Gefährlicher Präzedenzfall

Warum Gottesdienste auch in unruhigen Zeiten live und öffentlich bleiben müssen
24. Dezember 1967: Eine Frau sitzt an Heiligabend neben einem geschmückten Christbaum.
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24. Dezember 1967: Eine Frau sitzt an Heiligabend neben einem geschmückten Christbaum.

Am Heiligabend sollte eine Christvesper aus Stuttgart live im Fernsehen übertragen werden. Angehörige der Gruppe „Letzte Generation“ hatten angekündigt, den Gottesdienst mit einer Aktion zu stören. Daraufhin wurde der Gottesdienst klammheimlich tags zuvor aufgezeichnet und dann – ohne dieses offenzulegen – ausgestrahlt. Das geht so nicht, findet der WDR-Journalist, Theologe und EKD-Synodale Arnd Henze.

Es begab sich zu der Zeit des Vietnamkriegs, dass eine Gruppe der Evangelischen Studentengemeinde im Jahre 1967 in die Christvesper der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eindrang und mit Fotos von Opfern des Vietnamkrieges und einem Bibelvers die weihnachtliche Gemütlichkeit störte: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."

Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel wurde das damals so beschrieben: "Erst wurden Rufe laut: ,Wascht euch erstmal‘, ‚Raus ihr Schweine‘. Sodann säuberten Kirchendiener und Kirchenbesucher das Gotteshaus. Sie entrissen den acht unerwünschten Kirchgängern die Plakate, boxten sie zum Ausgang und traten den Matthäus-Vers mit Füßen. „Der Versuch von Rudi Dutschke, zur Gemeinde zu sprechen, kam nicht über "Liebe Schwestern und Brüder" hinaus. Dann konnte ihn auch ein Sprung über die Kanzel nicht vor der Prügel der frommen Protestanten und der Krücke eines Kriegsveteranen retten. Für den Studentenführer endete die Aktion im Krankenhaus. "Die Gedächtnis-Gemeinde, wieder unter sich, sang andächtig "Freue dich, du Christenheit", hält Der Spiegel fest.

Die RAF gab es damals noch nicht, aber von "Terror" war trotzdem in Politik und Medien die Rede. Doch es gab auch andere Stimmen. Der Theologe Helmut Gollwitzer predigte am Tag nach dem Eklat: „Das Schlimmste scheint mir zu sein, dass eine christliche Gemeinde ihre Weihnachtsruhe und Weihnachtsstimmung verteidigt gegen alles, was sie dabei stören will... und sei es gegen Jesus selbst.“ Denn wer „mit Christus zu tun haben will, darf am Grauen des Krieges in Vietnam nicht vorbeigehen. Für den damaligen Berliner Bischof Kurt Scharf war der geballte Hass gegen die Störer des Gottesdienstes gar der Auslöser, sich von da an mit voller Kraft als Vermittler zwischen der Protestbewegung auf der Straße und der aufgebrachten etablierten Stadtgesellschaft zu engagieren.

„Neben die Krippe stellen“

Was sich am Heiligabend 1967 in der Gedächtniskirche abspielt, erscheint wie ein Film aus einer anderen Zeit. Nichts davon hat sich in der Christvesper 2022 in der Stuttgarter Auferstehungskirche wiederholt und nichts hätte sich wiederholen sollen. Dabei gab es schon Tage zuvor Hinweise, dass es zu einer Störung des Fernsehgottesdienstes durch junge Aktivisti der Gruppe "Letzte Generation" kommen könnte. Und tatsächlich teilte die Gruppe am 1. Weihnachtstag mit, dass zwei ihrer Mitglieder vorhatten, am Gottesdienst teilzunehmen, um sich dann in orangener Warnweste zum Protest gegen die Klimazerstörung neben die Krippe zu stellen. Damit nahmen sie ausdrücklich auf die öffentliche Einladung zu diesem Gottesdienst Bezug: "Neu geboren wird Jesus auch in eine Welt, in der das Lebensgefühl von den Krisen unserer Zeit geprägt ist. Deshalb lädt der Gottesdienst alle dazu ein, sich zur Krippe zu stellen und Hoffnung auf einen Neubeginn zu tanken."

Eine weitergehende Störung war nach Darstellung von LG ausdrücklich nicht geplant. Da die Aktivisti auf radikale Transparenz bei ihren Aktionen setzen, gibt es auch keinen Grund anzuzweifeln, dass sich die Störung tatsächlich auf ein solches stummes Zeichen beschränkt hätte. Niemand hat also einen Gottesdienst "stürmen" wollen, wie der Bundesjustizminister reflexhaft auf Twitter beklagte.

Wir werden trotzdem nie erfahren, wie sich Protest und Reaktion der Gemeinde im Jahr 2022 von der vor genau 55 Jahren unterschieden hätte, denn es wurde entschieden, die Christmette am Heiligabend ausfallen zu lassen und für das Fernsehen bereits am Vorabend aufzuzeichnen. Die Zuschauer an den Bildschirmen bekamen von all dem nichts mit – man sah glückliche Kinder, hörte die Weihnachtsgeschichte und war mitten drin in der Heiligen Nacht. Kein Hinweis machte transparent, dass das Hier und Jetzt des Weihnachtsgeschehens nur simuliert und als Konserve ausgestrahlt wurde.

„Zumindest irritiert, vielleicht sogar verängstigt“

Bekannt - und dann auch schnell zum Medienereignis - wurde es erst am Tag darauf durch den Polizeibericht. Erst mit Verzögerung reagierte der Sprecher der Landeskirche. Man habe "an Heiligabend die Botschaft der Freude, des Friedens und der Hoffnung verbreiten" wollen und nicht einer Gruppe, „deren Motive Angst und Panik sind, ein Podium mit großer Reichweite" bieten wollen. Darüber hinaus habe man damit rechnen müssen, dass die mitwirkenden Kinder „zumindest irritiert, beim notwendigen Eingreifen vielleicht sogar verängstigt würden“.

Das sind gewichtige Argumente für die Verlegung. Hinzu kommt, dass man natürlich nicht ausschließen konnte, dass sich die Aktivisti über den stummen Protest hinaus auch lautstark zu Wort melden oder an der Kanzel ankleben könnten. Für den zusätzlichen Stressfaktor vor dieser Christvesper habe ich deshalb großes Verständnis. Dennoch halte ich die Absage des öffentlich angekündigten Live-Gottesdienstes und die Flucht in eine Aufzeichnung für ein No Go, denn es war eben nicht das erste Mal, und es wird nicht das letzte Mal sein, dass Aktivisti versuchen werden, die öffentliche Bühne eines Fernsehgottesdienstes zu nutzen und auch gezielt die Kirchen herauszufordern. Wenn Letzte Generation diesmal gescheitert ist, werden sie es an anderer Stelle erneut versuchen. Auch vor dem Eröffnungsgottesdienst der EKD-Synode gab es die Sorge vor Störungen. Auch mancher Pfarrer und manche Bischöfin wird sich an diesem Heiligabend überlegt haben, wie er oder sie reagieren würde, wenn Klimaktivisten die vollbesetzte Kirche für eine Protestaktion genutzt hätten. Es gibt im Übrigen ja nicht nur Letzte Generation, sondern auch viele andere potenzielle "Störer".

 Will man in Zukunft alle Fernsehgottesdienste als Konserve aufzeichnen? Oder soll es in Zukunft Eintrittskarten, Ausweis- und Taschenkontrollen und Körperscanner geben? Kurz: der eingeschlagene Weg würde das Verständnis vom öffentlichen Gottesdienst fundamental verändern! Viel wichtiger ist deshalb die Frage: Was wäre der maximale Schaden, wenn sich in einem öffentlichen Gottesdienst zwei oder drei Aktivisti mit einem Transparent an die Kanzel oder die Krippe geklebt hätten? Ja: es wäre eine Störung. Sie wäre ärgerlich und je massiver die Protestierenden aufgetreten wären, desto weniger Sympathien würden sie wecken.

„Hoffnung auf einen Neubeginn tanken“

Wir würden aber möglicherweise auch sehr verletzliche junge Menschen aus oft sehr protestantisch geprägten Bildungsbürgerfamilien erleben, die unendlich viel bescheidener und behutsamer auftreten würden, als es dem medialen Bild von der "Klima-RAF" entspricht. Und vor allem: Es wäre eine Aktion, deren größter Skandal darin bestanden hätte, dass junge Menschen die Einladung ernst genommen hätten und sich mit ihren ganz realen Sorgen vor den Krisen der Welt tatsächlich schüchtern „zur Krippe zu stellen und Hoffnung auf einen Neubeginn zu tanken“ (siehe oben). Wo kämen wir dahin, wenn jeder den vollmundigen Kirchensprech wörtlich nehmen würde!

Gerade, weil man sich in Stuttgart auf eine mögliche Aktion vorbereiten konnte, hätte man die Störung vermutlich mit einer kurzen, sorgsam formulierten Intervention der Pfarrerin oder einer anderen Person aufnehmen, die stumme Präsenz der Aktivisten hinnehmen und mit dem Angebot eines Gespräches nach dem Gottesdienst deeskalieren können. Den ersten Moment der Irritation hätte man mit einem kräftigen Gemeindelied überbrücken können. Ein kleines Kriseninterventionsteam hätte sich in dieser Zeit mit den Aktivisti verständigen können, wie ihr Anliegen so aufgenommen werden kann, dass eine Störung des Ablaufs vermieden wird. Im konkreten Fall hätte man den stummen Protest sogar als wörtliche Auslegung der Einladung dulden und deutlich machen können, wie die Sorge um das Klima in den Fürbitten aufgenommen wird. Im Gelingensfall hätte der Umgang mit einer solchen "Störung" ein Exempel für gewaltfreies Konfliktmanagement zu einem hoch kontroversen gesellschaftlichen Streitthema geliefert. Das Fernsehpublikum hätte davon nur wenig mitgekommen, weil die Kameras sich auf den weiteren Weihnachtsgottesdienst konzentriert hätten. Der Anreiz, die Störung bei nächster Gelegenheit nachzuholen, wäre genommen.

Ich will nicht bestreiten, dass es auch anders laufen kann. Und natürlich gibt es Szenarien, auf die man auch konsequent mit dem Hausrecht reagieren muss - dann nämlich, wenn es nicht um legitime Sorgen, sondern um Menschenfeindlichkeit oder gar konkrete Bedrohungen geht. Oder wenn die Störer tatsächlich keinerlei Bereitschaft zeigen, die Würde eines Gottesdienstes zu respektieren.

„Sternstunde kirchlicher Streitkultur“

Das klingt blauäugig, ist aber an vielen Orten immer wieder erfolgreich erprobt worden. Die Evangelische Akademie Loccum hat zum Beispiel immer wieder in Kauf genommen, dass ihre Tagungen zu hochkontroversen Themen tatsächlich von Aktivisten gestürmt worden, die weitaus militanter auftreten, als die Aktivisti von Letzte Generation. Legendär zum Beispiel der Versuch, in den Hochzeiten der Hausbesetzerbewegung in den 1980er-Jahren in Berlin Hausbesetzer mit dem Berliner Innensenator Lummer in den öffentlichen Dialog zu bringen. Als die autonome Szene von Hannover anrückte, um die Tagung zu sprengen, zog sich der Senator mit seinen Personenschützern zum Skat in die Küche zurück, während im Saal sehr heftig über Dialog und offene Gesellschaft gestritten wurde. Nach einer Stunde zogen die Aktivisti ab. Die Debatte mit Lummer wurde bis in den späten Abend fortgesetzt, sein Skatspiel Jahre später für einen guten Zweck versteigert. Es war eine Sternstunde kirchlicher Streitkultur, wie es sie auch auf Kirchentagen immer wieder gab und gibt.

Ich selbst habe über 20 Jahre beim "Dellbrücker Forum" in der Kölner Christuskirche Streitgespräche moderiert. Warnungen für Störern gab es immer wieder, gelegentlich auch Versuche. Bei besonders heiklen Themen hatten wir immer jemanden an der Orgel sitzen, der bei Bedarf mit allen Registern ein Lied angestimmt hätte. Gescheitert ist von den 111 Veranstaltungen nur eine: da ging es um den Umgang mit Kampfhunden.

Diese Bereitschaft zum Risiko und zur Auseinandersetzung kann und soll nicht Maßstab für Gottesdienste sein. Es darf weder eine Ermutigung noch ein augenzwinkerndes Zulassen von externen Interventionen und Protest geben. Und wenn es zu Störungen kommt, muss besonnen und deeskalierend reagiert werden, ohne dabei das Heft des Handelns aus der Hand zu geben. Lernen können wir dabei zum Beispiel von der souveränen Gelassenheit, mit der man in der Hamburger Elbphilharmonie auf das Ankleben am Dirigentenpult reagiert hat. Ich bin sicher: das können wir als Kirche auch - und wo wir es uns noch nicht zutrauen, können wir es lernen! Die Christvesper am Heiligabend darf deshalb kein Präzedenzfall werden.

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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