Ungebremst „Ja“ sagen können

Erinnerungen an eine Fußball-Radiopredigt und einen großen Schriftsteller
Fußball im Tornetz vor blauem Himmel
Foto: www.sonjawinzer.de / pixelio.de

Zum Auftakt der Fußball-WM erinnert Hans-Jürgen Benedict sich an die Momente, an denen er mit der deutschen Mannschaft zum ersten und zum vierten Mal Weltmeister wurde. Dass dabei auch eine Erzählung des in diesem Frühjahr verstobenen F.C. Delius eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Mit dem Sieg in Bern 1954 begann für diesen die Befreiung von einem toxischen Gottesbild.

An dem Sonntag, an dem ich zum ersten Mal Weltmeister wurde, am 4.Juli 1954, hörte ich die Übertragung des Endspiels aus Bern im Elternhaus in der Hamburger Steenkamp-Siedlung. Ich saß vor dem Grundig-Radiogerät, mit mir fieberten meine beiden Brüder.  Aus! Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwei im Finale in Bern.  Herbert Zimmermanns sich überschlagende Stimme im Ohr gehen wir nach draußen auf die Straße. So benommen wie wir von dem ungeheuren Ereignis treten die Freunde aus den Häusern, Uwe Knees, Peter König, Gerd Rohde und wie sie alle hießen. Wir sind Weltmeister – wir mochten es kaum glauben.

Es war ganz ähnlich wie in der Schlussszene von  Friedrich Christian Delius‘ Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, als der fußballbegeisterte  Pastorensohn in dem hessischen Wehrda nahe der Zonengrenze, wo sein Vater die mächtige geistliche Autorität ist, nach dem gewonnenen Endspiel auf dem Kirchplatz steht und auf die Freunde wartet. (Hier lesen Sie ein zeitzeichen-Interview mit Friedrich Christian Delius aus dem Jahr 2018.) 

Für Delius, der am 30. Mai diesen Jahres im Alter von 79 Jahren  in Berlin verstorben ist, war diese Reportage  von Herbert Zimmermann die  Befreiung aus der doktrinären Welt des Pastorvaters und des Gottvaters, der Abraham das Messer an die Kehle Isaacs setzen lässt, der seinen eigenen Sohn, Jesus, kreuzigen lässt. Sie war Befreiung aus der Routine der täglichen Gebetsrituale mit dem Dank für das Wunder des Brotes, Befreiung aus allen religiösen Machtansprüchen. Dies geschah durch die Sprachmächtigkeit eines Fußballreporters, der aus Versatzstücken religiöser Sprache, aus Geistesgegenwart und aufgeregter Identifikation mit dem Schicksal der deutschen Nationalmannschaft eine sportlich-heidnische Gegenwelt aufbaute („ein Wunder“, „Gott sei Dank, so haben wir gehofft und gebetet“ ; „Turek, du bist ein Fußballgott“)  – und das im Amtszimmers des Vaters, in dem der einzige Radioapparat des Haushalts stand und wo der Erzähler, während die Eltern und Geschwister einen Mittagsschlaf halten, die Übertragung aus Bern hören darf.

Konkurrenz lebendiger Götter

In dem Zimmer hing ein Bild des die 10 Gebote empfangenden Moses: „Du sollst keine andern Götter haben neben mir, und doch gefiel mir, noch immer gebannt von dem Nachklang der drei Silben Fußballgott, dass dieser Gott sehr menschlich war, dass diese Götter, statt blutend am Kreuz zu hängen, für mich im Tor standen oder Tore schossen, sich abrackerten im strömenden Regen und kämpften wie Liebrich, immer wieder Liebrich und langsam ahnte ich, weshalb meine Eltern für den Fußball und für meine schüchterne Neigung zu diesem Sport nichts übrig hatten und hier vielleicht die Konkurrenz anderer lebendiger Götter fürchteten.“ (Seite 94)

Der elfjährige Pastorensohn, stotternd und an Schuppenflechte leidend, ein unglücklicher Junge, lauscht gebannt den Worten des Reporters in Bern. Die schnelle 2:0 Führung für die Supertechniker aus Ungarn, der Reporter tröstet: „Vergessen wir nicht, Deutschland hat noch nie einen ähnlichen Erfolg errungen.“ Doch dann die Aufholjagd - erst ein Tor von Morlock, dann von  Rahn nach einer Ecke von Fritz Walter. In der 2.Halbzeit geht der Kampf hin und her. Ein Lattenschuß der Ungarn. Sensationelle Rettungstaten von Turek. „Toni, du bist ein Fußballgott!“ Zimmermann fordert auf, die Daumen zu drücken. Schließlich die entscheidende Szene: „Schäfer nach innen geflankt, Kopfball abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland! Drei zu zwei führt Deutschland fünf Minuten vor Spielende, halten Sie mich für verrückt.“

Danach wieder das magische Ritual, die Aufforderung an die Zuhörer vor den Radioapparaten, der deutschen Mannschaft die Daumen zu drücken. Und dann der Aufschrei: „Aus! Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwei im Finale in Bern.“ Und der Pastorensohn bekennt: Der von der Reporterstimme verkündete „Sieg stieß mich in einen Zustand des Glücks, in dem ich Stottern, Schuppen und Nasenbluten vergaß und das Gewissen und alle Gotteszangen von mir abließen“ (117). Unter den Linden auf dem Kirchplatz stehend überkommt ihn „die Ahnung, was es heißen könnte, befreit zu sein von dem Fluch der Teilung der Welt in Gut und Böse, befreit von der Besatzungsmacht, dem unersättlichen Gott“. Und zugleich „die Ahnung von der begrenzten Dauer dieses Glücks, einmal ungebremst Ja! Sagen zu können.“ (ebd.)

Angst und Verwirrung

Das sind starke Worte, nur zu verstehen auf dem Hintergrund der Schilderung seines Gefangenseins in dieser engen, vom augustinischen Dualismus bestimmten kirchlichen Welt einer Pastorenfamilie nur neun Jahre nach Ende des 2.Weltkriegs. Mit einem sensiblen Pastorenkind, das die biblischen Geschichten, die kirchlichen Rituale und die elterlichen Erziehungsmaßnahmen ganz ernst nimmt und unter ihrer Einschüchterung leidet.

Nichts wird ausgelassen: die morgendlichen Glocken, die ihn „wachschlugen“,  die Tischgebete mit ihrer Insistenz, alles vom „heiligen Brot“ her zu sehen, die Mutter mit ihrer strengen Güte, die nur Wärme ausstrahlte, wenn sie abends mit den Kindern sang und betete, die absolute Feiertagsheiligung am Sonntag, die Vaterstimme während des  Gottesdienstes, der Vater, der im Namen des Vaters sprach, ununterscheidbar für das Kind, und der sich nie Vati, Papi oder Papa nennen ließ. Dazwischen der widerwillige Blick auf den Gekreuzigten, „Er hat auch für dich gelitten, ich konnte und wollte nicht einsehen, weshalb man so viel Leben aus einem Gequälten sog“ (46), der Friedensgruß des Kanzelspruchs („Er ist unser Friede“), der den Jungen verwirrte, weil es nicht sein Friede war. Delius findet für diese Angst und Verwirrung auslösende Sprach-und Ritualwelt eine rhapsodische Sprache, die von einer Ungeheuerlichkeit zur nächsten eilt, einem kaum Raum lässt aufzuatmen.

Es ist eine dicht gewebte Erinnerungserzählung, angetrieben von der seelischen Not eines Jungen, der nicht die Freiheit seiner Kameraden hat, über die Pastorenwelt zu lächeln und der eine körperliche Symptomatik entwickelt, die er auch wieder biblisch verorten muss. Er stottert, die Konsonanten wollen nicht herauskommen, sie verknoteten sich zwischen Zunge, Zähnen und Gaumen, besonders die Doppelkonsonanten, „ich hasste Wörter wie Glocken, Glaube, Gnade“(55), da stand er oft „schlotternd, stotternd mit rotem Kopf an der Sprache würgend, verfangen in Schuldgefühlen“(56).

In Babel dabei

Und findet eine Erklärung in der Turmbaugeschichte von Babel, als Gott die Sprache der Menschen verwirrte. „Mein Stottern war der Beweis, dass ich in Babel dabei gewesen war (…). Ich trug die Babelgeschichte mit mir herum, trug sie in mir aus, ich spürte den Turm in meinem Körper wachsen.“ (58f) Der Junge hat eine lebhafte Phantasie, und ein böser Höhepunkt der unglückseligen Sozialisationsrevue ist die Schilderung des  Mittagessens mit dem Braten nach dem Gottesdienst, „sehet und schmecket, wie freundlich er ist der Braten,“  in der Delius die Doppeldeutigkeit der biblischen Worte bis zur  Grenze des Zynismus auskostet, „bis vor lauter  Gottesfleisch und Gottessoße und Gotteskartoffeln nichts mehr schmeckte, sondern ich nur noch aß.“(69ff) 

Delius versammelt in seiner Jugendgeschichte alle fragwürdigen Elemente kirchlicher Erziehung, verstärkt durch die dicht geschlossene Lebenswelt einer ländlichen Pastorenfamilie. Da gibt es wenig Lichtblicke, und wenn dann nur außerhalb der eigenen Familie bei Besuchen im Dorf, wo es alltagsweltlich-agrarisch zugeht. Er schildert sich als empfindsamen Jungen mit körperlicher Symptomatik, der aber in seinem Innern schon widerständig ist, weil er vieles in Frage stellt. Und der nun angesichts der Reportage vom Endspiel aus Bern eine umstürzende Befreiungserfahrung macht. Und zugleich weiß er, dass dieses Glück nur von kurzer Dauer sein wird. Ganz wird er das kirchliche Erbe nicht loswerden können, welches im Übrigen ja auch zu seiner Empfindungs- und Beschreibungskraft den „Anstoß“ gab und ihn mit zu einem großen Schriftsteller machte.

Tradition unglücklicher religiöser Sozialisation

Delius Erzählung gehört so in die Tradition der Aufarbeitung unglückseliger religiöser Sozialisationsgeschichten – von Karl Philip Moritz Anton Reiser über Gottfried Kellers Grünen Heinrich bis zu Tilman Mosers „Gottesvergiftung“ (mit dem Motto: „Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war.“) Sie ist anklägerisch, manchmal auch böse, aber sie ist nicht tendenziös einseitig und ungerecht. Alles, was er anführt an Fragwürdigem in der christlichen Tradition, das gibt es, und es ist nicht in jedem Fall vorauszusagen, ob das Menschenfreundliche oder das Menschenfeindliche darin die Oberhand behalten wird.

Gewiss – viele der angstmachenden Deutungen beruhen auf Missverständnissen der biblischen Aussagen, aber sind die Texte nicht auch an ihren Missdeutungen schuld? Arbeiten die kirchlichen Rituale nicht mit Drohungen des Heilsverlustes für den Fall, dass sie nicht richtig genutzt werden? Werden die einladenden Erzählungen nicht durch einengende Merksätze am Schluss um ihre Wirkung gebracht?  Delius bringt in der Leidensgeschichte eines sensiblen Jungen eine strukturelle Schwäche biblischer Texte und kirchlicher Rituale auf den Begriff - sie sind missverstehbar und sie haben leider oft einen Drohaspekt. Und es kann geschehen, dass man sich von ihnen abwendet, bevor man ihren heilsamen Einfluss, ihren „Segensraum“ entdeckt hat. Wie der Erzähler, der sich von der begeisternden Sprache eines Fußballreporters zum weltlichen Glück des Fußballspiels befreien lässt.

Götze-Tor im fernen Brasilien

Den Sonntagabend im Jahr 2014, an dem ich zum vierten Mal Weltmeister wurde, verbrachte ich in meinem Literaturkreis vor einem großen HD-Fernsehgerät. Wir hatten zuvor über einen kleinen französischen Roman über den Ersten Weltkrieg 14 von Jean Echonoz gesprochen. Die Anspannung war bei einigen groß. Ich spielte ein wenig den Clown und kommentierte den Reporter mit seinen immer häufiger verunglückten Metaphern zur Endspielübertragung aus Rio de Janeiro. Die Frauen fanden das lustig, während  die Männer angesichts der argentinischen Großchancen tiefer in ihre Sessel sanken und still wurden, bis zu jener erlösenden 114.Minute in der Verlängerung, als Schürrle sich links durchsetzte, flankte und Götze mit der Brust den Ball annahm, sich drehte und ihn schon halb im Fallen ins argentinische Tor schoss. Und der Reporter: „Schürrle flankt, Götze nimmt den Ball an und schießt, der Ball ist im Tor.Tor. 1:0 für Deutschland.“

Kaum Anleihen bei der religiösen Sprache, keine Einfühlung wie 1954 in das, was wir nicht sahen und doch glaubten. Wir sahen es ja auch, das Götze-Tor im fernen Brasilien, in Zeitlupen-Wiederholung, sahen es mehrfach, der ganze Globus sah es, eine Milliarde Menschen sah es, dieses Tor, das Deutschland zum vierten Male zum Fußballweltmeister machte. Der geniale, aber selten überzeugende Götze hatte auch uns Theologen im Literaturkreis „erlöst“, die wir längst an die Übernahme der religiösen Sprache durch den Sport gewöhnt waren und den Fußball populärtheologisch deuteten, so wie Filme und Popmusik. Hunderttausende jubelten auf den Fanmeilen und beim Public Viewing.  Auch hier große Glücksgefühle, aber im öffentlich-kollektiven Rausch. Der Fußball eine Ersatzreligion, die eine Nation in rasenden Jubel, aber auch in tiefe Trauer stürzen kann (Brasilien nach der 1:7 Niederlage gegen Deutschland).  Ja, und da beschlich mich eine wehmütige Erinnerung an jene starken und  ursprünglichen Gefühle  des Pastorensohns und des Schreibers dieser Zeilen am 4.Juli 1954 allein vor dem Radio, als alles so neu war, so frisch glänzte in der Sprache des großartigen Herbert Zimmermann, diese Reportage - eine Fußball-Radiopredigt, wie es sie nie wieder geben wird!

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Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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