bezeichnet hatte und selbst dem Dschihad gegenüber positiv eingestellt war. Nach außen geben sich die Vertreter der Bruderschaft im Westen allerdings häufig moderat und haben so bereits manche Erfolge erzielt. Ihr vorrangiges Ziel in Europa ist die Diskreditierung jeglicher Kritik am Islamismus als „Islamophobie“ beziehungsweise als „antimuslimischer Rassismus“. Für ihre Kampagnen suchen sie Kooperationen mit Nichtregierungsorganisationen, vorzugsweise mit solchen, die im Bereich des Antirassismus tätig sind, aber auch mit Kirchen und Akteuren aus politischen Parteien, und sie können ihr Gegenüber häufig überzeugen.
Einer zweiten Gruppe von Islamisten, den Salafisten, ist dies nicht gelungen, weil sie keinen Wert auf eine gefällige Außendarstellung legen, sondern zukünftige Anhänger durch einen kompromisslosen Konfrontationskurs zu gewinnen suchen und immer wieder durch gewalttätige Handlungen, durch Morde und Anschläge auffallen.
Die dritte Form des politischen Islam sind islamistische Communities, die Teil der beiden erstgenannten Gruppen sein können, dies aber nicht notwendig sein müssen. Für sie werden die Begriffe der „segregierten Gemeinschaften“ oder der „Parallelgesellschaften“ verwendet. Unter dem Radar von Öffentlichkeit und Politik haben sie in urbanen Quartieren europäischer Metropolen eigene normative Ordnungen entwickelt, die extrem patriarchalisch, antisemitisch und homophob sind und zunehmend unter Kontrolle von Akteuren geraten, die islamistische Gegenwelten aufbauen. Dieser Prozess wurde besonders in England und Frankreich wissenschaftlich erforscht.
Akteure des politischen Islam versuchen seit vielen Jahren, Programme innerhalb der EU zu lancieren, mit denen ihre Gegner politisch ausgeschaltet werden sollen. Ein Beispiel ist der mit EU-Mitteln geförderte „European Islamophobia Report“, der in Zusammenhang mit einer Erdogan-nahen türkischen Stiftung von Akteuren erstellt wird, die im Verdacht stehen, der Muslimbruderschaft anzugehören. In den jährlich erscheinenden Publikationen werden liberale Muslime und Islamismuskritiker zusammen mit Rechtsradikalen in eine gemeinsame Kategorie vermeintlicher „Feinde des Islam“ eingruppiert. In eine ähnliche Richtung gehen Aktionen und Maßnahmen gegen einen vermeintlichen „antimuslimischen Rassismus“, die ebenfalls darauf abzielen, islamismuskritische Stimmen aus dem öffentlichen Diskurs zu eliminieren.
Feinde des Islam
Das ist auf der Ebene einiger Nationalstaaten, besonders in Deutschland, weitgehend gelungen. In anderen Ländern sind Politik und Gesellschaft stärker gespalten. Beispielsweise in Frankreich, einem Land, das in besonderem Maß unter islamistischem Terror gelitten hat, in dem 100.000 Menschen jüdischen Glaubens aufgrund der Gewalt muslimischen Antisemitismus ausgewandert sind und in dem sich regelrechte islamistische Territorien etabliert haben. Dort unternahm Präsident Macron nach der Ermordung des Lehrers Samuel Paty im Oktober 2020 einen Versuch, die Macht der Islamisten zu brechen. Er stand bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in unmittelbarer Konkurrenz mit mehreren rechtsgerichteten Parteien, die den Kampf gegen islamistische Gewalt zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht hatten. Auch in den traditionell einwanderungsoffenen Staaten Skandinaviens haben Islamskeptiker mittlerweile eine starke Position. In Osteuropa lehnen große Teile der Bevölkerung sowohl den Islam als auch Zuwanderungen aus dem globalen Süden ab, in Großbritannien, Süd- und Westeuropa sind diesbezügliche Machtverhältnisse eher ausgewogen, doch die Parlamentswahl in Italien im Jahr 2022 hat verdeutlicht, dass auch hier mit einer antiislamischen Position Stimmen gewonnen werden können.
Nichts spaltet Europa mehr als die Haltung seiner Bürger zum Islam – und dabei insbesondere zum politischen Islam. Der Riss vollzieht sich entlang der nationalstaatlichen Grenzen auf einer Ost-West- und einer Nord-Süd-Achse, geht aber in allen Einwanderungsländern auch mitten durch die Gesellschaften. Das europäische Projekt wird dabei nicht nur von den politischen Akteuren gefährdet, die grundständig islamfeindlich sind, sondern auch von denen, die den Islamismus gewähren lassen oder seine Agenda übernehmen.
Susanne Schröter
Dr. Susanne Schröter ist Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam an der Universität Frankfurt/Main.