Geklebtes Glück

Ein Lebenssouvenir als Tagtraumschule
Foto: Privat

Die Nase muss trainiert sein, um es herauszuriechen: Noch immer atme ich sehr feine Spuren von UHU Alleskleber ein, wenn ich das Bilderbuch in die Hand nehme und daran schnüffle – nach über vierzig Jahren ist UHU noch präsent. Nachhaltige Qualität. Meine Alterskohorte gehört zur Generation Faller, ich habe während der langen Winter im gemäßigten Norden ganze Städte aus Plastikteilen für die Märklin-Eisenbahn zusammengeklebt, die Häuser beleuchtet, Riesenräder in Schwung gebracht und Mühlräder (ein Höhepunkt war der Einbau der Wasserpumpe) in Bewegung gesetzt. Und stets in Hand-Nähe eine große schwarz-gelbe Tube UHU. Schwarz gelb. Wahrscheinlich war es die frühjugendliche Prägung durch die Kombination dieser zwei Farben, die mich zum Fan von Borussia Dortmund machten. Später habe ich wegen des Torwarts Sepp Meier, der Katze von Anzing, sehr offensiv mit dem FC Bayern geflirtet. Aber stets mit schlechtem Gewissen.

Es war ein Geburtstagsgeschenk meines engsten Freundes, Friedhelm, der mir das Einklebebuch mit den ersten fünf Päckchen Fußball-Sammelbildern mit einer leichten Verbeugung überreichte. Hannes Löhr vom 1. FC Köln war der erste Fußballer, den ich einklebte – perfekt einklebte, dank der Expertise, die ich bereits mit UHU erworben hatte. Meine Großmutter, eine für mich bis zu ihrem Tod stabile Resonanzachse, schaute mit leichtem Widerwillen auf das Geschenk. Auch ich, ihr Lieblingsenkel, zählte ab jetzt zu den Bilderfreunden, eine Wende, die ihr als gestandene reformierte Christin, als Calvinistin, die das alttestamentliche Bilderverbot sehr ernst nahm, missfiel. Sie hatte bereits einen ganzen Sommer ihres Missvergnügens hinter sich, weil die jüngere meiner beiden älteren Schwestern eine ganze Wand ihres ehemaligen Spielzimmers mit Autogrammkarten bestückt hatte: Lena Valeitis, Gitte, Chris Andrews, Ricky Shane, Bata Illic, Ester Ofarim, Dunja Rajter, Daliah Lavi, Peggy March, Katja Epstein, Siw Malmquist, Adam und Eve, Mary Roos, Dorthe, Peter Orloff, Vicky Leandros, Ulla Norden, Ramona, Peter Rubin, Graham Bonney, Miguel Rios, Colin Wilkie und Shirley Hart, Olivia Molina. Meine Großmutter weigerte sich das Zimmer zu betreten, solange Karla hunderte von goldenen Kühen aufhänge. Und Heiligenbildchen gäbe es im Katholizismus, nicht bei uns. Es verdross sie, wenn sie mitbekam, wie mein Vater sehr freizügig Karla Briefmarken für die Rücksendungen der Autogrammkarten aushändigte und jetzt meine Mutter mir Groschen für Fußballbildchen zusteckte.

Bergmann-Verlag. Fußball Bundesliga, Saison 1968/69, privat
 

Es war jedes Mal ein kleines Fest, wenn das Geld wieder für fünf Päckchen reichte und ich zum Lebensmittelgeschäft um die Ecke rannte. Das Glück sprang mich an, wenn kein bekanntes Gesicht auftauchte, leichte Enttäuschung kroch hoch, wenn gleich zwei Karten hintereinander auf den Stapel der Doppelbilder landeten. Wir, Friedhelm und ich, haben auf den Schulwegen im Bus nicht einfach die doppelten Karten gegen andere getauscht, sondern einen Wettkampf daraus gemacht: Wer ist Fritz Kosar? Wie heißt der zweite Torwart hinter Bernd Helmschrot bei Alemannia Aachen? Bei welchem Verein spielte Hans-Jürgen Krumnow? Und wo Manfred Manglitz? Und was ist mit Willi Rodekurth? Die letzten fünfzig Bilder konnte man gegen Geld beim Verlag bestellen. Friedhelm und ich waren ungefähr zum gleichen Zeitpunkt so weit, wir gaben zusammen die Bestellung auf und verschenkten den inzwischen mächtigen Kartenstapel mit den Doppelbildern an andere Freunde.

Wir, Friedhelm und ich, hielten eine echte Trophäe in Händen, noch vor Abschluss der Saison. Wir waren Deutscher Meister. Nie gab ich das Bilderbuch aus den Händen, meine Schwester Karla durfte es nur in meiner Gegenwart in die Hand nehmen. Sie studierte sehr genau alle Gesichter, sagte dann: Wolfgang Overath und Rolf Birkhölzer sehen klasse aus, alle anderen wie abgelaufen. Rolf Birkhölzer, der Ersatztorhüter des 1. FC Köln! Anders als Wolfgang Overath schaffte er keinen sportlichen Durchbruch, wurde später Lehrer. Ich war froh, als er wie Phönix aus der Asche irgendwann bei Wikipedia erneut auftauchte. Durch das Urteil meiner Schwester gehört er seitdem zu meiner Geschichte.

Nachfolger für Sepp Maier

Meine Sammelleidenschaft konzentriert sich bis heute auf meine Bibliothek und erschöpft sich darin. Mir fällt es leicht mich von Sachen zu lösen: Klamotten, Möbeln, Manuskripten, Krimskrams, Souvenirs. Nur wenige Seligkeitsdinge bewahre ich auf, darunter mein Fußballbuch. Als es während eines Teilumzugs meiner überquellenden Bibliothek nach Berlin für einige Wochen verschollen war, hatte ich Phantomschmerzen, denn dieses Buch gehört zu meiner Identität (wie für andere vielleicht die erste Schultüte) und zur Ausdehnung meines Selbst. Unbändig die Freude, als ich es, eingeklemmt zwischen Bänden meiner Kierkegaard-Ausgabe, wiederfand. Seitdem liegt es wie immer griffbereit auf meinem Sekretär. Schläft ein Lied in allen Dingen.

 

Als die älteren Jahrgänge 1968 Revolution machten, habe ich mich in Tragträumen mit meinen Helden identifiziert, Geschichten umgeschrieben und Rolf Birkhölzer als veritablen Nachfolger für Sepp Meier aufgebaut. Und natürlich habe ich mitgespielt. Seitdem ist die Phantasie mein treuer Begleiter, das kindliche Spiel habe ich nie abgelegt. Meine Tagträume, die mir später einen Zugang zu den eigenen Träumen erschlossen, waren nicht einfach ein Ausbruch aus der Enge des Alltags, sondern eine Kreativitätsschule, die mir später auch beim kreativen Schreiben und ja – das auch – beim Theologisieren enorm geholfen hat. Noch heute kann ich mich in meinem Arbeitszimmer, mit diesem Buch, an dem ich es gelernt habe, extensiv wegträumen, es gelingt aber auch an anderen Orten, im Kino, im Zug, im Taxi und es gelingt mithilfe anderer Objekte. Diese Transzendenz in den Tagtraum erschließt mir häufig die Welt ganz neu, ist zugleich ein Verlangsamer und ein Intensivierer. Aber manchmal kann ein Tagtraum, kann die Phantasie auch erschrecken, dann will sie in Form gebracht und gebändigt werden. So entsteht Kultur. Der große Soziologe Thomas Luckmann hat den Schlaf und den Traum zu den großen Transzendenzen gerechnet. Der Tagtraum, lange unterschätzt, gehört fraglos dazu.
 

Ich bin ein „daydream believer“! (The Monkees)

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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