Wider die dogmatische Wahrheitsemphase

Undogmatische Wahrheitsempathie hilft: eine Replik auf Ulrich H.J. Körtners Artikel „Die letzte Generation?“
Klima-Demo in Berlin 22.10. 2022
Foto: epd
Demonstration von Klimaschützern unter dem Motto #IhrLasstUnsKeineWahl am 22. Oktober 2021 in Berlin.

Gestern äußerte sich der Wiener Theologe Ulrich H.J. Körtner auf zz.net  kritisch zur Nähe der EKD zu den radikalen Klimaschützern der Letzten Generation. Der Theologe Eberhard Pausch, Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Frankfurt/Main, antwortet ihm und setzt Körtners Wahrheitsemphase eine Wahrheitsempathie entgegen.

Ulrich Körtner positioniert sich nicht zum ersten Mal, wie gestern auf zeitzeichen.net geschehen, kritisch gegenüber der EKD und der aktuellen, von rebellischen jungen Menschen geprägten Klimaschutzbewegung. Dabei nennt er ausdrücklich die „Letzte Generation“, die sich mit Aktionen am Rande des oder auch über der Grenze rechtsstaatlichen Verhaltens für ihr Anliegen einsetzen. Körtners Artikel hat im Grunde genommen zwei Teile: einen analytisch-kritischen, sehr langen Hauptteil, den man als „kultur-, kirchen- und bewegungskritisch“ kennzeichnen kann, und einen kurzen, sehr leidenschaftlichen Schlussabsatz, der einen dezidiert theologischen, genauer gesagt: dogmatischen, noch genauer gesagt: „kirchlich-dogmatischen“ (rechts-barthianischen) Charakter hat.

Ich möchte nun genau umgekehrt vorgehen und in folgenden Schritten argumentieren: eine kürzere Stellungnahme zu Körtners „Kultur-, Kirchen- und Bewegungskritik“ und eine längere Argumentation zu seinem dogmatischen Schlussteil, den ich als „wahrheitsemphatisch“ empfinde.

Erstens: Ob „die“ heutige EKD sich mit der „Letzten Generation“ identifiziert, wird sich nicht aus der Tatsache ableiten lassen, dass man einer Vertreterin dieser Bewegung ein Rederecht auf der EKD-Synode eingeräumt hat. Denn „die“ EKD ist nach wie vor ein sehr vielgestaltiges, amorphes, in der Tat auch pluralistisches Sozialsystem, in dem die einzelnen Landeskirchen durchaus sehr unterschiedliche Profile haben – auch hinsichtlich ihrer politischen Positionierung.

Noch weniger vermute ich, dass mit der genannten Aktion ein missionarisches Interesse verbunden war. Auf diese Weise gewinnt man sicherlich keine Gläubigen. Wer dies meinen sollte, den müsste man allerdings als „naiv“ bezeichnen. Erst recht darf und muss sogar die neue Klimaschutzbewegung dort kritisiert werden, wo sie gegen staatliche Gesetze verstößt und die Spielregeln der Demokratie nicht einhält. Dennoch scheint mir die Einsicht schlicht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse unabweisbar zu sein, dass die drohende Klimakatastrophe mit all ihren Risiken und Nebenwirkungen (Klimakriege, Flüchtlingsbewegungen) die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts darstellt und dass ihr mit noch größerer Entschlossenheit und Dynamik begegnet werden muss als bisher. Darauf hinzuweisen, daran zu erinnern, auf politisches Handeln zu drängen, ist das gute Recht nicht nur der jüngeren Generation. Das müsste unser aller Anliegen sein.

Symbolhandlung der Synode

Um es auf drei Forderungen zu reduzieren: Wir müssen das Autofahren, den Flugverkehr und den Fleischverzehr umgehend und drastisch reduzieren! Das ist eine Forderung rein irdischer Vernunft, sie hat mit Religion und mit Christentum zunächst einmal gar nichts zu tun. Mit Luthers klassischer Unterscheidung gesagt, handelt es sich um eine Aufgabe des „weltlichen Regiments“, wobei dieses bereits nach Auffassung der Barmer Theologischen Erklärung nicht nur die „Regierenden“ umfasst, sondern auch die „Regierten“ (These V), will sagen, die ganze Zivilgesellschaft. In einer Demokratie sind erst recht „wir alle“ ständig (und nicht nur an Wahltagen) verantwortlich für die Entwicklung, die unsere Gesellschaft nimmt.

Dass die EKD dies wahrnimmt und das Gespräch mit Vertreter:innen der radikalen Klimaschutzbewegung führt, halte ich für nachvollziehbar. Ob daraus die (symbolisch gemeinte) Forderung nach einem Tempolimit von 100 km/h abgeleitet werden musste, darüber kann man streiten. Es ging wohl wirklich nur um eine Symbolhandlung der Synode. So weit zu Körtners „Kultur-, Kirchen- und Bewegungskritik“.

Zweitens: Damit komme ich zu meinem eigentlichen Disput mit dem Wiener Systematiker. Er bezieht sich auf sein „theologisches Schlusswort“, den letzten Absatz seines Textes. Dieser kulminiert meines Erachtens in der nicht nur polemisch gestellten, sondern sehr ernsthaft gemeinten Frage und abschließenden These:Wer wagt es noch, im Kernbereich des christlichen Glaubens die Wahrheitsfrage zu stellen, die in identitären Diskursen zur Machtfrage mutiert? Hier liegt die eigentliche Herausforderung, der sich die gegenwärtige Generation in Kirche und Theologie zu stellen hat, ganz gleich, ob sie nun die vermeintlich letzte Generation ist oder nicht.“

Mit Körtner gemeinsam lehne ich es dezidiert ab, Wahrheitsfragen durch Machtfragen oder -ansprüche zu ersetzen. Wir sind uns einig in der diesbezüglichen Kritik an „identitären Diskursen“. Den Klimadiskurs sehe ich allerdings nicht als einen „identitären“ Diskurs an. Er thematisiert vielmehr eine menschheitliche Überlebensfrage. Dabei geht es nicht um die Befindlichkeit von Minderheiten oder vermeintlichen Mehrheiten. Aber, wie auch immer: Wahrheitsfragen haben einen anderen Status und dürfen nicht durch Machtfragen okkupiert, mutiert oder eliminiert werden. Was aber ist „die“ Wahrheitsfrage? Schon der Singular weist auf die Emphase hin, die sich für Körtner mit dem Begriff „Wahrheit“ verbindet. Im Kontext seines Textes meint er wohl die „Wahrheit des Evangeliums“, die zu verkünden nach dem „Augsburger Bekenntnis“ von 1530 (Artikel VII) die zentrale Aufgabe der Kirche ist.

Berufung auf Martin Heidegger

In meiner 1992 fertiggestellten Dissertation zu wahrheitstheoretischen und wahrheitskonzeptionalen Fragestellungen habe ich mich explizit – nicht ausführlich, aber deutlich – mit dem Wahrheitsbegriff befasst, den bereits damals Herr Körtner vertrat. Er war – seinerzeit in Anknüpfung an und mit Berufung auf Martin Heideggers Wahrheitskonzeption – sehr breit, weit und emphatisch aufgestellt. Von „hierarchischen Satzwahrheiten“ distanzierte sich Körtner bereits Anfang der 1990er-Jahre sehr klar. Ich habe damals schon in klarer Abgrenzung gegen Heideggers Wahrheitsbegriff, aber im Einklang mit dem Stand der wahrheitskonzeptionalen und wahrheitstheoretischen Analysen und Überlegungen der analytischen Philosophie entgegengehalten: Wahrheit ist ein Prädikat von Sätzen, Aussagen, genauer gesagt: Propositionen (= Aussagen, für die Wahrheit beansprucht wird).

Daher kann man in der Tat von der „Wahrheit des Evangeliums“ sprechen, denn diese beinhaltet Propositionen. Dagegen kann man nicht von der Wahrheit von Konfessionen, Kirchen oder gar Religionen sprechen. Denn diese sind soziale Systeme und damit etwas fundamental anderes und weitaus mehr als bloße Verknüpfungen von Propositionen.

Ich führe dies nun zum Schluss in vier argumentativen Schritten noch etwas weiter aus:

a. Die Rede von der „Wahrheit“ von Religionen (ebenso von Kirchen, Konfessionen, anderen religiösen Subsystemen) ist mindestens ungenau, wahrscheinlich sogar völlig verfehlt. Religionen sind nicht als solche „wahr“, sondern können an der Wahrheit partizipieren, wenn sie wahre Propositionen beinhalten. Religionen können nach Wahrheit suchen und hoffen, dass sie ihnen geschenkt oder erschlossen werden möge. Auch der christlichen Religion bleibt deshalb nur die Perspektive, auf Wahrheit ausgerichtet zu sein, an ihr partizipieren und sich ihr annähern zu können.

b. Das schließt aber nicht aus, dass die christliche Religion das ihr eigene Wirklichkeitsverständnis (das formal gesehen eine kohärente Menge von Propositionen darstellt) als „wahr“ bezeichnet und zumindest diejenigen Wirklichkeitsverständnisse, die dem eigenen kontradiktorisch widersprechen, als „unwahr“ ansieht. Die Wirklichkeitsverständnisse der drei monotheistischen Religionen (zum Beispiel) widersprechen einander nicht notwendig kontradiktorisch, denn es gibt eine Reihe fundamentaler Übereinstimmungen wie: Monotheismus und Schöpfungsglauben. Es gibt zudem auch ganz praktische Schnittmengen wie Gebets- oder Segenshandlungen. Schnittmengenbeziehungen implizieren natürlich nicht Identität. Aber eine Übereinstimmung etwa hinsichtlich des Schöpfungsgedankens und der auf ihm beruhenden menschlichen Verantwortung für die geschaffene Welt könnte in der derzeitigen globalen Bedrohung durch den Klimawandel durchaus hilfreich sein, um über die Grenzen der eigenen – christlichen – Religion hinaus Verbündete im Kampf gegen die Klimabedrohung zu finden.

„Nicht im Besitz der Wahrheit“

c. Religionen sind soziale Systeme, die in der Veränderung begriffen sind. Menschen, Religionsgemeinschaften und Gesellschaften verändern sich ständig, und niemals ist ihnen dabei die Wahrheit ganz erschlossen und sind sie gleichsam in deren Besitz. Für die Christenheit gibt es dafür eine zwingende Begründung, die paradoxerweise gerade von Vertretern des Wahrheitsdogmatismus immer wieder in Anspruch genommen wird: Jesu steiler Satz: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Wie alle biblischen Texte muss auch dieser Satz hermeneutisch reflektiert, historisch-kritisch interpretiert und systematisch-theologisch eingeordnet und bewertet werden. Er besagt aber – entgegen der dogmatistischen Auffassung – jedenfalls nicht, dass die christliche Religion „im Besitz der Wahrheit“ sei. Denn Jesus Christus besitzen, über ihn verfügen kann kein Mensch und keine Religion.

Die dem scheinbar entgegenstehende Aussage, dass der Heilige Geist die Christenmenschen in alle/in die ganze (εἰς τῇν ἀλήθειαν πᾶσαν / ἐν τῇ ἀληθείᾳ πάσῃ)[1] Wahrheit führen werde (Joh 16,13), ist nach Rudolf Bultmanns Auffassung aufgrund des syntaktisch nachgestellten πᾶσαν/πάσῃ eigentlich zu übersetzen: „Der Geist der Wahrheit wird euch jeweils (= πᾶσαν/πάσῃ) in die Wahrheit führen.“[2] Falls Bultmann recht hätte, wäre dies ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass Gott Menschen oder Religionen/Kirchen die Wahrheit nicht zum verfügbaren Besitz gibt. Die Wahrheit bleibt vielmehr unverfügbar, auch wenn sie uns „jeweils“ geschenkt werden kann. Sollte Joh 16,13 (gegen Bultmann) im Sinne einer futurischen Eschatologie zu lesen sein, wäre dies aber ebenfalls mit der hier vertretenen Annahme vereinbar, dass die Wahrheit uns zwar verheißen, aber gerade nicht als Besitz gegeben ist.

d. Weil Religionen hinsichtlich ihrer empirischen Gestalt soziale Systeme sind, definieren sie sich nicht ausschließlich, vielleicht nicht einmal vorrangig, über ihr Verhältnis zur Wahrheit. Das kann für Christenmenschen eigentlich nicht überraschend sein, denn Wahrheit und Wahrhaftigkeit, so wichtig sie im Leben aller Menschen sind, sind nach christlicher Einsicht der Liebe zu subordinieren. Denn selbst „[…] wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. [… Die Liebe] freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit […]. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor 13)

Ich komme zum Schluss: Wer von der Liebe her auf die Wahrheit hin denkt, der wird nicht so sehr wahrheits-emphatisch argumentieren wollen als vielmehr wahrheits-empathisch. Die Positionierung des einen „h“ in diesen beiden Wörtern markiert dabei einen fundamentalen Unterschied. Empathisch, also sensibel und einfühlsam, sollten wir den Klimaschützer*innen begegnen. Denn diese begründen ihren (durchaus in Teilen kritikbedürftigen) Aktivismus mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die mindestens ebenso sehr „Wahrheit“ beanspruchen können wie diejenigen religiösen Propositionen, aus denen das Evangelium sich konstelliert. Wahrheits-empathisch und daher undogmatisch sollten wir mit den Klimaaktivist*innen umgehen und deren höchst berechtigte Anliegen wahrnehmen – und, wo immer möglich, in politisches Handeln umsetzen.

 

[1] Je nach Lesart – entscheidend ist für Bultmanns Argument das syntaktisch nachgestellte Wörtchen „πᾶσαν/πάσῃ“. (Heute liest man: ἐν τῇ ἀληθείᾳ πάσῃ).

[2] Rudolf BULTMANN: Das Evangelium des Johannes. Studienausgabe, 20. Aufl. (1. Aufl. 1941) Göttingen 1985, 442.

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