Isolierter radikaler Pazifist

Beten für die Befreiung Chersons? Das Friedensthema war auf der EKD-Synode zuerst ziemlich verdruckst, dann ganz offen ein Konfliktthema.
Der EKD-Friedensbeauftragte Landesbischof Friedrich Kramer bei der Synode der EKD
Foto: EKD/Jens Schulze
Der EKD-Friedensbeauftragte Landesbischof Friedrich Kramer bei der Synode der EKD.

„Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ So übersetzt der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Friedrich Kramer, eine zentrale Seligpreisung Jesu in der Bergpredigt. Er schmückt damit seinen schriftlichen Bericht vor der 13. Synode der EKD am Montagnachmittag in Magdeburg. Und verteidigt so seine nicht nur in der Kirche umstrittene radikalpazifistische Position, man dürfe keine Waffen an die Ukraine schicken. Damit aber ist er auf der Synode ziemlich allein, wie die Aussprache über die EKD-Friedensethik deutlich zeigte.

Manchmal transportiert eine Übersetzung schon die ganze These. So geschehen beim Bericht des Friedensbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vor der 13. Synode der EKD am Montagnachmittag in Magdeburg. Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und damit Gastgeber der Synodaltagung, stellte seinem mit einer gewissen Spannung erwarteten Bericht das berühmte, ja ein zentrales Jesuswort aus den Seligpreisungen der Bergpredigt voran. Die in der EKD maßgebende Lutherbibel von 2017 übersetzt den griechischen Urtext von Matthäus 5,9 so: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Bischof Kramer dagegen übersetzte: „Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Das kann man eine freie Interpretation nennen – oder Chuzpe. Denn Kramer stützt mit dieser theologisch ziemlich freihändigen Übersetzung seine Position in der Friedensfrage, die die Synode an der Elbe umtreibt, auch wenn dies zunächst nicht immer vor großem Publikum im Plenum offensichtlich ist. Meinte Jesus wirklich mit „Die Frieden stiften“ das, was wir heute nach zwei Weltkriegen und den beiden Atombomben auf Japan als „Pazifisten“ verstehen?

Der Friedensbeauftragte des Rates der EKD hatte gleich zu Beginn des Putin’schen Angriffskrieges gegen die Ukraine Ende Februar unter anderem in „zeitzeichen“ eine (radikal)pazifistische Haltung veröffentlicht, die in weiten Teilen der EKD für Kopfschütteln, wenn nicht Empörung sorgte. Und das, gerade weil er mit Autorität eines „Friedensbeauftragten“ seiner Kirche sprach, ein Amt, das Kramer erst seit Anfang des Jahres inne hat. Der politische Kern dieser Position: keine Waffenlieferungen an die Ukraine – auch wenn dies die völlige Eroberung des osteuropäischen Staates durch Russland bedeuten könnte, was in den ersten Tagen des Krieges ein durchaus mögliches Szenario war. Der Unmut, der in weiten Teilen des deutschen Protestantismus (und erst recht in der außerkirchlichen Öffentlichkeit) zu hören war, konnte den EKD-Friedensbeauftragten in den kommenden Monaten nicht ernsthaft anfechten. Er blieb de facto bei seiner Position.

Mit spitzen Ohren

Insofern verfolgten die Synodalen schon Kramers Eröffnungspredigt der Tagung am Sonntagmorgen im Dom zu Magdeburg mit spitzen Ohren: Würde er, weil er zufällig als gastgebender Landesbischof das traditionelle Vorrecht zu dieser Predigt hatte, noch einmal ins gleiche Horn blasen: Waffenlieferungen an die Ukraine – Nein!

Tatsächlich ließ sich der Friedensbeauftragte nicht lange bitten, das Thema kam in seiner Predigt recht schnell (obwohl das unverfängliche Motto des Gottesdienstes eigentlich war „Zu guten Entscheidungen kommen“). Kramer predigte: „Fürchten wir die Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft zu verlieren, wenn wir zu pazifistisch in der Kriegsfrage argumentieren? Wo ist unser Gehorsam gegenüber Jesu Gewaltlosigkeit? Ist Gewaltverzicht nur eine individuelle Option und keine der Kirche mehr, und waren wir nicht gestern noch unterwegs, eine Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens zu werden? Andererseits: Müssen wir nicht um der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe willen helfen, gerade auch mit Waffen?“ Und dann folgte auf der Kanzel im Magdeburger Dom der klare, wenn auch im Redemanuskript nicht vorgesehene Satz Kramers: „Ich sage Nein!“

Also, blieb Kramer eins zu eins bei seiner „Keine Waffenlieferungen an die Ukraine“-Position. Ja, es ist nicht übertrieben, die vorangehenden Sätze in der Predigt so zu deuten: Wer nicht so radikalpazifistisch argumentiert wie ich, hat doch eigentlich nur Angst, den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren. Wer sich anders als ich positioniert, ist ungehorsam gegen Jesus. Auch eine ganze Kirche sollte sich radikalpazifistisch aufstellen (nicht nur Individuen). Und: Wir verlassen als Kirche sonst gerade unseren Weg, eine Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens zu werden, was wir uns doch in den wichtigen Friedenspapieren von 2007 und 2019 vorgenommen hatten.

Showdown ab 15.39 Uhr

Bei Kramers Sätzen gab es Augenverdrehen und Stirnrunzeln m Dom, wie unter anderem die FAZ beobachtet hat. Und öffentlich gab es während der Synodaltagung lange Zeit keine Möglichkeit, Kramer zu widersprechen. Auch nicht, als er bei einem festlichen Abendessen als Teil eines Pausenprogramms in der profanisierten Johanniskirche, wo übrigens Otto von Guerickes liegt, verkündete, auf dem Weltkirchenrat-Treffen in Karlsruhe vor ein paar Wochen sei die Position „Sofortige Waffenruhe“ kaum umstritten gewesen, so habe er es seinen Gesprächen dort entnommen. Nur in Privatgesprächen danach wurde auf der Synode beim Wein an dem ein oder anderen Tisch unter den Synodalen Widerspruch laut, um es höflich zu sagen.

Dann schließlich so etwas wie der Showdown am Montagnachmittag im Synodenplenum: die Vorstellung seines Berichts zur Friedensarbeit. Der Friedensbeauftragte trat um 15.39 Uhr ans Podium und erklärte frank und frei, ob er die richtige Person für die Friedensarbeit in der EKD sei „wird inzwischen aufgrund meiner klaren Positionierung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine von manchen kritisch gesehen“. Kramer meinte, dass der Streit in der Kirche über das Friedensthema doch eigentlich etwas Positives sei: „Zwar sind Differenzierung und Vielstimmigkeit – gerade auch in friedensethischen Fragen – immer schon Kennzeichen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Diese zuzulassen und auszuhalten, ist eine ihrer großen Stärken.“ Es sei besonders bedenklich, „wenn versucht wird, die differenten Perspektiven zu polarisieren, sie in Schwarz-Weiß-Muster zu drängen, wenn etwa dem anders Denkenden in unsachlicher Abkürzung gewissenloser Militarismus oder naiver Pazifismus vorgeworfen wird, ihm gar sein Christsein abgesprochen wird. So soll es bei uns in der Kirche nicht sein.“

Der Friedensbeauftragte sagte, als Kirche „können und müssen wir ein Vorbild dafür sein, wie mit dieser Vielstimmigkeit bis hin zu gegensätzlichen Sichtweisen konstruktiv umgegangen werden kann“. Auf der einen Seite stehe der christlich gebotene Schutz des Nächsten und die Solidarität mit den Opfern, auf der anderen Seite der Ruf Jesu zu Gewaltlosigkeit und Feindesliebe sowie die Aufforderung, dem Bösen nicht mit Bösem zu begegnen. „Wir kommen nicht schuldlos aus diesen Fragen heraus, weil der Krieg selbst das Böse ist.“ Und etwas später apodiktisch: „Frieden wird nicht mit Waffengewalt geschaffen, das ist deutlich, aber wie kann Frieden werden?“

Friedensethik weiterentwickeln

Auch dies war, ganz klar, keine Abkehr Kramers von seiner Position, sondern wohl am ehesten der Versuch, die Vielfalt der Stimmen in der EKD als etwas Lobenswertes darzustellen, was nebenbei auch ermöglicht, dass er bei seiner Haltung ohne Einschränkungen bleibt. Und dies noch sagte er: „Unsere Aufgabe ist es, für den Frieden zu beten … Die Kraft des Gebetes ist nicht hoch genug zu schätzen!“ Der Friedensbeauftragte kündigte schließlich an, mit anderen „maßgeblichen Stakeholdern der Evangelischen Friedensarbeit“ in einem fast riesigen, auf Jahre angelegten Prozess, eine „Friedenswerkstatt“ zu etablieren, die die evangelische Friedensethik weiter entwickeln solle. Weiter entwickeln, nicht revidieren.

Danach folgte im Plenum das, was man als eine Abrechnung mit Kramer bezeichnen könnte: Die Synodale Katrin Göring-Eckardt, vor Jahren selbst Präses der Synode und derzeit wieder Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, machte deutlich, dass sie für Waffenlieferungen an die Ukraine sei. Eine individuelle Haltung des Pazifismus sei wohl kaum auf ganze Gremien zu übertragen, sagte die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen. Es gehe der russischen Seite eindeutig um die Zerstörung der ganzen ukrainischen Kultur, Sprache und Identität, ja darum, ein ganzes Volk zu zerstören. Verhandlungen ja – aber doch nur, wenn sichergestellt sei, dass die ganze Ukraine als freies Land erhalten bleibe.

Noch schärfer war der Synodale Arnd Henze: Die Position der Kirche müsse eine „Anschlussfähigkeit an die Realität“ haben und nicht nur einer sauberen Ethik der Friedensliebe folgen. Welche Ethik sei das denn, wenn man noch nicht mal mit Luftabwehrraketen helfen solle, so dass der russische Terror ende. Henze erinnerte an die etwa 600 Toten im Schutzraum des Stadttheaters von Mariupol, wehrlose Opfer eines russischen Bombardements. Der Pazifismus sei zwar eine unverzichtbare Stimme im Protestantismus. Aber Kramers Position laufe darauf hinaus, dass andere Staaten schon Abwehrwaffen liefern könnten – aber Deutschland nicht. Das aber sei nicht Pazifismus, sondern in Wirklichkeit Isolationismus.

„Zum Beispiel in Butscha“

Der berlin-brandenburgische Bischof Christian Stäblein kritisierte den „lieben Friedrich“ dafür, dass er den Krieg als eine „Entität“ sehe, in der sich alle schuldig machten und man nicht mehr in Opfer und Täter unterscheiden könne. Die seien aber sehr wohl zu identifizieren, „zum Beispiel in Butscha“. Und wo stünde die Ukraine heute, wenn alle Staaten den gewaltfreiem Konzept nach den Ideen Kramers gefolgt wären? Noch mehr spitzte es der Synodale und Bundestagsabgeordnete Hermann Gröhe (CDU) zu, der sagte, er wolle wie Kramer für den Frieden beten, aber auch „für die Befreiung Chersons vor dem Winter“.

Es folgten mehrere andere Wortmeldungen – aber eine klare Unterstützung Kramers war nirgendwo zu hören. Die Aussprache endete mit den nachdenklichen Äußerungen des jungen Synodalen Maik-Andres Schwarz. Er gab zu bedenken, ob die EKD nicht wirklich mit ihrer Friedensposition von 2019, fünf Jahre nach der Eroberung der Krim durch Russland, einen Weg des Isolationismus eingeschlagen habe. Sei nicht die geplante „Weiterentwicklung“ der EKD-Friedensethik de facto ein „Euphemismus“? Könne man nicht am Ende auch zum Ergebnis kommen, dass man mit dieser Position schlicht geirrt habe?

Es war offensichtlich, Kramer ist mit seiner Position ziemlich isoliert. Er bedankte sich gleichwohl für die Äußerungen, rückte aber keinen Millimeter von seiner Position ab. Er gab vielmehr unter anderem zu bedenken, dass Abwehrwaffen doch häufig dazu dienten, eigene Waffen zu schützen. Nach einer Dreiviertelsprache war die Aussprache auf der Synodentagung vorbei. Das Lied „Meine engen Grenzen“ wurde gesungen. Und endete mit der Zeile „Herr erbarme dich.“

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