Glück auf Rezept

Warum Gesundheit heutzutage als Heilsversprechen angesehen wird
Megatrend Gesundheit
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Gesundheit und Erfolg zählen heutzutage zu den wichtigsten Werten und werden häufig mit religiöser Inbrunst verfolgt. Irrtümlich wird hier Wohlbefinden mit perfekter Funktionalität gleichgesetzt, wie der evangelische Theologe und Psychologe Michael Utsch erläutert. Neue Studien belegen, dass religiöses Vertrauen gesundheitsförderlich wirken kann.

In Zeiten gesellschaftlicher Instabilität, brüchiger Beziehungen und zerrissener Lebenszusammenhänge ist die Sehnsucht nach Ganzheit, Harmonie und Wohlfühlen im eigenen Körper groß. Eine entsprechende Angebotsfülle wirbt mit Glücksverheißungen und garantiertem Wohlbefinden. In unserer säkularen Gesellschaft zählen heute Gesundheit und Erfolg zu den wichtigsten Werten und werden mitunter mit religiöser Inbrunst verfolgt. Dass ein bestimmtes Nahrungsergänzungsmittel oder Fitnessprogramm aber zunächst nur das eigene Bankkonto erleichtert und bestenfalls der richtige Umgang damit mehr Lebensfreude vermittelt, müssen manche Menschen erst schmerzlich erfahren.

Das Gesundheitssystem ist heute zu einem Grundbestandteil der westlichen Industrienationen geworden. Gesundheitsprodukte und noch mehr -dienstleistungen zählen zu den wenigen Hoffnungsträgern für eine erlahmte Volkswirtschaft. Gründe für diese Konjunktur sind vor allem in der weiter fortschreitenden Individualisierung zu suchen, die durch die Pandemie verschärft wurde. Wenn die Einzelnen kein soziales Netz mehr besitzen, das Rückhalt und Rückmeldung gibt, bleibt ihr Körper als Gegenüber übrig und wird leicht zum Objekt der Anbetung. Neue Unsterblichkeitsphantasien und die Vergötzung der Jugendlichkeit sind dafür ein Ausdruck. Gesamtgesellschaftlich hat sich mittlerweile ein Anspruchsdenken durchgesetzt, das Gesundheit sogar als ein Grundrecht betrachtet. Die Hoffnungen auf scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten des medizinisch und therapeutisch Machbaren nähren die alten Menschheitsphantasien von Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit.

Gesundheit und Wohlbefinden sind also die Götzen des 21. Jahrhunderts. Zukunftsforscher prognostizieren einen wachsenden Bedarf an privater Gesundheitsvorsorge. Die Fitness-Center und Wellness-Hotels haben diesen Trend längst erkannt und weisen beachtliche Umsatzsteigerungen vor. Schon heute werden etwa zehn Prozent des Bruttosozialprodukts im Gesundheitssystem umgesetzt – Tendenz steigend. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Schönheits-Operationen, bei denen insbesondere minimalinvasive Eingriffe stark zugenommen haben.

Die Verbesserung und der Erhalt der Gesundheit ist ein Wachstumsmarkt, der andere Branchen in sich aufnimmt und neue entstehen lässt. Im Megatrend Gesundheit geht es nicht mehr nur um Medizin, sondern eben auch um Schönheit, Anti-Aging, Wellnessprodukte, Stimmungsaufheller und Lifestyle-Medikamente. Wenn hohe körperliche und geistige Leistungsfähigkeit immer nachdrücklicher erwartet wird, dann lassen sich Leiden, Schmerzen und chronische Einschränkungen immer schwerer akzeptieren. Gänzliche Machbarkeit ist selbst zur Norm geworden. Eine wunscherfüllende Medizin kennt immer weniger ethische Grenzen und Skrupel. Psychopharmalogischer Fortschritt nährt mittlerweile sogar die Hoffnung, dass es in naher Zukunft möglich sein könnte, durch Medikamente erwünschte Seelenzustände nach Belieben herzustellen – Glück auf Rezept. Hierfür ist die umstrittene, in Deutschland aber weit verbreitete Mode-Arznei Ritalin ein gutes Beispiel. In den USA sollen gut ein Viertel aller Studierenden ihre akademischen Leistungen durch sogenanntes Gehirndoping steigern. Analog zu dieser Nachfrage nach Produkten der Bio- und Medizintechnik verbreitet sich in westlich geprägten Gesellschaften die Vorstellung, dass der Mensch sich mit Hilfe geeigneter Psychotechniken auch umfassend ändern, also von lästigen Schwächen und Fehlern medikamentös befreien könne. Aber gibt es wirklich einen psychologischen Bypass für die dunklen und schmerzhaften Seiten der Seele? Und selbst wenn die Psychologie bald seelisches Leiden verhindern oder gar ausmerzen könnte – wohin würde das führen? Die Schwierigkeiten fangen schon damit an, dass Wohlbefinden schwer exakt zu beschreiben ist, weil es sich auch weitgehend der Aufmerksamkeit entzieht. Erst Störungen werden bewusst regis­triert. Ab wann aber ist jemand krank? Zwanghafte Gesundheitsfetischisten verschieben die Kategorie gesund mittlerweile ins Reich der Wunschträume, weil irgendein medizinischer Laborwert immer aus der Reihe tanze und deshalb die Gesundheit nur das Ergebnis einer ungenauen Diagnostik sein könne.

Neuere Forschungsergebnisse der Psychoneuroimmunologie weisen zudem auf die Zusammenhänge zwischen der inneren Haltung und dem Gesundheitszustand hin. Hier mehren sich Hinweise darauf, dass vor allem Glaubenshaltungen einen direkten Einfluss auf genetische An- und Abschaltmechanismen und damit auf die Entstehungen von Krankheiten nehmen.

Religiöse Überhöhung

Gesundheit beinhaltet in diesem Sinne auch weniger die Abwendung von Krankheit als vielmehr das Herausfinden gesundheitsförderlicher Einstellungen und die Suche nach dem persönlichen Lebensglück. Auf diese Weise wird die Gesundheit dann häufig religiös überhöht und als Synonym für das gute, das ideale Leben gebraucht. Ein perfekt gestylter und tadellos funktionierender Körper soll dazu dienen, die religiösen Bedürfnisse des Ichs zu stillen. Daraus folgt die irreführende und falsche Maxime: Ein erfüllendes Leben kann nur ein gesundes Leben sein. Irrtümlich wird hier Wohlbefinden mit perfekter Funktionalität gleichgesetzt. Das Streben nach andauernden Gesundheits- und Glückszuständen endet regelmäßig in einer Sackgasse. Entgegen allen Versprechungen der Medizin und Wellness-Szene gibt es keine Methode, die Wohlbefinden garantiert. Im Gegenteil: Glück und Zufriedenheit sind Nebenprodukte einer gelungenen Alltagsgestaltung und lassen sich niemals auf direktem Wege erreichen (Jetzt sei doch mal glücklich!). Wohlbefinden stellt sich dort ein, wo versucht wird, aus den jeweiligen Möglichkeiten und Bedingungen – selbst mit körperlichen Einschränkungen oder chronischen Krankheiten – das jeweils Beste zu machen. Anhaltendes Wohlbefinden hingegen ist weder durch gelungene Therapien noch durch wohldosierte Medikation zu erreichen. Die Kontrolle und Steuerung des Zufalls sowie die Verwirklichung sämtlicher Wunschträume sind weder medizinisch noch psychologisch machbar. Es gehören Mut und Selbstbewusstsein dazu, dem Optimierungstrend nicht zu folgen, dem Perfektionierungsdrang zu widerstehen und die Unverwechselbarkeit der eigenen Geschichte zu leben. Das setzt die Annahme von Brüchen und Scheitern, sich und andern verzeihen zu können und viel Geduld und Barmherzigkeit mit sich selbst voraus.

Eine religiöse Lebensführung kann hier helfen, unumstößliche Grenzen zu akzeptieren und Phasen des Leidens und Scheiterns nicht beschämend, sondern zu einem gesunden Menschsein zugehörig wahrzunehmen. Heilung ist nach biblischer Aussage immer vorläufig, Gesundheit ein Geschenk auf Zeit. Krisen sind in diesem Sinne wichtig, um als Persönlichkeit zu reifen, und sie bewahren vor Übermut. Christliche Glaubenspraxis kann helfen, die eigene Biografie mit allen Ecken und Kanten anzunehmen, individuelle Unvollkommenheiten und Mängel zu respektieren und die Sterblichkeit als Teil des Lebens zu begreifen. Hieraus erwächst Dankbarkeit, die zu einer religiösen Quelle des Wohlbefindens und der Zufriedenheit werden kann. Krankheiten rufen dann auch die menschliche Unachtsamkeit ins Gedächtnis, sich in guten Tagen nicht der Gesundheit erfreut und Gott dafür gedankt zu haben. Die biblische Tradition und Überlieferung gibt wichtige Anregungen, wie Menschen mehr in ihrer Ganzheit in den Blick zu nehmen sind, wobei körperliche und seelische Gesundheit nur einen Heilsbereich darstellen. Der langsame, aber unaufhaltsame physische und psychische Abbau erinnert an die Vergänglichkeit des Menschen. Im Zentrum des biblischen Heilsversprechens steht deswegen nicht Gesundheit, sondern die persönliche Gottesbeziehung, das seelische Heil. Dieses besteht unabhängig vom tadellosen Funktionieren eines jeweiligen Körpers und Geistes.

Kirchliche Heilungsbewegungen

Lange bevor die Medizin spirituelle Dimensionen des Krankseins durch Ausbildungen in Spiritual Care wieder für sich entdeckte, wurden von den christlichen Kirchen die heilenden Wirkungen von Gottesdiensten, Sakramenten und geschwisterlicher Gemeinschaft praktiziert. Glaube und Heilung waren bis in das 17. Jahrhundert untrennbar miteinander verknüpft. Schon im Altertum waren die Heiler Angehörige der Priesterklasse. Im Mittelalter wurde der Arztberuf von der Geistlichkeit ausgeübt. Mönche gründeten die ersten Hospitäler, und Diakonissen prägten über Jahrhunderte das Leitbild für Diakonie und Pflege. Während heute Psychologen die therapeutischen Wirkungen religiöser Rituale genau untersuchen, wurden früher religiöse Übungen und Rituale wie Opfer, Anbetung oder Beichte gezielt zu physischen und psychischen Heilzwecken eingesetzt.

Vor gut einem Jahrhundert entstanden in Großbritannien kirchliche Heilungsbewegungen, die den Heilungsauftrag Jesu sehr ernst nahmen. In der anglikanischen Tradition existiert seit jeher ein intensiver Dialog zwischen Medizinern und Theologen. Im anglo-katholischen Bereich entstanden Geschwisterschaften des Heilungsdienstes, seit 1915 etwa die Guild of St Raphael. In den USA wurde 1932 der Order of Saint Luke gegründet. Er verfolgt das Ziel, Gesundheitsfachkräfte und Krankenhausseelsorger zu einer ordensähnlichen Gebets- und Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen. Es ging ihm um die Wiederbelebung des urchristlichen Heilungsauftrags der Kirche, den sie durch Fürbitte für die Kranken und die biblische Handauflegung in enger Zusammenarbeit mit Psychiatern, Ärzten und Psychologen pflegten. Heute ist die Vereinigung in den USA mit über 7 500 Mitgliedern aktiv.

Nachdem der Schatz religiöser Heilkunde lange Zeit vergessen schien, wird er gegenwärtig wiederentdeckt. Der anhaltende gesellschaftliche Trend zur Gesundheitsoptimierung und zu Wellness hat die christlichen Kirchen international angeregt, verstärkt eigene Initiativen auf den Weg zu bringen. Die Anglikanische Kirche von England beauftragte um die Jahrhundertwende eine Kommission von Experten aus Theologie, Kirche, Gemeinden und Medizin, eine Dokumentation zum Heilungsauftrag und -dienst der Kirchen zu erstellen. Neben theologischen Grundlagen der Heilung werden dort zahlreiche Möglichkeiten und Praktiken kirchlicher Heilungsdienste in Gottesdiensten, Ritualen und Gebeten dargestellt. Diese umfassende ökumenische Studie wurde auch in Deutschland aufmerksam rezipiert und ihre Impulse aufgegriffen. Kirchengemeinden sind mutiger geworden, Segnungsangebote im Gottesdienst anzubieten, die zumeist intensiv genutzt werden. Die verstaubte Praxis der Beichte wurde in manchen Gemeinden wiederbelebt und führte dazu, dass Menschen neu die befreienden und psychohygienischen Wirkungen dieser alten Seelsorgeform entdeckt haben. Psychologen wiederum erkunden mit staatlichen Forschungsgeldern die befreiende Wirkung des Verzeihens, die stabilisierenden Funktionen der Dankbarkeit, die Widerstandskraft von Hoffnung und Vertrauen.

Auf der Suche nach tragenden Werten und weltanschaulicher Orientierung hat das kulturelle Erbe der Weltreligionen das Interesse der Gesundheitsforscher geweckt. In neueren, ganzheitlichen Behandlungsansätzen werden Vertrauen, Liebe und Dankbarkeit als wesentliche Bestandteile einer gesundheitsförderlichen Arzt-Patient-Beziehung benannt und beschrieben. Mit Recht wird immer häufiger angemahnt, bei einer ganzheitlichen Heilbehandlung des Menschen neben den biopsychosozialen Bedingungen seine spirituellen Bedürfnisse nicht zu übergehen. Religionsvergleichende Untersuchungen haben ergeben, dass die großen Weltreligionen folgende sechs Kerntugenden beinhalten: Weisheit/Wissen, Mut, Liebe/Humanität, Gerechtigkeit, Mäßigung, Spiritualität/Transzendenz. Weil das therapeutische Potenzial dieser Haltungen offensichtlich ist, fragen auch Psychotherapeuten vermehrt nach Wegen, diese Einstellungen zu vermitteln und therapeutisch zu nutzen.

Neue Studien belegen, dass religiöses Vertrauen gesundheitsförderlich wirken kann. An dieser wichtigen Schnittstelle zwischen Medizin und Theologie arbeiten mittlerweile immer mehr Experten beider Disziplinen zusammen. Dies aber als eine Art Wunderdroge einzusetzen, hieße den Glauben zu missbrauchen. Angesichts der zahlreichen Indizien für die heilsamen Funktionen des Glaubens wurde in einer medizinischen Fachzeitschrift sogar ernsthaft darüber diskutiert, ob Ärzte religiöse Tätigkeiten wie das Gebet verordnen sollen. Schlussendlich überwog hier die Skepsis: Der wichtigste Einwand war der Hinweis auf eine drohende Trivialisierung der Religion. Die mehrheitliche Meinung war: Religion dürfe nicht instrumentalisiert und getestet oder verordnet werden wie ein Antibiotikum. Vieles spricht also dafür, dass Weltanschauungen und Lebensdeutungen ein Heilungspotenzial enthalten. Ein christlich geprägtes Gesundheitsverständnis kann das Machbarkeitsdenken der modernen Medizin korrigieren, denn die Bibel hat stets den ganzen Menschen im Blick. Dabei darf der christliche Glaube keinesfalls als Therapeutikum missverstanden werden. Religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen, die instrumentalisiert werden, verfehlen ihre therapeutische Wirkung. Ein liturgischer Gottesdienst oder eine Segnung wirken gerade dann heilsam, wenn sie nicht therapeutisch funktionalisiert sind. Christlicher Glaube lässt sich nicht funktionalisieren oder instrumentalisieren. Er hat mit Ehrfurcht, Demut und Achtsamkeit zu tun. Er ist kein Produkt des Willens oder Könnens, sondern ein unverdientes Geschenk. In der Theologie reden wir dann von Segen oder Gnade. Gott will sich dem Menschen mitteilen. Dieses geschieht gerade auch in Zeiten der Krankheit und Not – anders scheinen die Menschen vielleicht wegen der hektischen Geschäftigkeit nicht erreichbar zu sein. 

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