Liebhaber des Lebens

Nachruf auf den Praktischen Theologen Wilhelm Gräb (1948-2023)
Wilhelm Gräbe (1948-2023)
Foto: seth mokitimi methodist seminary
Wilhelm Gräb (1948-2023)

Am 23. Januar ist in Berlin der Praktische Theologe Wilhelm Gräb verstorben. Er gehörte zu den herausragenden, international anerkannten Gelehrten in seinem Fach. Unser Autor Dietrich Korsch, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Marburg, war ein enger Freund des Verstorbenen. Ein Nachruf.

Es war Wilhelm Gräbs Grundüberzeugung, dass die Religion ein unendliches Sinnversprechen enthält, das allen Menschen gilt und von allen Menschen empfunden werden kann. Die Fähigkeit, Sinn zu bilden, gehört zum Menschsein, den Sinn aber anzuregen und auszubilden, geschieht in der Religion. Das Christentum hat, so lautete seine Analyse im Anschluss an Friedrich Schleiermacher, in der Geschichte den Anstoß gegeben, diese Allgemeinheit zu erfassen, kundzutun und auf Gott als ihren letzten individuellen Grund zu verweisen. Die Gegenwart des Sinns konnte er daher als die Anwesenheit der Transzendenz verstehen.

In der Geschichte ist dann aber der unendliche Gehalt des Sinns auch in begrenzten, spezifischen Instanzen der Sinnbildung vorhanden und anzuerkennen. Diese Einsicht hat Wilhelm Gräb bewogen, sich intensiv der gegenwärtigen Kultur zuzuwenden, in der er überzeugende und religiös belangvolle Erscheinungen des Sinns identifizieren konnte. Die bildende Kunst, die Musik, die Literatur, das Kino –  sie alle erschlossen dem kritisch-aufmerksamen Blick des Theologen ihre lebensdeutende Kraft. Die umfassende, für Momente in eine eigene Welt versetzende Kraft des Kinos konnte zeitweise seine besondere Wertschätzung auf sich ziehen.

Sich in den humanen Sinnwelten zu bewegen, half ihm, die Praktische Theologie als einheitliche Disziplin auszulegen. Predigt, Seelsorge, Unterricht und Diakonie vermochte er als Handlungsvollzüge zu entfalten, die darauf zielen, dass sich Menschen auf die leibhafte Vergewisserung der Sinnpräsenz einstellen. Die Predigt hat ihm dabei besonders am Herzen gelegen. Es ist eben doch das Wort, dessen das Symbol bedarf. Im Wort wird der Sinn am deutlichsten gefaßt, und darin zielt das Wort auf den Glauben. Wilhelm Gräbs Predigtlehre enthält darum auch eine kleine, intensive, elementare Skizze christlicher Lehre in sinntheoretischer Konzentration.

Religion – ein unendliches Sinnversprechen

Dass er an der Berliner Universität, der Gründung Humboldts nach dem Plan Schleiermachers, die Praktische Theologie vertreten, als Dekan im Angesicht der Schleiermacher-Büste Chr. D. Rauchs die Fakultät leiten und wie das große Vorbild als Universitätsprediger von der Kanzel sprechen konnte, das alles hat ihn zutiefst erfreut.

Religion – ein unendliches Sinnversprechen für alle Menschen. Diesem Grundsatz folgend hat Wilhelm Gräb, vor allem in den Berliner Jahren, seinen Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus geweitet. Die Gründung des International Journal for Practical Theology wäre ohne seine Anregung nicht zustande gekommen. Sie hat zuerst zu seinem internationalen Ansehen beigetragen und ihn an anderen akademischen Welten bis hin nach China teilhaben lassen.

Eine entscheidende Erweiterung hat Wilhelm Gräbs Wirken mit den Aktivitäten gefunden, die zum international geförderten Research Programme on Religious Communities and Sustainable Development geführt haben. Die Gewissheit von der Präsenz des Sinns in der Religion erwies sich dabei als Leitfaden zur Entdeckung der leitenden Kraft der Religion in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen. Im Fokus auf Transformationen in Gesellschaften des südlichen Afrika ließen sich Anstöße vermitteln, den lebensbegründenden Sinn der Religion in die Entwicklung humaner Lebensverhältnisse einfließen zu lassen – als Alternative zum Rückzug auf enge Frömmigkeitskulturen, aber auch zum strategischen Gebrauch von Religion für politische Zwecksetzungen. Darin erwies sich für ihn das progressive Potenzial liberaler Theologie.  Die Universität Stellenbosch in Südafrika hat Wilhelm Gräb, zusätzlich zu seinem Berliner Lehrstuhl, als Extraordinary Professor in ihre Reihen aufgenommen.

Begeisternder Lehrer

Wilhelm Gräb war ein begeisternder Lehrer seiner Studentinnen und Studenten und ein hochengagierter Förderer des akademischen Nachwuchses, der sich ihm weiterhin an verschiedenen Stätten akademischer und kirchlicher Tätigkeiten verbunden weiß. Die Breite seiner theologischen, philosophischen, ästhetischen Wahrnehmungen und die Kraft ihrer gedanklichen Bearbeitung hat viele, die mit seinen Anregungen durch das theologische Studium gingen, tief geprägt. In dem auf ihn zurückgehenden Studiengang Master of Religion and Culture hat die Theologie auch Menschen mit anderen akademischen Vorbildungen erreicht. Die Quintessenz seiner Theologie hat er zuletzt darlegen können in seinem Buch: Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 30), Tübingen 2018; ein Werk, das ein aufmerksames Studium verdient.

Das alles hat Wilhelm Gräb nur tun können, weil ihm selbst der Lebenssinn innewohnte, von dem er sprach. Er liebte das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Sein Lachen, manchmal auch sein Zürnen, konnte oft den ganzen Raum erfüllen. Von seiner Gastfreundschaft, zusammen mit seiner Familie, können viele lang erzählen. Seine Freundschaft war unverbrüchlich treu. Sein badisches Gemüt konnte immer wieder für Ausgleich zwischen den Menschen sorgen, auch wenn Kontroversen über Kirche und Theologie vorangegangen waren.

Mit Wilhelm Gräb haben wir, die Theologie und die Kirche, die Universität und viele Freunde, einen Menschen verloren, dem wir die Treue halten, wenn wir, seiner Spur folgend, dem Sinn vertrauen, der weiter reicht als unser endliches Leben.

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