Vater der deutschen Musik

Heute vor 350 Jahren starb Heinrich Schütz
Jubiläumskonzert "350. Todestag Heinrich Schütz" im Berliner Dom, 5.11.2022
Foto: Reinhard Mawick
Gedenkkonzert am Vorabend des 350. Todestages von Heinrich Schütz (Leitung: Kai-Uwe Jirka) am 5.11.2022 im Berliner Dom.

Gestern Abend war ein mitreißendes Mammutkonzert für Heinrich Schütz zu hören, der heute vor 350 Jahren gestorben ist. Eindrücke von einer wirklichen Sternstunde im Berliner Dom mit dankbaren Erinnerungen an und Klangbeispielen für eine Musik, ohne die sich der Autor ein Leben nicht vorstellen mag.

Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein, doch das Doppelkonzert zu Gedenken an den 350. Todestag am gestrigen Abend im Berliner Dom war ein Ereignis, das man wirklich nicht alle Tage hört: Der Berliner Staats- und Domchor, herausragende junge Vokalsolisten und das exzellente Ensemble Lautten Compagney entfalteten unter Leitung von Kai-Uwe Jirka in zwei Konzerten über insgesamt 150 Minuten ein Klangfülle, gepaart mit sprachlicher und rhythmischer Brillanz, wie man sie selten hört. Das Programm brachte die ganze Vielfalt der Musik von Heinrich Schütz: vom kleinen Geistlichen Konzert bis zum vielchörigen Klangereignis. Gleichzeitig konnten alle Register in Sachen Aufführungspraxis gezogen werden. Allein zwei Orgeln, zwei Lauten, eine Harfe(!), zwei Violonen und Schlagwerk standen im Continuofach zur Verfügung, dazu Violinen, Violen,  Gambe, Flöte, Zinken und drei Posaunen, dazu sieben tolle Vokalsolistinnen und -solisten sowie knapp 100 motivierte Knaben und (junge) Männer im Staats- und Domchor. Und diese Fülle nutzte Kai-Uwe Jirka in brillanter Weise immer wieder höchst geschickt. Jirka leitet den Chor, dem einst der geniale und leider zu früh aus dem Leben gegangene Hugo Distler (1908-1942) vorstand. Und es war Distler, der in seinem berühmten Aufsatz „Vom Geiste der neuen evangelischen Kirchenmusik“ im Jahre 1935 schrieb: „Man singe nur einmal selber im Chore etwa das Schütz'sche ,Die Himmel erzählen die Ehre Gottes' - da gewinnen Baum und Strauch und alle Kreatur, das ganze Universum eine Stimme."

Mit jenen Himmeln, die die Ehre Gottes erzählen, schloss der erste Teil des ersten Konzert, in dem der international renommierte Autor Daniel Kehlmann immer wieder kurze Abschnitte aus seinem großartigen Buch „Tyll“ vorlas, einem Roman, der die Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt und dort die Figur des Tyll Ulenspiegel in den Blick nimmt. Der Wechsel zwischen den kurzen Lesungen und der Musik „funktionierte“ gut: So folgte auf eine blutige Schlachtenszene, wo viele ins Verderben stürzten, die kunstvolle Motette „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt“ aus der Sammlung der Psalmen Davids von 1618. Oh ja, denkt der Zuhörer, die können es gebrauchen …

Augen, Herz und Sinne zu Gott

Da es unmöglich ist, auf die insgesamt 24 Werke des Doppelkonzerts jeweils im Einzelnen einzugehen, sei am Beispiel dieses fein gebauten Psalmkonzerts mal eine kleine Tiefenbohrung angelegt: Neben den wechselnden Abschnitten und den Tuttipassagen der beiden Chöre, haben auch vier Solisten ihre Funktion, die im ersten Teil des Werkes vier eindringliche kleine Ariosi singen – mit einer Solophrase des Soprans geht es gleich am Anfang los. In Girlanden windet sich die Partie elegant nach oben, gen Himmel. Man spürt, ja sieht vor dem inneren Auge gleichsam, wie ein suchender Mensch Augen, Herz und Sinne nach Gott hin ausrichtet, aber das keinesfalls schüchtern oder gar angstvoll, sondern voll kraftvoller Glaubenszuversicht, ganz aktiv-energetisch: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen …“, worauf dann die beiden Tuttichöre eng verschränkt den Satz vollenden können: „… von welchen mir Hilfe kommet“ – Herrlich! Dann folgt ein dreifaches Wechselspiel Solo-Chöre, in denen Schütz wieder eine unvergleichliche Mischung von Lautmalerei entfaltet. Die Betonung der Silbe „ge-MACHT hat in der Zeile „… der Himmel und Erde gemacht hat“ wirkt fast so, als ob die Psalmensänger voller Schöpfungsfreude fröhlich auf den Tisch hauen. Viele Beispiele könnte man nennen und die Versammlung der Berliner Schützspezialisten um Kai-Uwe Jirka nutzte sie alle weidlich aus! So geht das gut die Hälfte des Werkes lang, dann kommt als drittes Element ein fein komponiertes Zwischenspiel, in dem die vier Solisten – nun ineinander verschränkt, quasi in einer Aria a 4 – zu Wort und Klang kommen. Besonders eindrücklich gerät dabei die Zeile „Der Herr ist ein Schatten über Deiner rechten Hand, dass die die Sonne nicht steche“: Die Zuhörenden "sehen" dabei vor dem inneren Auge quasi den behütenden, Hitze abhaltenden, gleichsam heilsam-frohen Schatten Gottes voran wandern. Dann kommt die trostvolle „Schlussapotheke“, das heißt, beide Chöre singen sich im Tutti den hoffnungsvollen Segen: „Der Herr behüte Deinen Ausgang und Eingang – von nun an bis in Ewigkeit!“ zu. Herrlich! Und wer Ohren hat zu hören, der höre!

„Tränen des Vaterlandes“

Nach einer etwas längeren Pause folgte im Berliner Dom auf das erste Konzert bzw. die erste Hälfte des Abends, der unter der Überschrift „Verleih uns Frieden“ stand, ein zweiter Teil, dessen Überschrift lautete: "Wie liegt die Stadt so wüst“. War im ersten Konzert fast ausschließlich Musik von Schütz zu hören, so erklangen in dieser Hälfte auch Werke anderer Komponisten, die zur Namensgebung dieses Teils animiert hatten. Zum einen die eindrückliche gleichnamige Kantate für Sopran, Bass und Instrumente von Matthias Weckmann (1615-1674), einer der Meisterschüler von Heinrich Schütz, und die berühmte Motette gleichen Titels von Rudolf Mauersberger (1889-1971), der vierzig Jahre als Kreuzkantor in Dresden amtierte. Zum anderen, ganz am Ende, „Verleih uns Frieden“ von Andreas Hammerschmidt (1611-1675) und das berückende „Pur ti miro“ von Claudio Monteverdi. In diesem zweiten Konzertteil  lieferte der Schriftsteller und Dramaturg Christian Filips mit barocken Textlesungen, unter anderem aus dem Lebensbericht Heinrich Schütz‘ von Martin Geier und das berühmte Gedicht „Tränen des Vaterlandes“ von Andreas Gryphius überaus passende Beiträge, und das Monteverdi-Duett bildete nicht nur ein emotional toller Abschluss als Appell an die Liebe und als Anrufung der Liebe, sondern es war eine Verbeugung vor Claudio Monteverdi, dem Giganten der musikalischen Stilwende um 1600, dem Kreator der Seconda Pratica und Geburtshelfer der europäischen Barockmusik, deren Früchte Heinrich Schütz von seiner zweiten Italienreise 1628/29 mitbrachte und für die deutsche Sprache und da insbesondere die Texte der Lutherbibel fruchtbar machte. Zuvor waren im Konzert als letzter großer Komplex die berühmten „Musicalischen Exequien“ erklungen, dabei mit verschiedenen im Raum verteilten Ensembles denselben geschickt nutzend.

P.S. Von einigen ist in den vergangenen Tagen bedauert worden, dass das Schütz-Gedenkjahr, bundesweit nicht richtig gezündet hat und Jubiläumskonzerte und -konferenzen eher auf regional-mitteldeutscher Schiene stattfanden. Ob das stimmt, müsste empirisch überprüft werden. Aber der durch und durch beeindruckende und gelungene Doppelklang im Dom setzte gestern, am Vorabend des heutigen 350.Todestages, mitten in der deutschen Hauptstadt einen trefflichen Akzent anlässlich des Gedenkens an Heinrich Schütz. Ein Künstler, ein Tondichter, dessen Wirkung für die deutsche Musik schwerlich überschätzt kann. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die ewig jungen Werke von Heinrich Schütz nicht nur, wie einst Distler so trefflich schrieb, „Baum und Strauch und alle Kreatur, das ganze Universum eine Stimme“ gewinnen lassen, sondern auch heute durchaus große Kraft entfalten kann, im Glauben gewiss und im Herzen froh zu machen.

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