Zum Wohl ihrer europäischen Heimat

Mit dem Begriff „Islam in Europa“ kommen wir weiter, nicht mit „Euro-Islam“
Zentralmoschee in Köln
Foto: epd/Guido Schiefer
Zentralmoschee in Köln

Der Islam und ein säkularer Staat müssen keine Gegensätze sein. Vielmehr ist ein Praktizieren des Islam unter der Voraussetzung der Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat möglich. Denn der Islam ist historisch, gegenwärtig und künftig mit Sicherheit ein fester Bestandteil Europas, betont Oberkirchenrat Andreas Herrmann vom Referat Interreligiöser Dialog im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Wenn Europa und Islam in einem Atemzug genannt werden, ist die Gefahr groß, in eine Falle zu tappen. Das „und“ wird nicht als verbindend gelesen, sondern als Gegensatz wahrgenommen. Scheinbar treffen hier zwei Welten aufeinander, die nicht zusammenpassen: Orient und Okzident, Europa und der damit nicht kompatible Islam, der aufgeklärte Westen und die islamische Umma.

Umfragen der Bertelsmann-Stiftung belegen, dass etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung auf die Frage, ob der Islam zu Deutschland beziehungsweise zu Europa passe, mit „Nein“ antwortet. Man sollte die suggestive Wirkung der Formulierung einer solchen Fragestellung nicht außer Acht lassen, doch allein schon die häufig gestellte Frage selbst könnte als ein Indiz dafür angesehen werden, dass in der Geschichte Europas wohl noch nie so intensiv über die Kompatibilität des Islam mit diesem Kontinent diskutiert und gestritten wurde wie in den letzten 20 Jahren.

Einen prominenten Beitrag zu der Debatte lieferte der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi mit dem Begriff „Euro-Islam“. Nach der Vorstellung von Tibi verbindet sich damit die Forderung an die muslimischen Einwanderer, ihre religiöse Identität der westlichen Kultur und deren Gewohnheiten anzupassen und aus ihrer vormodernen Religion und Geisteshaltung herauszutreten. Aber nicht nur die Muslime selbst, sondern auch die Politik müsse an dem Projekt eines „Euro-Islam“ notwendigerweise mitwirken.

Wenngleich der „Euro-Islam“ in den letzten Jahren an Beachtung verloren zu haben scheint, dürfte Tibi immer noch bei einem nichtmuslimischen Publikum auf Zustimmung stoßen. Die Muslime reagieren skeptisch. Sie kritisieren zu Recht, dass die Muslime und Musliminnen selbst zu bestimmen haben, was „islamisch“ sei. Neben Tibi hat Tariq Ramadan, ein Schweizer Islamwissenschaftler ägyptischer Herkunft, ein zweites Konzept eines „Euro-Islam“ entwickelt. Auf die Herausforderungen der Zeit und des fremden Umfeldes sollten die Muslime reagieren und neue Antworten finden, allerdings gelte es, die „universalen Werte des Islam“ als Fundament zu wahren. Traditionelle islamische Konzepte sollen an die Bedingungen in Europa angepasst werden.

Die Einschätzungen über Ramadan schwanken zwischen einem Modernisierer und missionarischen Fundamentalisten. Wie die Bewertungen im Einzelnen auch ausfallen mögen, deutlich scheint zu sein, dass die Diskussion um den sogenannten Euro-Islam das „Symptom einer Beziehungskrise“ (Udo Steinbach) offenbart. Ist dieser Diskurs ergiebig? Ist er notwendig? Nein, weil hier von einer beziehungslosen Dichotomie „Europa“ und „Islam“ ausgegangen wird. Es ist wenig hilfreich, abstrakte Grundsatzdebatten darüber zu führen, ob der Islam in die westliche Gesellschaftsordnung hineinpasse und überhaupt mit der Werteordnung einer liberalen Demokratie kompatibel sei.

Der Terminus „Euro-Islam“ transportiert diese Grundsatzdebatte. Er ist normativ aufgeladen. Der vielfältigen muslimischen Realität in Europa wird die Konzeption eines „Euro-Islam“ nicht gerecht. Weniger vorbelastet wäre die Bezeichnung „Islam in Europa“. Darunter wäre ein Zugang zu verstehen, mit dem die lebensweltlichen und praktischen, in jedem Fall dynamischen Prozesse einer muslimischen Präsenz in Europa in den Fokus geraten und deskriptiv erfasst werden. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, wie vielfältig die Kontakte und die damit einhergehenden Verflechtungen zwischen Europa und der muslimischen Welt waren und sind.

Die ersten Muslime kamen als Kriegsgefangene in Folge des „Großen Türkenkrieges“ (1683 – 1699) nach Deutschland, aber auch arabische und türkische Gesandte und Diplomaten hielten sich in Deutschland auf: so etwa der osmanische Botschafter Ali Aziz Efendi, der 1798 in Berlin verstarb und dort auch beerdigt wurde. Das führte dazu, dass der erste islamische Friedhof in Deutschland eingerichtet wurde. Auch im Ersten Weltkrieg kamen muslimische Kriegsgefangene nach Deutschland. Im sogenannten „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Berlin wurden vor allem muslimische Gefangene aus den gegnerischen Armeen der Franzosen, Briten und Russen inhaftiert. Etwa 2500 Algerier, 500 Tunesier und 200 Marokkaner sollen unter den Häftlingen gewesen sein. In Wünsdorf wurde 1915 vom Deutschen Reich auch die erste Moschee in Holzbauweise auf deutschem Boden errichtet, wenngleich sie aufgrund von Baufälligkeit 1930 schon wieder abgerissen werden musste.

Ein „deutscher Dschihad“

Weniger bekannt dürfte sein, dass das Lager einem militärischen Zweck diente. Der deutsche Diplomat Max von Oppenheim (1860 – 1946) hatte die Idee eines „deutschen Dschihad“. Er plante ein Bündnis mit dem Osmanischen Reich, um auf diese Weise den gesamten Islam gegen den Feind zu mobilisieren. Der deutsche Kaiser ließ sich offenbar überzeugen. Ein tunesischer Religionsgelehrter reiste nach Berlin, um den „kleinen Dschihad“ an der Seite der Deutschen zu propagieren, was allerdings keine große Rolle für den Kriegsverlauf spielte.

Die meisten dieser Muslime kehrten wieder in ihre Heimat zurück. Andere kamen: Geschäftsleute, Diplomaten und Studenten aus Indien, der Türkei und dem Iran. In der Weimarer Republik entwickelte sich ein dem Islam gegenüber sehr offenes Klima. In vielen Bereichen wurde experimentiert. Die Religion wurde dabei nicht ausgeschlossen. Der Islam fand in dieser Zeit so viele Anhänger, dass Konvertiten zum Beginn der 1930er-Jahre ein Drittel aller Muslime ausmachten. Zwischen 1924 und 1940 gaben sie mit der „Moslemische Revue“ eine eigene Zeitschrift heraus. 1928 wurde die Ahmadiyya-Moschee in Berlin-Wilmersdorf erbaut, die nicht lange nach ihrer Fertigstellung Berliner Intellektuelle anzog und die älteste erhaltene Moschee in Deutschland ist.

Auch im Zweiten Weltkrieg gab es Versuche, den Islam für die eigenen Zwecke zu gewinnen. Der Großmufti von Jerusalem, Muhammad Amin al-Husseini, kollaborierte mit den Nazis. Darauf wird öfters hingewiesen. Doch gilt es auch, daran zu erinnern, dass viele Muslime auf Seiten der Alliierten gekämpft haben. Als deren Streitkräfte 1944 an der südfranzösischen Küste landeten, waren 120 000 afrikanische Soldaten beteiligt – aus Algerien, Tunesien, Marokko. Die Befreier waren überwiegend Muslime.

So weit eine knappe Erinnerung an die verschiedensten Verflechtungen der vermeintlich so unvereinbaren Blöcke „Europa“ und „Islam“. Die Liste könnte und müsste ergänzt werden, etwa damit, welche Dynamik sich durch die Präsenz des Islam in Andalusien zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert entfalten konnte.

Die aktuelle Diskussion über den Islam in den europäischen Gesellschaften dreht sich verstärkt um den Islam, wie er sich in Bosnien und Herzegowina auf europäischem Boden entwickelt hat. Der „bosnische Islam“ wird gerne auch als Vorbild eines aufgeklärten und modernen Islam dargestellt. Solche Zuschreibungen werden dann problematisch, wenn dadurch „nichteuropäische“ islamische Traditionen den Bosniaken entgegengestellt werden. Deswegen hat die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina lange auf eine Definition der eigenen Tradition verzichtet. Gleichwohl zeigt (nicht nur) das Beispiel Bosnien und Herzegowina, dass der Islam und ein säkularer Staat keine Gegensätze sein müssen, sondern ein Praktizieren des Islam unter der Voraussetzung der Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat möglich ist. Der Islam ist historisch, gegenwärtig und künftig ein fester Bestandteil Europas.

Die gegenwärtige Präsenz des Islam in Deutschland ist zu einem großen Teil auf die Arbeitsmigration in den 1960er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zurückzuführen. Die Anwerbeabkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963) und Tunesien (1965) führten dazu, dass sich Menschen aus islamisch geprägten Ländern in Deutschland dauerhaft niedergelassen haben, auch wenn das von den Architekten der Anwerbeabkommen so nicht vorgesehen war. Geflüchtete Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten haben seit 2015 zu einer steigenden Zahl von Muslimen und Musliminnen in Deutschland geführt.

Kaum Muslime in Ostdeutschland

Insgesamt ist die muslimische Bevölkerungsgruppe vielfältiger geworden, wobei weiterhin die meisten Muslime und Musliminnen einen Bezug zur Türkei haben. Die exakte Zahl lässt sich nur schwer bestimmen, da in Deutschland die Religionszugehörigkeit selten erfasst wird. Eine Hochrechnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für 2019 kommt auf 5,3 bis 5,6 Millionen Muslime und Musliminnen in Deutschland. Das entspricht einem Anteil von 6,4 bis 6,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung von 83,17 Millionen Menschen.

Der Studie zufolge leben 96,5 Prozent der muslimischen Bevölkerung in den alten Bundesländern. Gerade die Menschen, die selbst oder deren Vorfahren durch die Anwerbeabkommen nach Deutschland gekommen sind, haben ihren Wohnsitz meist in Westdeutschland. Viele Muslime und Musliminnen in Ostdeutschland sind nach Deutschland Geflüchtete. In einer Studie aus dem Jahr 2017 hat das Pew Research Center errechnet, dass sich die Zahl in Deutschland bis zum Jahr 2050 auf 6 bis 8,5 Millionen erhöhen könnte. Gründe dafür seien eine weitere Einwanderung und eine – im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen – etwas höhere Geburtenrate. Der muslimische Anteil der deutschen Bevölkerung würde dann 8,7 bis 10,8 Prozent betragen.

Mit Blick auf die Anwerbeabkommen formulierte der Schriftsteller Max Frisch bereits 1965: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Menschen haben Bedürfnisse. Bei der ersten Generation der Gastarbeiter mag das Bedürfnis nach Versammlungsorten beziehungsweise Moscheen ein wichtiger Aspekt gewesen sein. Nach dem Anwerbestopp im Jahr 1973 entstand insofern eine neue Situation, als ein Teil der sogenannten Gastarbeiter entschied, nicht in die Heimat zurückzukehren, sondern ihre Familienangehörigen nach Deutschland zu holen.

Passende Organisationsform

Es ist sicher kein Zufall, dass die erste Gründung eines Dachverbandes in Deutschland – der Verband der Islamischen Kulturzentren e. V. (VIKZ) – in das Jahr 1973 fiel. Nebenbei sei erwähnt: Das Vereinswesen in Deutschland scheint eine Organisationsform zu bieten, mit der die muslimischen Vereine und Verbände gut zurechtkommen, um ihre Anliegen und Interessen zu besprechen und zu artikulieren. Auch das ist ein kleines Beispiel dafür, wie der Islam sich anderen Strukturen „anpasst“.

Durch den Familiennachzug gerieten die Kinder in den Fokus. Der VIKZ setzt bis heute einen Schwerpunkt auf die Bildung und hat sich schon Ende der 1970er-Jahre für einen Islamischen Religionsunterricht an den Schulen eingesetzt, der bis heute das Herzstück der muslimischen Community ist. Leider sind diesbezüglich in den verschiedensten Bundesländern bisher keine verlässlichen und dauerhaften Strukturen entstanden. Es wird weiterhin mit den unterschiedlichsten Konstruktionen experimentiert. Hier werden vermutlich nur dann Fortschritte zu erzielen sein, wenn in Zukunft auch für muslimische Organisationen die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts gelingt.

Erfolge konnten dagegen bei der Ausbildung von muslimischen Lehrkräften erzielt werden. Die Einrichtung von Zentren und Instituten der Islamischen Theologie in Deutschland und Europa markiert einen Meilenstein – auch für die Diskussion um einen Islam in Europa. So hat sich das Zentrum für Islamische Studien an den Universitäten in Frankfurt und Gießen seit seiner Gründung im Jahr 2011 zu einem renommierten wissenschaftlichen Standort entwickelt.

Neue Initiativen

Neben Frankfurt und Gießen gibt es in Münster, Osnabrück, Erlangen-Nürnberg, seit 2019 auch in Berlin sowie in Wien, Innsbruck und Fribourg (Schweiz) Studienangebote im Bereich Islamische Theologie und Religionspädagogik. In den letzten Jahren kam Bewegung in die Imam-Ausbildung in Deutschland, und im Bereich der muslimischen Seelsorge haben sich viele Kooperationen mit den Kirchen etabliert. Neue Initiativen wie etwa die Alhambra-Gesellschaft e.V. sind entstanden, die sich laut Selbstauskunft als ein Zusammenschluss von Musliminnen und Muslimen versteht, „die sich als originärer Teil der europäischen Geschichte und ihrer jeweiligen europäischen Heimatgesellschaft verstehen“.

Es gibt so viele Facetten, Aspekte und Entwicklungen eines Islam in Deutschland, dass man mit der Annahme, der Islam sei der europäischen Geschichte und der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit gegenüber das absolut Fremde, in die Falle tappt. Demgegenüber gilt es zu beobachten, welche Anpassungs- und Wandlungsprozesse sich vollziehen; die lebensweltliche Dimension ist zu beachten, erfahrene Dissonanzen sind zu beleuchten. Kurzum: Die gegenwärtigen Erscheinungen und Formen des Islam in Deutschland sind in ihrer Vielfalt differenziert in den Blick zu nehmen.

Dabei ist die Logik eines „Euro-Islam“ umzukehren. Es muss eine andere Kausalität gelten: Nicht ein den Muslimen vorgeschriebener „Euro-Islam“ ist zu entwickeln, um Islam und Europa kompatibel zu machen. Sondern: Integration, Teilhabe, Kooperation, Dialoge werden zu Entstehungsbedingungen für einen Islam in Europa. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der nicht konfliktfrei ablaufen kann, in den sich aber Muslime und Musliminnen für eine gemeinsame europäische Zukunft einbringen können und sollen. Zum Wohl ihrer europäischen Heimat. Der Islam verändert Europa, aber Europa verändert auch den Islam. 

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