Wozu (noch) Kirchen?

Warum das Christentum der Demokratie weiterhin guttun kann
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Foto: Hans-Jürgen Krackher

Um die Zukunftsfähigkeit des christlichen Glaubens und der Kirche zu stärken, fordert der Göttinger Theologieprofessor Christian Polke mehr Kraft und Wagnis in der Verkündigung. Auch geht es ihm um Räume und Angebote für eine Gemeinschaft, die sinnhaft spüren lässt, worum es im Christentum geht.

In seinem neuen Buch Warum Kirche? hat der Soziologe Hans Joas eine folgenreiche Beobachtung gemacht. Für viele Zeitgenossen, keineswegs nur Christen, würde sich heute nicht mehr die Frage nach der Zukunft von Religion überhaupt als vielmehr die nach der Notwendigkeit von Kirche stellen. Der Dringlichkeit dieser Frage entspricht der Umstand, dass seit vergangenem Jahr nicht einmal mehr die Hälfte der hierzulande lebenden Menschen Mitglied einer der beiden großen Kirchen ist. Auch der jüngste Religionsmonitor belegt diese Tendenz. Beobachter wie der Religionssoziologe Detlef Pollack sprechen bereits von einem „Kipppunkt“.

Dieser Trend ist besorgniserregend und sollte es auch für diejenigen sein, die keiner Kirche angehören oder sich als ungläubig bezeichnen. Warum? Zunächst, weil Trends, die zu Mehrheiten werden, sich schlechter umkehren lassen. Zumindest nicht auf absehbare Zeit. Sodann, weil zwar viele Kirchenaustritte aus gut nachvollziehbaren Gründen oder als Endpunkt einer langjährigen Entfremdung erfolgen; viele andere sich jedoch eher unbewusst einem solchen Trend anschließen. Das festzustellen, bedeutet keineswegs, die Aufrichtigkeit der Entscheidung anzuzweifeln. Vor allem aber hat schon die Debatte um die Systemrelevanz von Kirche und Religion in der Coronakrise gezeigt, dass die vormalige Selbstverständlichkeit, mit der Politik sich dieser Seite menschlichen Lebens zuwendet, abhandenzukommen droht. Es gibt schließlich Wichtigeres, das jetzt anzugehen sei: Klimakrise, Energiekrise, Gesundheitskrise, Krieg. Daran ist Manches, vielleicht sogar Vieles richtig. Niemand wird im Ernst bestreiten, dass die derzeitige Lage volle Konzentration auf wenige, aber für die Zukunft maßgebliche Themen erfordert. Und demokratietheoretisch gilt, dass sich wandelnde Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse mittelfristig Konsequenzen nach sich ziehen. Das gilt auch für das religiöse Feld einer Gesellschaft.

Wie lange noch?

Vor diesem Hintergrund könnte man auf die Idee kommen, die Frage einmal umzukehren. Was verlöre unsere Gesellschaft, unser demokratisches Gemeinwesen, eigentlich, wenn zwar nicht ihre Mitglieder a-religiös würden, wohl aber Institutionen wie die Kirchen aus dem Licht der Öffentlichkeit verschwänden? Nicht „Welt ohne Christentum“, wohl aber „Gesellschaft ohne Kirchen“. Was wäre dann? Oder ist diese Alternative zu einfach? Es stimmt: Das Christentum geht nicht in Kirchen auf und Christsein kann man auch abseits eines Bezugs zur Gemeinde. Aber die Frage lautet eher: Wie lange (noch)? Und gilt dies noch für die eigenen Kinder und Enkel? Und was würde eigentlich passieren, wenn christliche Symbole, Bilder, Redewendungen, Riten, Gebäude nicht mehr als solche wiedererkannt werden? Oder allenfalls noch von einer kleinen Minderheit, die sich in ihnen zwar wie selbstverständlich bewegt, aber keinerlei Außenwirkung mehr entfaltet? Wer so fragt, dem wird gerne mal der Vorwurf gemacht, er funktionalisiere Glaube und Christentum. Zumal in der Theologenzunft ein beliebtes Spiel. Dabei kann es doch gar nicht darum gehen, den Inhalt einer Botschaft gegen deren Lebensdienlichkeit und Prägekraft auszuspielen. Die rhetorische Inszenierung dieser scheinbaren Alternative überspielt lediglich die Dringlichkeit der Problemstellung.

Es sollte von daher nachdenklich stimmen, wenn vor allem Nicht-Theologen sich mit diesen Fragen beschäftigen. Sei es, dass sie, wie Hans Joas, davor warnen, im Glauben vor allem ein Mittel spiritueller Selbstoptimierung zu sehen; sei es, dass sie, wie der Philosoph Otfried Höffe und der Soziologe Hartmut Rosa, in ihren neuen Büchern nach dem Beitrag von Religion für das demokratisches Zusammenleben fragen. Gemeinsam ist diesen Zugängen eine Einsicht, die insbesondere unter Protestanten nicht nur auf Zustimmung stoßen dürfte: Ein Glaube ohne Gemeinschaft wird in der Regel schnell kraftlos, das Christentum hat ohne Kirchen auf Dauer keine Zukunft. Aller Emphase auf den eigenen, individuellen Glauben zum Trotz: Religion ist auch in ihrer christlichen Gestalt stets eine soziale Angelegenheit. Darin ist sie auf Gemeinschaft, auf Traditionen und Rituale angewiesen, deren Wert sich nicht ausschließlich an der individuellen Zustimmungsfähigkeit bemisst. Gerade darum kann und sollte man fragen: Worin besteht die Relevanz des Christentums und seiner Kirchen, auch über die eigene Glaubensanhängerschaft hinaus?

Kultur des Zuhörens

Wenn zutrifft, dass die Grundlagen unserer demokratischen Kultur immer neu ausgehandelt werden und wir wieder lernen müssen, nicht nur auf die eigenen Interessen und Identitäten, Werte und Weltsichten zu hören, dann bedarf es einer neuen Einübung in die Kultur des Zuhörens. Diese beginnt, wo, biblisch gesprochen, ein hörendes Herz heranreifen darf. Nach wie vor sind es dabei „insbesondere die Kirchen, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann“ (Hartmut Rosa). Zum Zuhören gehört dabei das Aufhören, und zwar im doppelten Sinne der Unterbrechung wie des Sich-ansprechen-Lassens durch Andere und Fremdes. Das heißt zugleich, sich von der Sorge um die eigene Authentizität freizumachen. Keine leichte Aufgabe für all diejenigen, die sich um die Sache des Christentums bemühen. Doch Aufrichtigkeit meint etwas anderes als die Fixierung auf den eigenen Gesinnungshaushalt. Zeugnis abgeben kann nur diejenige, die sich selbst nicht so wichtig nimmt. Und wiederum lässt sich beides leichter oder vielleicht überhaupt nur dann einüben, wenn man wenigstens hin und wieder Zuflucht nehmen kann in einer Gemeinschaft, die von einer gemeinsamen Sache geleitet wird, die mehr ist als die Summe der versammelten Überzeugungen. Das gilt übrigens für das Evangelium nicht minder als für die Demokratie. Beide leben davon, dass nicht permanent infrage stehen muss, ob die eigene Überzeugung noch ausreicht, um das Engagement zu rechtfertigen.

Zum Zutrauen in den eigenen Glauben wie zum Vertrauen in die Demokratie gehört, dass man nie allein ist, selbst wenn es oftmals so erscheint. Dies erfahrbar zu machen, ist im Kern die Aufgabe von Gemeinschaften, wie sie die Kirchen darstellen. Gewiss nicht von ihnen allein. Aber weil „eine kluge Demokratie die vielen von den Religionsgemeinschaften getragenen sozialen Einrichtungen zu schätzen weiß, wird sie es vermutlich bedauern, wenn alle Religion und mit ihr alle religionsgeprägten kulturellen Elemente wie Kirchbauten, Gemälde, religiöse Musik, Feiertage und religiöse Redensarten mehr oder weniger sang- und klanglos aus dem Leben der Bürger verschwinden“ (Otfried Höffe). Sind es doch vornehmlich diese kulturellen Praktiken, bisweilen unscheinbar, oftmals wenig intellektuell, die als Erinnerungszeichen für den symbolischen Mehrwert von Glauben und Religion dienen. Nicht, dass sie unmittelbar eine Wirkung erzielen könnten. Jedoch würden ohne sie schon die Anlässe fehlen, um Erfahrungsräume zugänglich zu machen, in denen sich abseits aller Lebens- und Weltprobleme eine Besinnung auf das einstellen kann, was uns alle gemeinsam trägt, von dem wir alle zehren.

Theologisch reformuliert macht sich die Kulturkompetenz der Kirche in ihrer Kultuskompetenz bemerkbar und umgekehrt. Dabei geht es ganz gewiss nicht allein oder gar ausschließlich um den sonntäglichen Gottesdienst, noch dazu in seiner kerngemeindlichen Gestalt. Wohl aber darum, an vielen Orten Räume bereitzuhalten, in denen Gemeinschaft – leibhaftig und nicht nur digital, sozial und nicht nur mit eigenen Gesinnungsleuten – erfahrbar wird, die auf das uns alle Verbindende aufmerksam macht. Deshalb bleibt es ein Gebot der Stunde, die Kirche im Dorf genauso wie in der Stadt zu lassen. Nicht anders übrigens, als Demokratie „von unten“ her und somit stets „vor Ort“ als wirksam erfahrbar werden muss, um auf Dauer zu überzeugen.

Darüber hinaus: Weil das uns alle gemeinsam Tragende all unsere Differenzen übersteigt, geht seine Erfahrbarkeit gerade dort verloren, wo sich auf unterschiedliche Weise Milieuverengung breitmacht. Das gilt für Frömmigkeitsstile genauso wie für politische Einstellungen und moralische Überzeugungen. Wiederum heißt dies gerade nicht, der Beliebigkeit das Wort zu reden; gleichsam einem Relativismus von links oder rechts den Weg zu bereiten. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich auf den Kern der Botschaft besinnt, der mehr umfasst als die eigenen Gewissheiten: Das Evangelium von dem einen Gott, der sich im Menschenantlitz zeigt, sein Leben mit dem unseren in aller Freude und in allem Leid teilt und uns gerade so in die Gemeinschaft der Menschenkinder ruft, die selbst der Tod nicht zerstören kann. Und die Demokratie, als die Idee einer umfassenden Lebensform, in der jeder Mensch mit gleicher Achtung sein eigenes Leben gestalten kann und der von der Anerkennung lebt, gebraucht zu werden.

Universale Idee

Solche umfassenden Ideale bleiben schal und wirklichkeitsfremd, wenn sie sich nicht in kleiner Münze auszahlen lassen. Sie müssen konkret werden, sprichwörtlich in Fleisch und Blut übergehen. Sie brauchen Praxen, die niederschwellig genug etwas von ihrem Geist wieder- und weitergeben. Sie bedürfen Sprachen, die nicht zuvorderst belehren, sondern mit denen man Geschichten vom Gelingen wie vom Scheitern erzählen und teilen kann. Angebote, die ohne großes Vorwissen etwas davon sinnhaft spüren lassen, worum es bei dieser Sache, beim Christentum, bei der Demokratie, geht. Und ja, auch Verfahren und Institutionen, die helfen, Konflikte zu bearbeiten, und die es vermögen, noch die eigene Lebensspanne zu überragen. Kurzum: Ohne Narrative, ohne Rituale, ohne exemplarisches Engagement und ohne Orte der Zusammenkunft geht es nicht.

Christentum wie Demokratie sind geleitet von einer universalen Idee. Darin kommt ihr im wahrsten Sinne des Wortes katholischer Zug zum Ausdruck. Einer Weltkirche oder Weltrepublik bedarf es dazu aber nicht. Auch müssen die Unterschiede zwischen himmlischem Heil und irdischem Wohl keineswegs geleugnet werden. Überschneidungen zwischen beiden lassen sich dennoch festhalten. Jedenfalls dann, wenn man beachtet, die christliche wie die demokratische Idee kommen nur in konkreten Lebensformen zum Vorschein. Beide prägt ein Geist, der darum weiß, dass man nie allein Christin oder Demokrat sein kann. Beide drängen auf Formen der Beteiligung, die Andersdenkende nicht vorschnell ausschließen. Beiden ist schließlich das Wissen nicht fremd, dass Menschen fehlbar und auf eine Hoffnung angewiesen sind, die Mut zum Weitermachen gibt. Glaubhafte (!) Selbstkritik, zumal in Sachen Missbrauch auch innerhalb der evangelischen Kirche, ist von daher die einzig angemessene Antwort auf diesen Skandal.

Es ist ihr jeweiliger Geist, an dem sich entscheidet, ob das Christentum, ob die Demokratie, noch eine Zukunft haben. Dieser macht sich in konkreten Lagen, in Haltungen und Handlungen fest. Den Streit um die richtigen Lösungen soll dies nicht beenden. Wohl aber müsste gefragt werden, ob in demselben Geist gestritten und gehandelt wird. Wo die eigene Überzeugung zum alleinigen Maßstab dafür wird, was wahrhaft christlich ist oder dem Geist der Demokratie entspricht, da ist dieser im Grunde schon der Rechthaberei gewichen. Das gilt auch für das Zusammenspiel von Politik und Religion im Großen.

Die Geschichte lehrt, dass die Zukunftsfähigkeit des christlichen Glaubens sich stets im Umgang mit den großen Fragen und Nöten der Zeit erweist: in der sozialen und demokratischen Frage nicht minder als bei den Folgen der Klimakrise. Hierbei kommt den Kirchen eine besondere Verantwortung zu. Ihre Antworten müssen die von ihnen zu vertretende Idee wiedererkennen lassen. Das betrifft den Umgang mit Sterben und Tod in der Coronakrise ebenso wie das zeichenhafte Engagement für mehr ökologische Nachhaltigkeit. Wäre es in solch einem Fall nicht der Situation wie Sache angemessener gewesen, öffentlich mehr Räume für Klage und Anklage, ja auch Gott gegenüber, zu schaffen – „Gott sei’s geklagt“? Und hinterlässt ein Synodenbeschluss zum Tempolimit für kirchliches Dienstpersonal nicht eher den fast schon peinlichen Eindruck tagespolitischer Inszenierung, als dass er die Verantwortung für die Schöpfung glaubwürdig bezeugte? Das Anliegen mag berechtigt sein. Doch die Art und Weise, wie hier agiert wurde, lässt kaum Zweifel zu. Offenkundig herrscht ein Missverhältnis zwischen eigenem Selbstanspruch und übertragener Rolle als Synode vor.

Verwegenheit nötig

Mit derlei symbolisch aufgeladenen Beschlüssen lässt sich jedenfalls die Frage, die meine Überlegungen leitet, nicht positiv beantworten: Wozu noch Kirchen? Zumal es schlicht anmaßend wäre zu glauben, allein dem Christentum oder gar den Kirchen wohnte ein derart prophetischer Impuls inne. Das können andere besser. Umgekehrt scheint auch in den Kirchen immer mehr das Gefühl um sich zu greifen, man müsse alles, was man öffentlich zu sagen hat, in einer säkularen, scheinbar für alle verbindlichen Sprache artikulieren. Doch verunmöglicht dies geradezu die Provokation, mit der der Glaube, etwa auf sinnloses Leiden und Sterben, zu antworten versucht. Ohne Verwegenheit, die auch eigene persönliche Glaubenszweifel – und wer hätte die nicht? – einmal einklammert, ist die christliche Botschaft nicht zu vermitteln.

Das meint kein Plädoyer für rückwärtsgewandtes Bekenntnispathos, das schon im Kern jeden Zweifel erstickt. Wohl aber erinnert es uns daran: Wir alle leben von einer Verheißung, die unsere Auffassungsgabe übersteigt. Deswegen ist es gut, sie nicht alleine fassen und begreifen zu müssen. Darum und dazu braucht es Kirche. Sie müsste allerdings neu wagen lernen, ihre Botschaft kraftvoll und offen, ja risikofreudig zu verkündigen. Denn das Evangelium ist nicht weniger als die Demokratie ein nach wie vor „uneingelöstes Versprechen“ (Urs Marti). 

Literatur
Otfried Höffe: Ist Gott demokratisch? Hirzel Verlag, Stuttgart 2022, 232 Seiten, Euro 24,–.
Hans Joas: Warum Kirche? Herder Verlag, Freiburg 2022, 240 Seiten, Euro 22,–.
Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Kösel-Verlag, München 2022, 80 Seiten, Euro 12,–.

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