Von Rammstein bis Jesaja

Wieder ein Weihnachten in Krisenzeiten. Aber es gibt auch Gutes zu entdecken.
Foto: privat

Bei den letzten Gängen des Jahres begleitet mich derzeit das neue Rammstein-Album. „Adieu, Goodbye, auf Wiedersehen“ singt die Band da in einem Musikfilm mit Kirchengesang, Knallerei, Bombast und Schrecken. Film und Lied evozieren Nachdenklichkeiten über digitalisierte Kriegsführung, Trauerarbeit und Kryonik, also das Einfrieren von Menschen zum Zwecke der Wiederbelebung in ferner Zukunft.

Nur der Tod währt alle Zeit, er flüstert unterm Tannenzweig“, ist auch eine krasse Zeitansage zum diesjährigen Weihnachtsfest, selbst wenn man dem Tod, der alles in sein Dunkel zieht und die Sonne zum Verglühen bringt, die christliche Hoffnung entgegenhalten kann. So ganz einig ist sich Rammstein denn auch nicht: „Den letzten Weg musst du alleine gehen“ wird zwar verkündet, aber eben auch: „Doch du wirst immer bei uns sein“ und „Fleisch vergeht, Geist wird sich heben“. Für theologische Gedankengänge ist das Lied höchst anknüpfungsfähig.

Advents-, Weihnachts- und Jahreswendelieder aus dem Evangelischen Gesangbuch enthalten ebenfalls eine ordentliche Portion Tod und Sterben. Als dramaturgische Kontrastfolie sicher, aber eben auch aus satter Lebenserfahrung, sei es bei Jochen Klepper, Dietrich Bonhoeffer oder Paul Gerhardt. Man übersingt das ja so schnell, aber eigentlich sind die Gesangbuchverse drastischer als die von Rammstein: „Ich lag in tiefster Todesnacht“, „und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand“, „noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld“.

Ja, das wird dann aufgelöst: „Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld“, „so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand“, „du warest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne“. Bei Rammstein liegen dagegen am Ende alle tot auf dem Schlachtfeld des Lebens. Ich weiß schon, welcher Weltdeutung ich lieber zuneigen will.

Das Gute entdecken wollen

Adieu, Goodbye, auf Wiedersehen 2022! Für viele Menschen stelltest Du, glaubt man ihren Selbstauskünften, eine Herausforderung dar, gewohnte Gewissheiten in Frage zu stellen. Andere haben in den vergangenen Monaten die Chance ergriffen, ihre Überzeugungen einfach nur laut und lauter zu äußern. Manche, weil sie den Eindruck gewinnen, ihre Ansichten seien jetzt wieder en vogue.  

„Die Zeit mit Dir war schön“, wird man über 2022 wohl kaum sagen können – global gesehen. Dem Wahnsinn der Welt mit Ukraine-Krieg, Klimakrise, Iran-Revolution und Pandemie stehen im vermeintlich Kleinen, im Privatleben und in der unmittelbaren Umgebung, hoffentlich positive Erlebnisse entgegen. Im Jesajabuch heißt es ja auch: „Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren …“

Wer das Gute entdecken will, muss schon genau hinschauen, meint der Zyniker, aber eigentlich muss man schon mit Blindheit geschlagen sein, um die abertausenden Beispiele couragierten Handelns, Zeichen der Nächstenliebe und Güte nicht zu sehen, die uns inmitten all des Leids eben auch umgeben. Uns mehrfach privilegierte und reiche Deutsche sowieso.

Selbst weltpolitisch ist dieses Jahr auch viel Gutes geschehen: Die christlich-nationalistischen Fanatiker in den USA haben bei den Midterm-Elections Niederlagen eingefahren. In Brasilien wurde Jair Bolsonaro abgewählt. Das ist gut für das Land, den Regenwald und das Klima. Im Iran und offenbar auch in Afghanistan stellen Menschen sich mit unglaublichem Mut der islamistischen Gewaltherrschaft entgegen. Die Ukraine hält dem russischen Angriff stand.

Der „heiße Herbst“ ist als Flächenbrand ausgeblieben, die überbordende Mehrheit der Menschen in Deutschland hält sich äußerst stabil in den multiplen Krisen. Wenn irgendwer das noch der CDU erklärt, könnte es sein, dass sie im nächsten Jahr sogar mit Politik aufwartet. Schließlich muss es doch auf die zahlreichen Probleme unserer Gesellschaft vom Gesundheits-, über das Bildungssystem bis hin zur Investitionspolitik auch christdemokratische Antworten geben, oder?

Gott befohlen!

„Die Seele zieht auf stille Reise“ und ich frage mich also am Ende dieses Jahres: Was wird bleiben und was wird gehen? Was nehme ich aus diesem Chaos-Jahr mit? Was darf gerne mit dem Jahr 2022 in der Vergangenheit verblassen?

Ich erinnere mich an eine Anekdote, die Flake, der Keyboarder von Rammstein, mal erzählt hat: Er nimmt auf Flugreisen seiner Flugangst wegen immer ein Stück von einem Flugzeug mit, das schon mal abgestürzt ist. Seine Ratio: Sehr, sehr unwahrscheinlich, dass das nochmal abstürzt. Oder wie Paul Gerhardt dichtete: „Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen: dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.“

Hat am Ende nicht auch Rammsteins Lied einen programmatischen Titel? „Adieu“, zu Gott, Gott befohlen, Gott ans Herz gelegt. Das ist zur Weihnacht und zur Jahreswende doch ein frommer Wunsch: „So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Adieu, Goodbye, auf Wiedersehen im Jahr 2023!

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