„Der Lutherische Weltbund hat sich verirrt“

Das Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands, Erzbischof Jānis Vanags, über Frauenordination, Homosexualität und „postmodernen Neomarxismus“ im Westen
Der lutherische Dom zu Riga, wo Erzbischof Jānis Vanags wirkt: der Kreuzgang.
Foto: Philipp Gessler
Der lutherische Dom zu Riga, wo Erzbischof Jānis Vanags wirkt: der Kreuzgang.

zeitzeichenErzbischof Vanags, Sie sind nun schon fast dreißig Jahre Erzbischof und somit der höchste Repräsentant der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands (LELB). Während nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das christliche Glaubensleben aufblühte, scheint es nun wieder abzunehmen – stimmen Sie dieser Analyse zu?

JANIS VANAGS: Die Wahrheit ist viel nuancierter. Während der sowjetischen Besatzung war die Kirche die einzige organisierte Opposition, wenn auch nur ideologisch, nicht politisch. Als das Sowjetregime zusammenbrach, rückte die Kirche natürlich in den Vordergrund. Dies gilt insbesondere für die lutherische Kirche. Unsere Pastoren halfen beim Verfassen von Erklärungen, die von der ersten Menschenrechtsschutzorganisation „Helsinki-86“ veröffentlicht wurden.
In der lutherischen Kirche formierte sich die Widerstandsbewegung
„Erweckung und Erneuerung“, die sich später der Lettischen Volksfront anschloss. Während dieser Zeit erreichten Pastoren fast Rockstar-Popularität. Mehrere hundert während der Sowjetzeit geschlossene Gemeinden wurden wieder­eröffnet. Die Menschen haben jedoch nicht immer verstanden, warum es notwendig ist, getauft zu sein, um der Kirche anzugehören. Vielmehr empfanden sie den Beitritt zur Gemeinde als antisowjetischen Schritt. Im Fernsehen bekamen christliche Themen viele Stunden Sendezeit, die wir nicht einmal zu füllen wussten. Die Kirche hatte das Recht der Ge­setzesinitiative, das jetzt nur noch der Präsident, der Ministerpräsident und die Abgeordneten haben. Es war wie die Flitterwochen – eine einzig­artige, unwiederholbare Zeit, die im Kontext des modernen Europas
wohl als Anomalie gelten kann. Jetzt hat sich die Situation sehr verändert.

Woran liegt das?

JANIS VANAGS: Seit den Jahren der Wende hat sich Lettland viel mehr an den Lebensstil der west- und nordeuropäischen Länder angepasst. Das Verhältnis zwischen Staat, Medien und Kirche ist nicht mehr das, was es damals war. Heute schließen sich die Menschen der Kirche nur noch aus religiöser Überzeugung an, nicht um für die Unabhängigkeit Lettlands zu kämpfen. Die Medien sind meist linksgerichtet und grundsätzlich religionskritisch. Lehrer aus westlichen Ländern, die gekommen sind, um unsere Journalistenstudenten zu unterrichten, haben dort Beiträge geleistet. Die Flitterwochen sind vorbei. Die Entvölkerung Lettlands ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Fast ein Zehntel der Bevölkerung ist auf der Suche nach einem besseren Leben ausgewandert. Es hat auch die Gemeinden beeinflusst, wenn auch nicht so sehr, wie man erwarten könnte. Die Zeit von Covid hat auch Schaden angerichtet. Der Zustand des christlichen Glaubens ist jedoch immer noch viel besser als zu Sowjetzeiten.

Was kann man gegen den Rückgang des Christentums tun? Oder kann man am Ende nur wenig tun, weil das ein internationaler Megatrend der Säkularisierung ist?

JANIS VANAGS: Die westliche Welt wird wirklich nicht nur von der Säkularisierung, sondern auch von der postmodernen neomarxistischen Ideologie beeinflusst. Demnach findet der Kampf um die Macht nicht mehr zwischen Bourgeoisie und Proletariat statt, sondern zwischen Identitätsgruppen. Frauen vs. Männer, weiß vs. farbig, homosexuell vs. heterosexuell, feministisch vs. transgender und so weiter. Das gemeinsame Ziel dieser Ideologie ist es, das imaginäre weiße, heteronormative Patriarchat abzubauen, das angeblich die westliche Welt beherrscht und Frauen, Schwule und andere Minderheiten unterdrückt. Es wird angenommen, dass die Wurzeln dieses Patriarchats in den jüdisch-christlichen Wurzeln der westlichen Zivilisation liegen, von der die Gesellschaft abgeschnitten werden muss. Deshalb gibt es eine Position gegen die authentische christliche Religion und die Kirchen, die versuchen, sie aufrechtzuerhalten. Wenn Sie sich dagegen wehren wollen, dann müssen Sie tun, was wir seit den Zeiten der sowjetischen Unterdrückung wissen – trotz der Verfolgung sich eng an die authentischen Quellen des Christentums halten, die Bibel, die apostolische Tradition und für Lutheraner die lutherischen Bekenntnisse oder das Konkordienbuch. Natürlich muss es einen kreativen und zeitgemäßen Ausdruck finden. Der Rest liegt in Gottes Hand.

Vor ein paar Jahren gab es Finanzprobleme in der LELB, es mussten sogar Im­mobilien verkauft werden. Steht die LELB nun finanziell wieder auf sicheren Füßen?

JANIS VANAGS: Wir sprechen von der Zeit vor der globalen Krise 2008. Zu dieser Zeit gab es in Lettland ein schnelles Wirtschaftswachstum. Schwedische Banken bewarben Kredite wie McDonald‘s-Burger. Menschen ohne Erfahrung nahmen massenhaft Hypotheken auf. Immobilienwerte schossen in die Höhe. Auch der Wert des Kirchenbesitzes wuchs schnell. Damals haben wir versucht, ein auf Immobilienverwaltung basierendes System zu schaffen, um allen Pastoren angemessene Gehälter und Steuern zu zahlen. Wir begannen mit umfangreichen Evangelisations- und Ausbildungsprogrammen. Nach dem Konkurs von Lehmann Brothers und dem weltweiten Finanzkollaps gerieten wir in Schwierigkeiten und waren sogar gezwungen, einige Eigentumshäuser zu verkaufen. Als Reaktion darauf stellten wir neue, kompetente Geschäftsleiter ein und trennten die geistliche Führung der Kirche von ihrer wirtschaftlichen Führung. Dies ermöglichte uns, erfolgreich aus den Schwierigkeiten herauszukommen. Derzeit ist unser Haushalt ohne Defizit und unsere Finanzen sind vollkommen transparent.

Sie sind nicht zuletzt deshalb 1993 zum Erzbischof gewählt worden, weil Sie sich gegen die Frauenordination gewandt haben. Nun haben sich die Zeiten seitdem sehr gewandelt. Auch die Frauenemanzipation ist in der Gesellschaft stark vorangekommen. Bereuen Sie diese Positionierung heute?

JANIS VANAGS: Nein, ich bereue es nicht, denn die Frage der Frauen­ordination muss sich an der Heiligen Schrift, der apostolischen Praxis und den lutherischen Bekenntnissen orientieren, nicht an den Prozessen der Frauenemanzipation. Es ist ein großer Fehler, die kirchliche Praxis an die Entwicklungen einer von postmodernem Neomarxismus und Säkularismus dominierten Gesellschaft anzupassen.

Die LELB ist unter anderem wegen der Frage der Frauenordination mit der lettisch-lutherischen Auslandskirche LELBAL zerstritten. Es besteht de facto ein Schisma. Ist es das wert?

JANIS VANAGS: Hatten wir einen Streit? Ernsthaft? Wir haben mit niemandem einen Streit wegen der Ordination von Frauen begonnen. Wir leben nach unserem Glauben und Verständnis der Bibel. Wenn uns jemand nicht so viel Freiheit lassen will, das ist sein Problem, nicht unseres. Wie kann jemand Spaltung verursachen, der weiterhin das tut, was die Kirche Christi seit Tausenden von Jahren getan hat und was immer noch die Position der meisten Christen ist? Die Verantwortung für die Spaltung liegt bei denen, die neue Praktiken in das Leben der Kirche einführen, die Spannungen und Uneinigkeit erzeugen.

Wegen der nicht vollzogenen Frauenordination ist auch die finanzielle Unter­stützung unter anderem von deutschen lutherischen Schwesterkirchen zusammen gekürzt worden. Können Sie diese Verluste beziffern?

JANIS VANAGS: Die Sanktionen auf-grund der Ordination von Frauen verringern natürlich unsere Möglichkeiten, das Evangelium zu predigen und das Reich Christi in Lettland auf­zubauen. Anderer­seits mussten wir auf eigenen Beinen stehen und wirtschaftlich unabhängig werden. Es brachte uns das Gefühl der Freiheit, das wir von Herzen genießen. Wir sind dankbar für die Unterstützung, die wir erhalten haben und weiterhin erhalten. Allerdings erwarten oder fordern wir von niemandem etwas, sodass wir mit unseren Partnern wie mit Freunden auf Augenhöhe sprechen können, ohne zu denken, dass wir uns auf die Zunge beißen und schweigen müssen, um keine D-Mark oder keinen Euro zu verlieren, wie es in den Anfangsjahren der Fall war.

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist mehrheitlich klar für die Frauenordination. Von den 145 Mitgliedskirchen des LWB, das wurde 2016 einmal ausgerechnet, ordinieren nur 26 Kirchen keine Frauen. Damit stimmen 82 Prozent der LWB-Mitgliedskirchen, mit mehr als 90 Prozent der LWB-Mitglieder, der Frauenordination zu. Glauben Sie, Sie haben bessere theologische Argumente gegen die Frauenordination als die überwältigende Mehrheit der lutherischen Kirchen weltweit?

JANIS VANAGS: Es gibt Dinge, die nicht mit Mehrheit entschieden werden können. Wenn die überwältigende Mehrheit im Lutherischen Weltbund dafür stimmen würde, dass Gott nicht dreieinig ist, würde das nichts an dem Wesen Gottes ändern. Während der Sowjetzeit war die Kirche eine unterdrückte Minderheit in der Gesellschaft, aber ihre Argumente über Gott waren wahr. Ja, ich glaube, dass der Lutherische Weltbund sich verirrt hat, indem er es sich zur Politik gemacht hat, die Frauenordination in allen Mitgliedskirchen einzuführen. Ich war insgesamt 17 Jahre im Rat oder in den ständigen Ausschüssen der LWB und kann den Druck bezeugen, dem Kirchen ausgesetzt sind, die keine Frauen ordinieren. Wie Sie es schon erwähnt haben, manchmal hängt es auch mit der Gewährung oder Nichtgewährung von Finanzhilfen zusammen. Die „überwältigende Mehrzahl“ resultiert nicht nur aus innerer Überzeugung, sondern oft auch aus äußerem Druck.

Auch bei der Verurteilung der Homo­sexualität fährt die LELB einen ganz anderen Kurs als die Mehrheit der lutherischen Kirchen weltweit. Was ist Ihr Argument gegen diese Form der Liebe zwischen zwei Menschen?

JANIS VANAGS: Die Quelle und Norm kirchlichen Lehrens und Lebens ist die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift der Bibel. Weder exegetisch noch kontextuell lässt sich darin eine Unterstützung für aktive homosexuelle Beziehungen finden. Im Gegenteil, es gibt sehr deutliche Warnungen, dass diejenigen, die solche Dinge tun, das Reich Gottes nicht ererben werden. Wahrscheinlich im Gegensatz zu einigen Kirchen weltweit glaubt unsere Kirche, dass das Jüngste Gericht und das Himmelreich oder die ewige Verdammnis wirklich existieren. Die ersten niedergeschriebenen Worte des Herrn Jesus lauten: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“(Markus 1,15b) Das bedeutet, dass die Kirche einfühlsam und pastoral gegenüber Menschen sein muss, die mit ihrem angeborenen Verlangen, einschließlich dem Verlangen nach ihrem eigenen Geschlecht, zu kämpfen haben, um sie auf dem Weg, von ihren Sünden abzukehren und durch die Gnade des Evangeliums Frieden mit Gott zu erlangen, zu unterstützen. Selbst wenn wir fallen und sündigen, hat unser Heiland sein Leben gegeben, damit wir uns bekehren und leben können. Zu dieser Gnade muss die Kirche die Menschen einladen. Wenn die Kirche jedoch beginnt, homosexuelle Partnerschaften zu segnen, ermutigt sie diese Menschen, die Beziehungen einzugehen und in solchen zu bleiben, die ihre Errettung und ihr ewiges Leben gefährden. Eine solche Kirche predigt nicht mehr zu ihnen: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ Christus hat aber seine Kirche gegründet und in die Welt gesetzt, damit sie sein Werk fortsetzt.

Haben Sie manchmal das Gefühl, in Sachen Frauenordination und Homosexualität auf einer Position zu stehen, die in wenigen Jahren nicht mehr zu halten sein wird?

JANIS VANAGS: Die sowjetischen Propagandisten sagten dasselbe: Nur noch ein paar Jahre und die Kirche wird verschwinden. Aber wir sind immer noch da. Unsere Aufgabe und die Verantwortung vor dem Herrn Jesus ist es, das Wort Gottes – das Gesetz und das Evangelium – zu predigen, dessen richtige Unterscheidung und Anwendung die Grundlage der lutherischen Lehre ist. Die Zahl der Gläubigen hängt vom Herrn selbst ab. Christi Worte deuten darauf hin, dass die Gläubigen in der Endzeit nicht in der Mehrheit sein werden.

Wie viel Prozent Ihrer Pastorenschaft sind Ihrer Einschätzung nach homosexuell?

JANIS VANAGS: Mir sind zwei Prozent der Pastoren bekannt, die homosexuellen Versuchungen ausgesetzt waren, und ich habe keine Information darüber, dass jemand in einer solchen Beziehung leben würde. 1996 hat unsere Synode eine Resolution verabschiedet, in der homosexuelle Beziehungen als Sünde und nicht mit der Ehe vergleichbar anerkannt werden. Bei der Abstimmung waren etwa 300 Synodale dafür, es gab eine Enthaltung und keine Stimme dagegen. Ein Pastor, der aus der Bundesrepublik Deutschland zu uns gekommen war, schlug einmal auf einer Pfarrerkonferenz vor, dass wir anfangen sollten, über die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu sprechen. Die Konferenz entschied fast einstimmig, dass sie darüber nicht zu diskutieren brauche, da die Heilige Schrift die Angelegenheit bereits klar und eindeutig entschieden habe. So ist es. Übrigens waren in der Synode, die beschloss, die Ordination Männern vorzubehalten, zwei Drittel Laien und vierzig Prozent Frauen. Dies zeigt, dass dies die Position unserer Kirche und die Natur unseres gläubigen Volkes ist. Ich verstehe, dass einige Kreise im Westen versucht waren, dies der Laune eines Bischofs zuzuschreiben. Wenn der Vanags in den Ruhestand geht oder stirbt, wird alles wieder gut. Aber Gott sei Dank hat unsere Kirche die Gewohnheit, die Antworten in der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition zu suchen, nicht in den Anweisungen eines Bischofs oder den Vorschriften einer säkularen Gesellschaft.

Verliert die LELB auch wegen ihrer Position zur Frauenordination und zur Homosexualität immer weiter an gesellschaftlicher Bedeutung?

JANIS VANAGS: Gott sei Dank ist der postmoderne Neomarxismus in Lettland noch nicht so einflussreich. Die Partei „Die Progressiven“, die diese Ideologie eindeutig vertritt, wird von knappen fünf Prozent der Wähler unterstützt. Diese Ideologie hat jedoch starke Positionen in den Medien und Universitäten, sodass es nicht ausgeschlossen ist, dass ihr Einfluss in der Zukunft zunehmen wird. Aktuell gewinnt die Kirche durch ihre Position zu Fragen der Geschlechtsidentität, der Familie und der Homosexualität eher an Bedeutung in der Gesellschaft, weil die meisten Menschen darin die Stimme der Vernunft hören. Wenn die Zukunft anders ist, sind wir darauf vorbereitet. Kirchen in Deutschland sind es vielleicht gewohnt, in der Mitte der Gesellschaft zu stehen, also im Mainstream. Abgesehen von den kurzen Flitterwochen waren wir immer die Oppositionellen und Freidenker. Es hat seine eigene Schönheit und seinen eigenen Eifer. Die Hauptsache ist, den Glauben an die Botschaft der Wahrheit nicht zu verlieren.

(Übersetzung: Pastor Andris Krauliņš) 

Die Fragen stellte Philipp Gessler.

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