Missbrauch mit Gott

Religiöse Traumatisierung zerstört Vertrauen und Selbstwert
Trauma oder Gotteserfahrung? Karl Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913), „Du sollst nicht töten!“ (1906).
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Trauma oder Gotteserfahrung? Karl Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913), „Du sollst nicht töten!“ (1906).

Geistliche Führungsfiguren können großen Einfluss auf die Mitglieder einer Gemeinschaft ausüben, manchmal auch zu ihrem Schaden. Michael Utsch, Psychotherapeut und Religionspsychologe, beschreibt im folgenden Text, wie es zu religiösen Traumatisierungen kommt und wie sie behandelt werden können.

Vertrauen ist die Währung unseres sozialen Miteinanders und schützt vor existenzieller Isolation. Wir werden zwar einzeln geboren und müssen unseren je eigenen Tod sterben. Dazwischen aber sehnen wir uns nach Sicherheit im Unbehausten, benötigen Geborgenheit in einer bedrohlich kalten und fremden Welt, schaffen uns wohnliche Heimstätten auf der Durchreise. Wird dieses Grundbedürfnis enttäuscht oder gar missbraucht, gerät unser Welt- und Menschenbild ins Wanken. Das gilt besonders für religiöse Vertrauenspersonen und Vertreterinnen und Vertreter religiöser Institutionen.

Dem geistlichen Leiter wird in allen religiösen Systemen großes Vertrauen entgegengebracht. Er gilt als Mittler der höheren Wirklichkeit, aus der er oder sie besondere Einsichten und Glaubensfrüchte verfügbar machen kann – absolute Hingabe vorausgesetzt. Eine als geistlich „vollmächtig“ erscheinende Person versteht es, Druck und Macht über andere Gemeindeglieder auszuüben. Zutreffend beschreibt der Münchner Psychiater Werner Huth: „Die Macht des charismatischen Führers gründet vor allem darauf, seine Person in aller Reinheit erstrahlen zu lassen. So wird er zur vollkommenen Personifikation vor allem der Verlässlichkeit, so wie es die idealisierte Elternfigur für das Kleinkind war.“

Religiös legitimierte Macht ist in allen Glaubensrichtungen sehr wirksam – und hoch gefährlich, weil sie leicht übergriffig werden kann. Besonders unsichere und seelisch unreife Leitungspersonen sind gefährdet, ihre eigenen Schwächen mit der machtvollen Leitungsrolle zu kaschieren. Ein Beispiel von vielen ist Sogyal Lakar (1945 – 2019), der Gründer und Leiter des Vereins für tibetischen Buddhismus „Rigpa“. Das internationale Netzwerk ist in dreißig Ländern vertreten, in Deutschland gibt es 19 Zentren. 1982 veröffentlichte er Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, das auf dem tibetischen Totenbuch basiert und millionenfach in dreißig Sprachen und 59 Ländern erschienen ist. Es zählt zur Standardliteratur für die Sterbebegleitung in der Hospizarbeit und Palliativmedizin.

Bestürzter Dalai Lama

Nach Gerüchten von übergriffigen Verhaltensweisen haben 2017 acht langjährige Schüler konkrete Vorwürfe und Anklagen gegen ihren Lehrer im Internet veröffentlicht. Sie werfen ihm körperliche Gewalt und sexuellen Missbrauch in einer Vielzahl von Fällen und über Jahrzehnte hinweg vor. Darüber hinaus wird Sogyal Lakar ein verschwenderischer Lebensstil vorgehalten, der mit den Spenden seiner Schülerinnen und Schüler finanziert worden sei und nicht einem spirituellen Meister entspreche. Der Dalai Lama äußerte sich bestürzt darüber, dass sein sehr guter Freund den Buddhismus beschmutzt habe.

Die Enthüllung sexualisierter Gewalt auch innerhalb vieler christlicher Gemeinden und Verbände hat in den vergangenen Jahren zu einem massiven Gesichtsverlust und Vertrauensbruch der Kirchen in der Öffentlichkeit geführt. Verdeckter und vertuschter systemischer Missbrauch entzieht einer Organisation die Glaubwürdigkeit, in einer säkularen Gesellschaft eine Rolle als ethisch-moralische Orientierungsagentur einzunehmen. Die öffentliche Empörung über diesen Skandal ist verständlich, denn das Vertrauen in das Ideal einer vorbildlichen und „heilen“ Gemeinschaft wurde zerstört.

Bei den intensiven Bemühungen der Kirchen, die Ursachen für sexualisierte Gewalt in ihren Reihen zu verstehen und Präventionsmaßnahmen einzurichten, rückt zunehmend der verantwortliche Umgang mit Macht in den Mittelpunkt. Dabei kommt ein erschreckendes Ausmaß an Machtmissbrauch von Mitarbeitenden in Kirche und Diakonie zum Vorschein, der bis zu sexuellen Übergriffen reichen kann. Aber auch ohne diese konkreten Verbrechen ist spiritueller Missbrauch so schädlich, dass manche Betroffene als letzten Ausweg den Suizid wählen. Durch übergriffiges und strafbares Verhalten christlicher Leiter werden die biblische Lehre und der ethisch-moralische Anspruch von Liebe und Nächstenliebe in ihr Gegenteil pervertiert.

Macht und Religion

Macht und Religion hängen eng miteinander zusammen. Aus psychologischer Sicht werden religiöse Rituale wie etwa ein Gebet dazu verwendet, sich in einer Situation eigener Ohnmacht an eine höhere Macht zu wenden und von dort Hilfe zu erhoffen. Seit jeher übernehmen religiöse Spezialisten die Vermittlerrolle zur höheren Macht. Sie werden von den Glaubenden dazu ermächtigt, die höhere Macht stellvertretend als Sprachrohr und Hand Gottes unmittelbar erfahrbar zu machen. Im Namen Gottes wird religiöse Autorität etabliert und in menschliches Leben eingegriffen. Diese Pastoralmacht (Michel Foucault) kann den Gläubigen enorm entlasten und unterstützen, sie kann aber auch missbräuchlich angewendet werden. Betroffene erleben den geistlichen Missbrauch als religiöse Traumatisierung.

In der Medizin wird mit Trauma eine Schädigung des Organismus durch Gewalteinwirkung (Wunde, Verletzung) bezeichnet. Eine seelische Traumatisierung liegt vor, wenn eine bedrohliche Situation individuell nicht bewältigt werden kann, Hilflosigkeit auslöst und eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnissees bewirkt. Die amerikanische Psychologin Marlene Winell hat den Begriff „religiöses Trauma-Syndrom (RTS)“ geprägt. Die Symptome ähneln einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei der vor allem Angstzustände, Selbstzweifel und Gefühle der sozialen Unzulänglichkeit ausgeprägt sind. Hier beziehen sie sich aber auf die Folgen eines religiös übergriffigen Verhaltens und betreffen vier Störungsbereiche. 1) kognitiv: Verwirrung, Unfähigkeit zu kritischem Denken, Schwarz-Weiß-Denken, Selbstabwertung, Perfektionismus, Entscheidungsschwäche; 2) sozial: Isolation, soziale Unbeholfenheit, Zerrüttung der Familie, sexuelle Schwierigkeiten; 3) kulturell: Fremdheit der säkularen Welt, Anschlussschwierigkeiten, Bildungslücken; 4) emotional: Depression, Angst, Wut, Trauer, Scham, Einsamkeit, Sinnverlust.

Wenn etwa ein Kind in einer geschlossenen religiösen Gruppe aufwächst, entsprechende Bindungserfahrungen macht und in einem rigiden Weltbild aufwächst, werden die damit einhergehenden Emotionen gespeichert. Wenn es dann, oft erst nach Jahrzehnten, zu einem Bruch und Austritt kommt, sind körperliche sowie psychosomatische Stressreaktionen und Gedächtnisstörungen häufig zu beobachten. Momentan werden vor allem gestörte Gedächtnis- und Lernprozesse als Erklärungsmodell für eine Traumatisierung herangezogen. Weil jedes religiöse Weltbild eine umfassende Lebensdeutung liefert, führt eine Loslösung davon zu einer existenziellen Unsicherheit, die nach kurzer Zeit zu einer Traumareaktion führen kann.

Zwölf Merkmale

Eine umfangreiche Studie von Myriam Thoma (Universität Zürich) hat 2022 das Wohlbefinden ehemaliger Mitglieder deutschsprachiger christlich-fundamentalistischer Gruppen nach ihrem Ausstieg untersucht (622 Personen, Durchschnittsalter 41; davon zwei Drittel weiblich, 68 Prozent Zeugen Jehovas, neun Prozent Freikirchen, drei Prozent Pfingstgemeinden, zwanzig Prozent andere Gemeinschaften). Dabei stieß sie auf große Unterschiede bei der religiösen Traumaverarbeitung. Nur ein Viertel der Befragten hat die Gruppenzugehörigkeit unbeschadet überstanden und wurde als „resilient“ eingestuft. Ein Drittel der Befragten hat diese Zeit als „verletzlich“ ohne bleibende Schädigungen erlebt, jeder Zehnte jedoch als schädlich. Es waren vor allem personale Faktoren, die eine Traumatisierung verhinderten oder zur Folge hatten.

Spiritueller Missbrauch wird von den britischen Psychologen Oakley und Humphreys als eine Form von emotionalem Missbrauch beschrieben. Er zeichnet sich durch ein systematisches Muster von Zwangs- und Kontrollverhalten in einem religiösen Kontext aus. Auf der Grundlage von empirischen Studien an Mitgliedern der anglikanischen Kirche beschreiben die beiden Psychologen spirituellen Missbrauch anhand von zwölf Merkmalen. Die ersten acht beziehen sich auf Zwang und Kontrolle (Manipulation, Ausbeutung, erzwungene Rechenschaftspflicht, Zensur, Gehorsam, Verschwiegenheitspflicht, Angst und Isolation). Die restlichen vier beleuchten spirituelle Aspekte: Kontrolle durch die gottähnliche Position, Missbrauch heiliger Schriften, den Anspruch, Gottes Willen zu kennen, Androhung spiritueller Konsequenzen. Spiritueller Missbrauch ist in der Regel die Voraussetzung dafür, dass sexueller Missbrauch im religiösen Kontext möglich wird.

Die Psycholgin Katharina Meredith war selbst acht Jahre Mitglied einer spiritistischen Gruppe und unterstützt jetzt als Beraterin Ausstiegswillige aus destruktiven Gruppen. Sie weist in ihren Vorträgen und Interviews auf die problematischen Bindungserfahrungen in geschlossenen Gruppen hin. Im Rückgriff auf die psychologische Bindungsforschung erläutert sie, wie eine geschlossene Gruppe zunächst Schutz, Sicherheit und Sinnorientierung bietet. Das Erleben von Verständnis, Angenommensein und Akzeptanz stehe zu Beginn gänzlich im Mittelpunkt und überdecke kritische Signale. Der Druck, die unerfüllbaren Ansprüche, das Schwarz-Weiß-Denken, die zunehmende Isolierung und die Unterdrückung von Zweifeln und anderen Gefühlen, die als Warnsignale dienen könnten, kämen erst später. In der Arbeit mit ehemaligen Mitgliedern streng religiöser Gruppen komme es darauf an, gestörte Bindungserfahrungen nachreifen zu lassen. Vor allem müsse daran gearbeitet werden, mehr Grundvertrauen, Eigenständigkeit und ein stärkeres Gefühl der Selbstwirksamkeit zu erwerben.

Für Traumatisierte wird vor allem der Vertrauensverlust zum Problem. Den eigenen Gefühlen und Fähigkeiten, den Mitmenschen und dem Sinn im Leben wird misstraut. Das brüchig gewordene Vertrauen in die Welt weitet sich bei der religiösen Traumatisierung auf Gott aus. Wenn der frühere Glaube sich als Irrtum und soziale Manipulation entpuppt, auf wen ist dann noch Verlass? Wie groß ist der eigene Anteil an dem Bruch, wie groß die eigene Schuld? Wer ist jetzt noch vertrauenswürdig, wer kann noch helfen? Hier sind religionssensible Psychotherapeuten gefragt, um den psychospirituellen Knoten der religiösen Traumatisierung zu entflechten, Seelisches und Geistliches voneinander zu trennen und angemessen zu behandeln.

Psychologische Echtheitsprüfung

Aber auch für die Täter ist psychotherapeutische Arbeit unverzichtbar. Experten mit therapeutischen Erfahrungen mit Tätern im kirchlichen Raum unterscheiden die drei Gruppen pädophil, narzisstisch und emotional unreif Gefährdete. Der psychologische Blick kann helfen, Gefährdungen geistlichen Machtmissbrauchs rechtzeitig zu erkennen und Prozesse anzustoßen, in der Persönlichkeitsentwicklung und Gottesbeziehung wachsen. Ohne die psychologische Echtheitsprüfung des Glaubens können Leitende sonst schnell die schädigenden Nebenwirkungen unbewusster Bedürfnisse ihrer Person übersehen.

Geschlossene Gruppen können also ein gefährlicher Nährboden für Machtmissbrauch sein, wenn die leitende Person nicht ihre eigenen Schattenseiten kennt. Manche Gruppenleiter sind den Erwartungen, Übertragungen und Ansprüchen an sie seelisch nicht gewachsen. Die enthusiastische Dynamik einer schnell angewachsenen Gruppe kann einen charismatisch begabten Leiter überfordern. Während in professionellen Schüler-Lehrer-Zusammenhängen gezielte Weiterbildungen, Supervisionspflicht, Beschwerdestellen und andere Qualitätssicherungsmaßnahmen etabliert sind, wurden diese in religiösen und kirchlichen Kontexten erst vor kurzem eingeführt. Hier besteht innerhalb vieler Kirchen und Gemeinden noch Handlungsbedarf. 

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