Der Genius Europas

Die Theologie des Islam und die Koranexegese sind sehr vielfältig geworden
Zentralmoschee in Köln
Foto: epd/Guido Schiefer
Zentralmoschee in Köln

Unsere Gegenwart ist die wohl heterogenste Epoche muslimischer Koranexegese und Theologie. Es gibt eine kaum mehr überschaubare Fülle menschenrechts­kompatibler, feministischer und sozialethisch-dialogischer Lesarten des Koran, schreibt Rüdiger Braun, Wissenschaftlicher Referent in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin.

Im Laufe seiner mittlerweile 1 400-jährigen Geschichte erwies sich der auch als Kultur der Ambiguität beschriebene Islam als ausgesprochen anpassungsfähig. Dabei hat die Vielgestaltigkeit der Formen des gelebten Islam im arabischen, afrikanischen oder asiatischen Raum der Imagination von der völkerübergreifenden Universalität des Glaubens an den einen Gott nie etwas anhaben können. Das nominell bis 1923 bestehende Kalifat war den Muslimen als Symbol ihrer Einheit genug. Auch in Europa entwickelte der Islam, trotz seines durch die Reconquista im Jahre 1492 erzwungenen Rückzugs aus Spanien, im von 1463 bis 1878 osmanischen Bosnien eine spezifische europäisch-muslimische Identität. Insofern wäre die Frage, ob es einen „europäischen Islam“ gibt und ob es eine entsprechende „Theologie“ gebe, in dieser Perspektive positiv beantwortet. Warum sollte es nicht, ebenso wie es einen Afro-, Indo- und Sino-Islam gibt, auch einen europäischen Islam geben?

So richtig es ist, dass sich der Islam im Laufe seiner Ausbreitungsgeschichte den unterschiedlichsten Kontexten anzupassen wusste, so unbezweifelbar ist es, dass ihn die um 1800 in Europa einsetzende Moderne vor ganz neue Herausforderungen stellte. Die sich dort ausbildende säkulare Ordnung mit ihrer grundsätzlichen, wenngleich durch kooperative Traditionen (wie zum Beispiel in Deutschland) abgemilderten Trennung von Staat und Religion und ihren unhintergehbaren Axiomen der Menschenwürde, der Freiheit des Einzelnen gegenüber Staat und Gesellschaft, der Selbstbestimmung der Persönlichkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz ist ein spezifisch (west-)europäisches und der muslimischen Welt zunächst fremdes Phänomen. Hinzu kommt, dass das klassische islamische Recht einen dauerhaften Aufenthalt von Muslimen in der nichtmuslimischen Welt nicht vorsieht. Nur ein islamischer Herrscher könne, so der Religionsgelehrte Al-Ġazālī (gestorben im Jahre 1111), die Durchsetzung der Scharia beziehungsweise den Schutz der fünf „Notwendigkeiten“ (darūriyyāt) muslimischen Lebens, das heißt Religion, Leben, Verstand, Fortpflanzung und materiellen Besitz, garantieren.

Domestizierter Islam

Als nach dem Ende des Kalifats 1923 und insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Zahl von Muslimen nach Europa migrierte, bedeutete dies nicht nur für das islamische Recht eine Zäsur. Weil der Islam keine zentralen Lehrinstanzen kennt und sich somit jeder Gläubige einer eigenen Lesart von Islam verschreiben kann, sahen sich die europäischen Aufnahmeländer je länger, je mehr dazu veranlasst, die Institutionalisierung und Verwaltung des Islam selbst zu übernehmen.

Die Etablierung nationaler islamischer Konferenzen wie des französischen conseil du culte muselman, der Deutschen Islam Konferenz oder der spanischen Comisión Islámica de España sind Zeichen dafür, dass sich europäische Regierungen mit einer einfachen Toleranz des Islam in Frankreich, Deutschland oder Spanien nicht begnügen, sondern einen einheimischen, von den Herkunftsländern der Muslime unabhängigen Islam zu befördern suchen.

Wenngleich unter dem vom deutsch-syrischen Politologen Bassam Tibi erstmals 1992 verwendeten Begriff „Euro-Islam“ sehr unterschiedliche Denkmodelle verhandelt werden und der Begriff selbst – als Fremdbestimmung, paternalistische Vereinnahmung oder gar Domestizierung des Islam verstanden – unter Muslimen auf starke Ablehnung stößt, entsteht in der heterogenen und hoch komplexen Gemengelage religiös pluraler Zivilgesellschaften zweifellos so etwas wie ein „europäischer Islam“, der auf der Basis neuer Epistemologien und hermeneutischer Ansätze die traditionelle Spannung zwischen islamischer Glaubens­praxis und säkularer Gesellschaft aufzulösen oder zumindest zu verringern sucht. Dabei helfen gerade die säkularen Bedingungen der Universität der islamischen Theologie dabei, an frühere Leistungen – prominent darunter die des andalusischen Rechtsgelehrten Ibn Rušd/Averroes (gestorben 1198) – anzuknüpfen. Die neuen Hermeneutiken, die dabei entstehen, lassen – wie es exemplarisch zu zeigen gilt – so etwas wie einen Paradigmenwechsel in Richtung auf eine anthropologische Wende erkennen.

Metarechtliche Intentionen

Das klassische Verständnis des Koran als unvergleichliches Gotteswort ist im 19. Jahrhundert durch die religionsgeschichtliche Forschung und deren Rede von der Epigonalität des als „Plagiat der Bibel“ gelesenen Koran tiefgreifend herausgefordert worden. Die Reaktion muslimischer Gelehrter darauf bestand seit Ende des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen darin, die Denktradition des Islam und mit ihr die koranische Verkündigung auf ihren eigentlichen „Kern“ beziehungsweise ihre grundlegende „Intention“ (maqṣad) zurückzuführen, um so sowohl den Islam als auch den Koran von allen legalistischen beziehungsweise rechtsnormativen Konzeptualisierungen und allen kulturellen Akzidenzien zu befreien.

Stilbildend wurde dabei der legitimatorische Rückbezug auf den mittelalterlichen Rechtsgelehrten aš-Šāṭibī (gestorben 1388), der in seinem epochemachenden rechtstheoretischen Werk al-muwāfaqāt („Die Übereinstimmungen“) die mit der „originalen“ Intention des koranischen Diskurses kongruierenden „Universalien des Rechts“ (kulliyāt aš-šarī‘a) zur höchsten Instanz der islamischen Normen erhob. Die bereits vom zentralen Vertreter der muslimischen Reform, dem Großmufti der Al-Azhar Muḥammad ’Abduh (1845 – 1905), vorgenommene hermeneutische Differenzierung zwischen mekkanischer und medinensischer Verkündigung wird im 20. Jahrhundert zur Grundlage reformorientierter Koranhermeneutik. Mit seiner Unterscheidung zwischen dem rechtlich relevanten „fundamental Islamischen“ und dem rechtlich irrelevanten „rein Historischen“ etabliert Fazlur Rahman (1919 – 1988) in Anknüpfung an Aš-Šātibīs Rechtstheorie und ‘Abduhs Reformprogramm in den 1960er- und 1970er-Jahren dann die über Jahrzehnte hinweg stilbildende state of the art moderner Koranauslegung.

Eine verbindliche Orientierung

Der rechtsintentionalistische Ansatz, der in der islamischen Theologie in Europa eine prominente Stellung genießt, liest die maqāṣid („Absichten“) des islamischen Rechts, die nach klassischer Lesart der muslimischen Gemeinschaft (umma) den Weg zum eschatologischen Heil weisen sollen, nun als Grundaspekte einer modernen Fürsorgeethik, die den Muslimen eine mehr oder weniger verbindliche Orientierung im Leben und Handeln geben sollen. Im Rahmen einer nochmals stärker rezeptionshermeneutischen Lesart des Koran lassen sich dann Spiritualität, Frömmigkeit und Humanität als transkulturelle, religionsübergreifende Topoi begreifen, die im Gespräch zwischen den Religionen über alle theologischen Differenzen hinweg das eigentliche Verbindende darstellen.

Heutigen Gelehrten wie Ebrahim Moosa, Khaled Abou El Fadl oder Mouhanad Khorchide zufolge vermittelt der Koran keine unabhängig vom Leser existierenden „objektiven“ Einsichten, sondern bietet eine Grundlage für die Ableitung ethischer Prinzipien, so dass letztlich „der Diskurs“ (Khorchide) bestimmt, welcher Islam sich in welchem Kontext durchsetzt.

Noch weiter geht der französische Gelehrte Abdennour Bidar (geboren 1971), der die antagonistische Konstellation von Euro- und Islamozentrismus und das dichotome Denken religiös vs. säkular durch eine existenzialistisch-theosophische Perspektive zu überwinden sucht. Seine „erweiterte Sicht des Heiligen“ möchte den Islam als Religion überwinden und es einem jeden muslimischen Gewissen freistellen, sich selbstbestimmt mit dem Islam und der islamischen Kultur zu verbinden. Manifestieren kann sich dieser Self Islam, der den Muslim zum „Kalifen“, zum „Erben Gottes“ werden lässt, erst in Europa als dem einzigen wirklich säkularen Raum in der Welt, der die Religion überwunden hat: Der „Genius eines nicht-religiösen Islams“ bedarf des „Genius Europas“.

Emanzipatorische Rhetorik

Im Bestreben zeitgenössischer Koranhermeneutik, die ursprüngliche „humanistische Intention“ des Koran auf neue Lebenskontexte zu übertragen, sieht der Frankfurter Professor für Koranexegese Ömer Özsoy den Grund dafür, warum sich die Gegenwart als die wohl heterogenste Epoche muslimischer Koranexegese und Theologie darstellt. Im nachvollziehbaren Wunsch, den Koran in der Moderne zum Sprechen zu bringen, laufe der Reformislam Gefahr, in einem oft eklektischen Zugang eine nur künstliche Verbindung zwischen dem koranischen Wortlaut und dem gegenwärtigen Zustand herzustellen und in den alten Korantext neue Sinnzuschreibungen hineinzuprojizieren, die ihm substanziell fremd sind.

Geringer ist das eisegetische Potenzial in Ansätzen, die unter anderem an das hermeneutische Programm des marokkanischen Philosophen Muḥammad Al-Ǧābirī (1935 – 2010) anknüpfen. Sie nehmen die Rhetorik des Koran selbst in den Blick und sehen deren Besonderheit darin, dass sie über eine mit den Mitteln der Verfremdung, Auslassung und Pointierung arbeitenden „Argumentationsstrategie“ das noch den biblischen Kanon bestimmende Moment des Mythischen überwindet. Dem Mythos aufgeschlossener gegenüberstehende Ansätze wiederum verstehen mit Muḥammad Arkoun (1934 – 2010) den Koran als performativen „Kommunikationsraum“, der selbst noch keine Systematisierung oder Kluft zwischen rationaler und mythischer Erkenntnis kennt. Zwischen der Kontingenz des koranischen Diskurses und der Dynamik des mythisch-historischen Bewusstseins unterscheidend, plädieren sie für eine Integration des Mythos in die kognitive Aktivität der Vernunft und für eine kritische Auseinandersetzung mit der zentralen Frage der Deutungsmacht über die religiösen Quellen und deren Definition.

Die einer kritischen Schriftlektüre entgegenstehende Überzeugung der Muslime, mit dem Koran Gottes letztgültigen Willen unmittelbar in Händen zu halten, liegt auch in den vom Koran selbst beförderten und soziologisch höchst bedeutsamen Imaginationen von der Abgeschlossenheit der Offenbarung begründet („Siegel der Prophetie“, „vervollkommneter Kult“, „beste Gemeinschaft“). Deren Anspruch ist nicht Originalität, sondern Authentizität.

Religionskritik nötig

Der sich in den Ansätzen eines modernen europäischen Islam artikulierende Gedanke einer vom Mythos zum Logos und schließlich zum Ethos der „inneren“ Religion fortschreitenden Entwicklung gibt Zeugnis für eine erstaunliche Entwicklung: Sie zeigt, in welchem Maße die im 19. Jahrhundert einsetzende Verschiebung in der Semantik des Religionsbegriffs hin zu einem spirituell-moralischen, von einschlägig politischen Konnotationen unabhängigen Bereich mittlerweile zu einem Gemeingut muslimischer Reformdenker geworden ist.

Das Bestreben, ein Gegengewicht zu jahrhundertealten orientalistischen Essentialisierungen des Islam (als das Nicht-Europäische oder Nicht-Westliche) zu schaffen und dessen Kompatibilität mit den Topoi der säkularen Moderne aufzuzeigen, generiert eine kaum mehr überschaubare Fülle menschenrechtskompatibler, feministischer und sozialethisch-dialogischer Lesarten des Koran. Sie greifen in einer tendenziell modernistischen Zielsetzung und explizit liberaler Theologisierung die Topoi der Moderne (Menschenwürde, Pluralismus, Freiheit und Geschlechtergerechtigkeit) auf und nutzen sie dafür, den „authentischen“ Islam von all seinen unkultivierten Formen (Islamismus, Salafismus und so weiter) abzugrenzen. Doch impliziert der islamische Authentizitätsanspruch zugleich eine nur schwer zu überwindende Hürde auf dem Weg zu einer kreativen Anverwandlung des vielfältigen Methodeninstrumentariums kritischer Schrifthermeneutik, die – im christlichen Bereich von kirchlichen Vorgaben losgelöst – das Verständnis des zeitgeschichtlichen Kontextes der „Offenbarung“ zur unabdingbaren Voraussetzung ihrer Interpretation macht. In ihrer Infragestellung des Anspruchs der Unmittelbarkeit des göttlichen Wortes markiert sie zugleich eine bislang noch sehr zögerlich angenommene Herausforderung für die muslimische Theologie in Europa.

In welchem Ausmaß muslimische TheologInnen eine solche, die Unmittelbarkeit der Offenbarung entschleiernde Dynamik der Interpretation des Koran zulassen, ist auch vom soziopolitischen Kontext abhängig, in dem sie ihre Theologie ausarbeiten. Der von Bidar herausgestellte „Genius Europas“ sollte mehr auf den Weg bringen als nur eine Verinnerlichung, Ethisierung und Spiritualisierung der Religion. Er steht ebenso auch für eine selbstreflexive, aus der Theologie selbst erwachsende Religionskritik. Deren Anwendung auf den Islam gehört zur Herausbildung einer ernst zu nehmenden islamischen Theologie in Europa unabdingbar hinzu. 

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Foto: EZW/Martin Bahr

Rüdiger Braun

Dr. Rüdiger Braun ist Wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin.


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