Sehnsucht nach Ganzheit

Warum die Pandemie Gesundheit als somatisches Konzept verstärkt hat
Krankenhaus
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Der Streit um den Wert von Gesundheit hat sich während der Pandemie exemplarisch im Umgang mit Quarantäneregeln zugespitzt. Diese Erfahrung zwingt uns, neu zu bewerten und abzuwägen, in welchem Verhältnis der Schutz der körperlichen Gesundheit zur Sehnsucht nach Begegnung, Gemeinschaft und Berührung steht, erläutert die Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und Diakoniewissenschaftlerin Beate Hofmann.

Vieles kann man sich wünschen, manches erhoffen – doch bleibt alles sinnlos, wenn das Wichtigste fehlt: die Gesundheit.“ Diese Zeilen schrieb mir jemand zu meinem vergangenen Geburtstag. Sie haben mich in ihrer Zuspitzung ziemlich beschäftigt. Wie viel Verunsicherung und Erschütterung durch die Pandemie steckt da drin? Macht das nicht Gesundheit zum goldenen Kalb, vergötzt als höchstes Gut, das um jeden Preis verteidigt und gesichert werden muss?

Am schwierigsten an diesen Zeilen ist für mich die Vorstellung, das Leben ohne Gesundheit sei sinnlos. Das ist eine Ohrfeige für alle Menschen, die mit einer chronischen Krankheit oder anderen Einschränkungen ihrer Gesundheit leben. Meine Großmutter zum Beispiel hatte Multiple Sklerose und hat fast sechzig Jahre mit der Krankheit gelebt. Sie hat nach der Diagnose noch zwei Kinder geboren, insgesamt vier Kinder als Kriegswitwe großgezogen, ihr Leben lang viele Kontakte gepflegt und viele Menschen durch Zuhören und Trösten begleitet, obwohl sie kaum laufen konnte. Warum soll das ein sinnloses Leben gewesen sein? Auch verletztes, fragmentiertes, eingeschränktes Leben hat Sinn. Menschen mit chronischen Krankheiten wie zum Beispiel mit Dia­betes können sich sogar gesund fühlen – ja nachdem, was man unter Gesundheit versteht.

Von den einen wird Gesundheit als somatischer Zustand definiert; er ist messbar und beschreibbar, weil sich zentrale Körperfunktionen innerhalb von normierten, als gesund definierten Messwerten bewegen. Entsprechend sagt mir dann mein Arzt, ob ich gesund oder krank bin. Ich kann das mit moderner Technik durch eine „kluge Uhr“ überwachen, möglicherweise sogar verbessern oder zumindest erhalten. Einen anderen Zugang vertritt das Konzept der Weltgesundheitsorganisation. Sie beschreibt Gesundheit als „einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Das wurde oft als zu umfassend und zu idealistisch kritisiert. Aber diese Definition macht deutlich: Gesundheit umfasst verschiedene Dimensionen, nicht nur die leibliche, sondern auch die soziale und – neuerdings ergänzt – die spirituelle Seite des Lebens. Entsprechend hat die „Christlich-medizinische Kommission“ des Ökumenischen Rates der Kirchen 1988 folgende Definition entwickelt: „Gesundheit ist ein dynamischer Zustand des Wohlbefindens und der Harmonie des Einzelnen und der Gesellschaft; ein Zustand körperlichen, geistigen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wohlbefindens; der Zustand der Harmonie miteinander, mit der natürlichen Umwelt und mit Gott.“

Der Heidelberger Systematiker Thorsten Moos beschreibt in seinem Buch zu Krankheitserfahrung und Religion Gesundheit als Zustand vorgestellter Überwindung der krankheitsbezogenen Desintegration. Dieses Verständnis von Gesundheit blickt vor allem auf die Folgen von Krankheit für das Leben von Menschen. Sie erklärt auch, warum meine Großmutter ein ziemlich gesunder Mensch war, trotz der chronischen Krankheit. Sie konnte zwar kaum laufen, aber sie hatte dank guter Medikation meist keine starken Schmerzen, sie hatte sehr viele Kontakte und ein funktionierendes Hilfesystem, das die krankheitsbedingten Einschränkungen auffing. Weil ihre Umwelt sie wenig behinderte in dem, was ihr für ihr Leben wichtig war, konnte sie sich gesund fühlen.

Verführung der Beherrschbarkeit

Andere in ihrer Situation hätten möglicherweise sehr an der Abhängigkeit von fremder Hilfe oder an fehlenden Sportmöglichkeiten gelitten. Sie hatte sich damit arrangiert und damit die ihr mögliche Form des Wohlbefindens erreicht. Damit hat sie sich das erhalten, was der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonowsky als „Kohärenzgefühl“ beschreibt und als wichtige Wurzel für Resilienz in krankmachenden Situationen erkannt hat.

Die Corona-Pandemie hingegen hat Gesundheit als somatisches Konzept verstärkt: Ist der Test negativ, ist man gesund; ist er positiv, muss man in Quarantäne, egal, wie man sich fühlt, weil man durch die hohe Virenlast auch für andere zur Gefahr werden kann. Und viele haben in den vergangenen Monaten erlebt: Wenn der Test nach einer Erkrankung wieder negativ ist, heißt das noch lange nicht, dass man gesund ist. Long Covid und Post-Covid-Symptome machen vielen Erkrankten lange zu schaffen. Und noch ist für die Medizin nicht klar erkennbar, warum der eine mit leichten Symptomen durch die Infektion geht und andere, trotz vergleichbarer körperlicher Konstitution, mit schweren Nachwirkungen zu kämpfen haben. Corona führt uns die Kontingenz von Krankheit brutal vor Augen. Warum bei einer Sitzung oder einem Fest die einen sich infizieren und die anderen, die daneben oder dazwischen sitzen, gesund bleiben, lässt sich bisher nicht befriedigend erklären.

Gleichzeitig haben wir in der Corona-Pandemie sehr eindrücklich erlebt, wie stark unsere Gesundheit am eigenen Verhalten und an dem von anderen hängt. Wer Maske trägt, schützt sich und andere. Wer sich impfen lässt, schützt sich vor einem schweren Krankheitsverlauf und senkt die Ansteckungswahrscheinlichkeit, hat aber auch das (deutlich geringere) Risiko von Impffolgen. Wer solche Maßnahmen komplett ablehnt, gefährdet nicht nur sich, sondern auch andere. Vor allem in der Zeit vor dem Impfstoff war diese Abhängigkeit vom Verhalten anderer unmittelbar erfahrbar. Und im Gegensatz zu Blutwerten und Impfstatus konnte man sehen, ob jemand Maske trägt und Abstand hält oder nicht.

Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit wurde mit der Pandemie noch stärker von einem persönlichen zu einem gesellschaftlichen und politischen Thema, das polarisiert und gespalten hat. Während die einen die Krankheit völlig negieren oder verharmlosen, leben andere aus Angst vor Ansteckung sehr zurückgezogen und meiden soziale Kontakte. Sie verzichten auf vieles, was für andere das Leben ausmacht: auf gemeinsames Essen mit Freunden, auf körperliche Berührungen, auf kulturelle Erlebnisse – und sie tun das, um ihre Gesundheit zu schützen. Spiegeln sie die Haltung des eingangs zitierten Grußes, in dem Gesundheit das Wichtigste ist, ohne das das Leben sinnlos ist? Das somatische Gesundheitskonzept birgt in sich die Verführung der Beherrschbarkeit und der Machbarkeit von Gesundheit. Gesunderhaltung durch Bewegung und Fitness, durch gesunde Ernährung oder Nahrungsergänzung, durch biochemische oder technologische Optimierung wird dann zur Lebensaufgabe, zunehmend auch zur Pflicht, von den Krankenkassen entsprechend honoriert durch günstigere Tarife. Krankheit wird dann umgekehrt zum persönlichen Versagen in der Gesunderhaltung; Altern als natürlicher Prozess wachsender körperlicher Einschränkungen ist eine Bedrohung, die so weit wie möglich verhindert und aufgehalten werden muss. Mit dem Versprechen von Gesundheit, das zeigt auch der Eingangs zitierte Geburtstagswunsch, verbindet sich die Verheißung von Glück und Wohlbefinden. Aber ist das so? Auch gesunde Menschen haben Liebeskummer, Arbeitsstress, können in einen Unfall verwickelt werden … . Und wer dann doch krank wird, ist oft in seinem Selbstverständnis tief erschüttert. Mein krebskranker Schwiegervater hat seine Diagnose bis zuletzt ignoriert, weil er ja immer „gesund“ gelebt habe und ihm „so etwas“ daher gar nicht passieren könne.

Ambivalente Pandemie-Erfahrungen

Der Streit um den Wert von Gesundheit hat sich exemplarisch zugespitzt im Umgang mit Quarantäneregeln. Die Abriegelung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gehört für mich bis heute zu den Pandemieerfahrungen, die die Ambivalenz von Gesundheit als höchstem Wert schmerzhaft vor Augen führen. Einerseits habe ich die massiven Zugangsbeschränkungen gut nachvollziehen können. Wer erlebt hat, wie schnell alte Menschen durch das Virus hinweggerafft wurden, der will die ihm anvertrauten Menschen vor solchen Erfahrungen schützen. Wer erlebt hat, wie mühsam Hygieneregeln bei manchen Angehörigen durchsetzbar waren, der wünscht sich klare, einfache, strikte Regeln. Und wer in der täglichen Arbeit – vor allem am Anfang der Pandemie – dem Ansteckungsrisiko weitgehend ungeschützt ausgesetzt war, weil es nicht genug Hygieneprodukte gab und Pflege körperliche Berührung und große körperliche Nähe braucht, der möchte sich wenigstens vor weiterem Infektionsrisiko schützen.

Aber der Schutz der körperlichen Gesundheit hat bei vielen Menschen soziale und psychische Wunden gerissen, an deren Folgen vor allem Menschen mit psychischen und dementiellen Erkrankungen und deren Angehörige, aber auch viele Kinder und Jugendliche entsetzlich gelitten haben und immer noch leiden. Diese Erfahrung zwingt uns, neu zu bewerten und abzuwägen, in welchem Verhältnis der Schutz der körperlichen Gesundheit zu Kontaktbedürfnis, zur Sehnsucht nach Begegnung, Gemeinschaft und Berührung steht. Absoluter Gesundheitsschutz ist kaum möglich und zerstört Leben und Lebendigkeit, das zeigt der Blick auf die chinesische Null-Covid-Strategie und ihre menschenverachtenden Folgen. Solche Abwägungen gibt es nicht nur an den Türen von Pflegeeinrichtungen, sie geschehen im Augenblick ständig: Gebe ich bei der Begrüßung die Hand oder nicht? Umarme ich meine Freundin oder nicht? Feiere ich Abendmahl oder nicht? Gehe ich wieder in die Kneipe, zum Sport, ins Konzert, ins Fußballstadion oder nicht?

Das Besondere an der Corona-Pandemie ist, dass diese Entscheidungen nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere Folgen haben können. Das langsame Zurücktasten der meisten Menschen in unserer Gesellschaft in Geselligkeit und Kontakt, in ein Leben ohne ständige Angst vor Ansteckung, wenn auch mit Maske und Vorsicht und Rücksicht in bestimmten Situationen, geht einher mit einer veränderten Gütergewichtung. Die somatische Gesundheit wird so weit geschützt, dass anderes wieder stärker gelebt werden kann: Freundschaften, Kultur, Sport, Tanz. Noch ist für mich offen, wie sich die Erfahrung von Verletzlichkeit und die augenfällige Erfahrung der Unmöglichkeit von völligem Schutz auf unser Körpergefühl und auf unseren Umgang mit unserer Verwundbarkeit auswirken werden. Die Pandemieerfahrungen haben uns den Körper als Ort der Gefahr, aber auch der Lust, des Wohlgefühls, des Glücks vor Augen geführt. Mit dieser Ambivalenz unserer Körperlichkeit gehen Menschen verschieden um: Habe ich einen Körper, dessen Gestalt ich beeinflussen kann, oder bin ich Mensch mit Leib und Seele?

Wenn der Mensch mehr ist als sein Körper, wenn die Funktionalität des Körpers nicht allein entscheidet über Sinnhaftigkeit des Lebens und Glückserfahrungen, dann gehört zum Leben nicht nur, etwas zu tun und zu gestalten, sondern auch, etwas zu erleiden und Widerfahrnisse auszuhalten. Die sozialen Folgen solcher Widerfahrnisse wie zum Beispiel Desintegration und Behinderung zu bewältigen, ist dann eine soziale, spirituelle und politische Aufgabe, die wir gemeinsam bewältigen können.

Leben ohne Leid

Fragmentarisches, verletzliches Leben enthält in sich die Sehnsucht nach Ganzheit und nach Gesundheit in allen Dimensionen. Diese Sehnsucht wird in dieser Welt und in diesem Leben nie ganz verwirklicht werden; sie ist eine eschatologische Hoffnung und verweist auf das Leben bei Gott ohne Leid, Geschrei und Schmerz (Apokalypse 21,4). Gerade in ihrer Abwesenheit ist Gesundheit als Wunsch und Sehnsucht anwesend. Ihre Abwesenheit verunmöglicht Leben nicht, bestimmt es aber immer wieder. Doch das muss nicht mehr die „Hauptsache“ sein. 

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