Gestus der Überlegenheit

Zum Konflikt um die Abschaffung der Frauenordination in Lettlands lutherischer Kirche
Kreuzgang des lutherischen Doms in Riga, Lettland.
Foto: Philipp Gessler
Kreuzgang des lutherischen Doms in Riga, Lettland.

Sind Sanktionen gegen Kirchen, die sich gegen die Ordination von Frauen aussprechen, ein richtiges Mittel? Johannes Fischer, Professor em. für Systematische Theologie in Zürich, bezweifelt das. Er gibt zu bedenken, dass die Errungenschaft der Frauenordination auch in Deutschland noch nicht lange währt, und warnt vor westlicher Überheblichkeit.

In zeitzeichen 12/2022 findet sich ein Interview mit dem Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands, Erzbischof Jānis Vanags. Darin wird dieser auf die Abschaffung der Frauenordination durch die Synode seiner Kirche, der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands, im Jahr 2016 angesprochen.

Der Beschluss hatte erheblichen Staub aufgewirbelt und die Beziehung zu den lutherischen Schwesterkirchen in Deutschland belastet. Vanags bekräftigt in seiner Antwort seinen Standpunkt, der ihn auch schon vor jenem Beschluss, nämlich seit seiner Amtseinsetzung 1993, dazu veranlasst hatte, keine Frau für das geistliche Amt zu ordinieren: „… die Frage der Frauenordination muss sich an der Heiligen Schrift, der apostolischen Praxis und den lutherischen Bekenntnissen orientieren, nicht an den Prozessen der Frauenemanzipation.“ Mit dieser Auffassung hat Vanags offenbar einen großen Rückhalt in seiner Kirche. Immerhin wurde der Beschluss zur Abschaffung der Frauenordination mit 201 Ja-Stimmen bei 59 Nein-Stimmen und 22 Enthaltungen gefasst. Theologinnen, die vor 1993 ordiniert worden waren, konnten weiterhin im Amt bleiben.

Zu denken gibt die Reaktion auf diesen Beschluss von kirchlicher Seite in Deutschland. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland entzog der lettischen Kirche die Hoheit über die von ihr gezahlten Hilfsgelder. Das Gustav-Adolf-Werk, das Diasporawerk der EKD, stellte seine finanzielle Unterstützung der lettischen Kirche ein. So verständlich es ist, dass man sich in Deutschland mit jenen Menschen in der lettischen Kirche solidarisch fühlt, die sich für die Frauenordination einsetzen, so wirft dies doch die Frage auf, was kirchliche Institutionen hierzulande zu einer solchen Reaktion gegenüber der lettischen Kirche berechtigt. Was versprechen sie sich von einer Sanktionierung durch den Entzug finanzieller Mittel? Müssten sie nicht konsequenterweise auch andere Mitgliedskirchen des lutherischen Weltbunds, die keine Frauen ordinieren, in dieser Weise sanktionieren? Was verrät das über ihr eigenes Denken?

In einem offenen Brief, mit dem Pastorinnen aus der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover im Vorfeld gegen die Pläne der lettischen Kirche protestiert hatten, heißt es: „Der freie Zugang von Männern und Frauen zum geistlichen Amt und zur Verkündigung ist unverzichtbarer Bestandteil reformatorischer Kirchen.“ Ja, wie denn? Etwa immer schon? Oder seit wann? Ist denn vergessen, wie lange es in den lutherischen Landeskirchen hierzulande gebraucht hat bis zu der Einsicht, dass Frauen zum geistlichen Amt zugelassen werden sollten? Und hat Vanags nicht recht, wenn er darauf insistiert, dass maßgebend für die Entscheidung in dieser Frage nicht der Gesichtspunkt der Frauenemanzipation oder der Gleichstellung von Frauen sein kann, sondern allein das Verständnis dieses Amtes?

Zeitbedingte Vorstellung

Es war dieses Verständnis, um das in der Vergangenheit auch in den lutherischen Kirchen in Deutschland theologisch gerungen wurde. Dabei spielten auf konservativer Seite genau die Gründe eine Rolle, die auch Vanags für seine Position in Anspruch nimmt. Gegen große Widerstände hat sich schließlich die Einsicht durchgesetzt, dass unterschieden werden muss zwischen dem geistlichen Amt und zeitbedingten Vorstellungen darüber, wer befugt ist, dieses Amt auszuüben, ob nur Männer oder auch Frauen. Dass es dazu kommen konnte und dass wir Heutigen die Auffassung früherer Generationen in dieser Frage als zeitbedingt wahrnehmen, das hat wesentlich mit dem gesellschaftlichen Wandel und der grundlegend veränderten Stellung der Frau in der Gesellschaft zu tun. Sie macht es begründungspflichtig, warum Frauen vom geistlichen Amt ausgeschlossen sein sollen. Für frühere Generationen stellte sich diese Frage nicht, wie sie sich ja auch in Bezug auf andere Berufe nicht stellte, die ganz selbstverständlich von Männern ausgeübt wurden. Daher konnten frühere Generationen unsere heutige Einsicht hinsichtlich des geistlichen Amts und der Frauenordination gar nicht haben.

Wir haben deshalb kein Recht, frühere Generationen zu tadeln oder ihnen einen Vorwurf zu machen, weil sie unsere heutige Einsicht nicht hatten. Ein solches Recht hätten wir nur, wenn die Gründe, die uns zu unserer Einsicht gebracht haben, auch ihnen schon zugänglich gewesen und also auch Gründe für sie gewesen wären. In diesem Fall müsste man aus heutiger Sicht urteilen, dass sie blind gewesen sind oder unwissend und dumm oder dass es ihnen am guten Willen gefehlt hat. Jedenfalls müssten wir uns ihnen überlegen fühlen, da wir über eine Einsicht verfügen, die sie ebenfalls hätten haben können, aber aus selbstverschuldeten Gründen nicht gehabt haben.

Wie steht es diesbezüglich mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands? Haben kirchliche Instanzen hierzulande ein Recht, die lettische Kirche dafür zu tadeln, dass sie in der großen Mehrheit ihrer Synodalen unsere Auffassung hinsichtlich des geistlichen Amts und der Frauenordination nicht teilt? Kann man der lettischen Kirche deshalb einen Vorwurf machen? Wie gesagt: Wir wissen es aus unserer eigenen Geschichte, dass Einsicht etwas ist, das sich in einem oft mühsamen Prozess bilden muss. Und sie kann sich nur bilden, wenn kein Druck ausgeübt wird, gar noch durch den Entzug finanzieller Mittel. Wie Vanags in dem Interview ganz zu Recht feststellt, fördern Sanktionen nicht Einsicht, sondern Opportunismus. Einsicht lässt sich niemandem abfordern. Daher kann man auch niemanden dafür tadeln, dass er eine bestimmte Einsicht nicht hat.

Tadeln kann man jemanden lediglich dafür, dass er sich einer Einsicht verweigert. Das freilich setzt voraus, dass er allen Grund zu dieser Einsicht hat und sich ihr dennoch verschließt. Aber haben diejenigen in der lettischen Kirche, die so denken wie Vanags und die sich in der Frage der Frauenordination auf die Heilige Schrift und die lutherischen Bekenntnisse berufen, allen Grund, sich unsere Auffassung in dieser Frage zu eigen zu machen? Kann man ihnen unterstellen, dass sie sich wider besseres Wissen unserer Auffassung verschließen? Wer ihnen dies unterstellt, der muss die schlagenden Gründe zugunsten unserer Auffassung nennen, über die die Synodalen der lettischen Kirche angeblich schon verfügen und denen sie sich wider besseres Wissen verweigern.

Bemerkenswert in dem Interview mit Vanags ist seine Antwort auf die Frage nach den Verlusten durch die finanziellen Kürzungen seitens deutscher kirchlicher Stellen. Natürlich hätten diese die Arbeit seiner Kirche beeinträchtigt. „Andererseits mussten wir auf eigenen Beinen stehen und wirtschaftlich unabhängig werden. Es brachte uns das Gefühl der Freiheit, das wir von Herzen genießen. Wir sind dankbar für die Unterstützung, die wir erhalten haben und weiterhin erhalten. Allerdings erwarten oder fordern wir von niemandem etwas, so dass wir mit unseren Partnern wie mit Freunden auf Augenhöhe sprechen können, ohne zu denken, dass wir uns auf die Zunge beißen und schweigen müssen, um keine D-Mark oder keinen Euro zu verlieren, wie es in den Anfangsjahren der Fall war.“

Wie steht es mit dem „Erwarten“ und „Fordern“ auf Seiten der deutschen kirchlichen Stellen? Und mit der gleichen Augenhöhe? Könnte man es der lettischen Seite verdenken, wenn das deutsch-lutherische Erwarten und Fordern in der Frage der Frauenordination bis hin zu finanziellen Sanktionen dort als Arroganz herüberkäme? Was läuft da schief?

Das Problem liegt in der Denkweise auf Seiten der kirchlichen Instanzen in Deutschland. Angenommen, jemand ist der Überzeugung, dass Frauen die Möglichkeit der Ordination zum geistlichen Amt haben sollen. Diese Überzeugung veranlasst ihn, sich für die Frauenordination einzusetzen und dabei auch Frauengruppen innerhalb der lettischen Kirche zu unterstützen, die dieses Ziel verfolgen. Angenommen nun, er trifft auf einen Synodalen aus der lettischen Kirche, der bezüglich der Frauenordination der gegenteiligen Überzeugung ist. Müsste ihn dies nicht dazu bringen, sich zu fragen, woher trotz des gemeinsamen lutherischen Hintergrunds dieser Unterschied in der Überzeugung kommt und durch welche unterschiedlichen historischen Weichenstellungen und gesellschaftlichen Kontexte ihre jeweiligen Überzeugungen geprägt worden sind? Und müsste das Innewerden der historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit der eigenen Überzeugung nicht in die Einsicht münden, dass er von jenem Synodalen unmöglich verlangen oder gar einfordern kann, dass dieser seine eigene Überzeugung teilt oder übernimmt? Natürlich hält ihn dies nicht davon ab zu versuchen, den Synodalen mit Gründen von seiner eigenen Auffassung bezüglich der Frauenordination zu überzeugen. Aber er wird nicht den Fehler machen zu unterstellen, dass das, was für ihn selbst richtig ist, auch für diesen richtig sein muss, und dass man es deshalb von ihm einfordern kann.

Zeitloses Prinzip beansprucht

Falsch wird es demgegenüber, wenn Überzeugungen, die sich auf dem Hintergrund bestimmter historischer und gesellschaftlicher Kontexte gebildet haben, dekontextualisiert werden. Dass Frauen denselben Zugang zum geistlichen Amt haben sollen wie Männer, das wird dann zu einem zeitlosen Prinzip, für das beansprucht wird, dass es allgemein gültig ist und in seiner Gültigkeit von jedermann erkannt werden kann, ungeachtet der historischen und kulturellen Prägung und des gesellschaftlichen Kontextes einer Kirche. Deshalb kann es auch überall eingeklagt werden. Dass eine Kirche wie die lettische die Gültigkeit dieses Prinzips nicht erkennt und anerkennt, das lässt sich dann nur mit Rückständigkeit, Unwissenheit, Borniertheit oder fehlenden guten Willen erklären. Von einer Begegnung auf Augenhöhe kann jedenfalls nicht die Rede sein.

Dieses prinzipielle Denken hat in der heutigen Welt viel Unheil angerichtet. Man meint dann zum Beispiel, dass die Menschenrechte überall auf der Welt normativ gültig seien, ungeachtet der kulturellen Gegebenheiten, unter denen Menschen leben, und dass man sie deshalb überall einklagen könne. Auch bei den Menschen in den entlegenen Hochtälern Afghanistans, die von Menschenrechten keine Ahnung haben und für die zuerst zählt, ob jemand Mann oder Frau ist und welchem Stamm er angehört und ob er zu den Gläubigen gehört oder zu den Ungläubigen, nicht aber, dass er ein Mensch ist. Auch für sie, so meint man, sind die Menschenrechte verpflichtend gültig. Dass sie diese Gültigkeit nicht erkennen und anerkennen, zum Beispiel was die Gleichheit von Mann und Frau betrifft, das hat dann seine Erklärung in ihrer kulturellen Rückständigkeit.

Der Ausdruck Rückständigkeit verweist dabei auf das Narrativ, mit dem das prinzipielle Denken sich seiner eigenen Überlegenheit vergewissert. Danach verfügt es über eine Wahrheit, die für alle Menschen gültig ist und die allen Menschen auch zugänglich ist, die aber noch nicht von allen Menschen erkannt und anerkannt worden ist. Die Geschichte wird dementsprechend als ein Fortschrittsprozess vorgestellt, bei dem es gilt, die Rückständigen dahin zu bringen, wo man selbst schon steht. Die tiefe Verblendung des prinzipiellen Denkens besteht darin, dass man nicht mehr hinschaut und zu verstehen sucht, wie Menschen tatsächlich fühlen und denken und warum sie so fühlen und denken, wie sie es tun. Denn es ist ja schon alles auf der Prinzipienebene entschieden. In Afghanistan ist dieses Denken wegen seiner Realitätsverleugnung katastrophal gescheitert. Daraus ist zu lernen, dass die universale normative Gültigkeit der Menschenrechte immer nur ein Ziel im Kampf für die Menschenrechte sein kann. Die Meinung, sie sei gegenwärtige Realität, grenzt demgegenüber an Wahn.

Die Unterscheidung zwischen einem Denken, das sich seiner Kontextgebundenheit bewusst ist, und einem prinzipiellen Denken führt noch einmal zurück zum Umgang deutscher kirchlicher Institutionen mit der lettischen Kirche. Es sei als Frage formuliert: Ging es bei der Kürzung der finanziellen Mittel für die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands darum, mittels Sanktionen ein Prinzip durchzusetzen, nämlich dass Männer und Frauen gleichen Zugang zum geistlichen Amt haben? Wenn es so war, dann war das jedenfalls sehr westlich, weil prinzipiell gedacht, und es haftet ihm dann etwas von jenem Gestus der Überlegenheit an, der im Andersdenkenden nur den Rückständigen sehen kann oder den, der Tadel verdient. Es würde die Frage aufwerfen, ob dies der Umgang zwischen Schwesterkirchen sein sollte. 

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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