Vom hohen Ross gestiegen

Wo sind die durchgestrichenen Kürbisse geblieben?
Foto: Christian Lademann

Gerade war Halloween. Zumindest für die Familie in meiner Siedlung, die ihr Haus zu einem beeindruckenden Gruselkabinett umgestaltet hat, war am 31.10. ganz bestimmt Halloween. Jedes Mal, wenn ich an den Kürbisfratzen in ihrer Einfahrt vorbeigegangen bin, war ich ein wenig froh, dass die Zahl des ausgeschnitzten Gemüses im Zweifelsfall sicher reichen würde, um böse Geister aus der ganzen Wohnsiedlung fernzuhalten. Ich selbst hatte keinen Kürbis vor meinem Pfarrhaus stehen. Das war weniger ein öffentliches Statement pro Reformationstag als viel mehr der Tatsache geschuldet, dass ich derart wenig handwerkliches Geschick habe, dass die bösen Geister sich sicher kaputtlachen würden.

Ich selbst habe am 31. Oktober Reformationstag gefeiert. Da ich Urlaub hatte, konnte ich ausnahmsweise mal ganz in Ruhe bei einer Tasse Kaffee in der Morgensonne darüber nachsinnen, wo die Welt Neuaufbrüche braucht. Natürlich erst nachdem ich noch kurz meinen Süßigkeitenvorrat aufgefüllt hatte, falls kleine Geister an der Haustür klingeln. Irgendwann öffnete ich zum ersten Mal an diesem Tag meine social-media-accounts. Ich erwartete wie jedes Jahr am 31. Oktober mit massenweisen durchgestrichenen Halloween-Kürbissen und empörten Beiträgen konfrontiert zu werden, die mich darüber belehren wollen, worum es heute eigentlich geht und was mit der Welt verkehrt ist, in der man sich lieber verkleidet und „Süßes oder Saures“ ruft. Dass ich kaum solches Halloween-Bashing gelesen habe, verblüfft mich. Nachdenkliches über die Rechtfertigung habe ich von kirchlich Aktiven wahrgenommen, Engagiertes zu dem,  was die Reformation für die Frage nach den gegenwärtigen kirchlichen Entwicklungen beiträgt, Humorvolles von unserer Präses Nicole Heinrich. Viel Kluges und Offenes habe ich gesehen anstelle des gewohnten Abschottungs-Bashings.

Veränderter Zungenschlag

Ich glaube, in diesem veränderten Zungenschlag zeigt sich etwas. Offenbar haben die Krisen einen beginnenden Realitätsschub inmitten der Kirche bewirkt. Nachdem die großen Kränkungen, die sich nicht zuletzt an dem unsäglichen Wort "Systemrelevanz" aufgehangen haben, langsam verdaut sind, scheint sich in der Tat ein verändertes kirchliches Selbstverständnis auszubilden. Das Narrativ, dass die Kirche noch die allumfassende kulturelle Deutungshoheit über alles und jeden habe, hat auch vorher kaum noch getragen. Nun endlich scheint sich ein kollektives Wissen dazu einzustellen. Es scheint sich sukzessive ein kirchliches Selbstverständnis auszubilden, das von seinem hohen Ross heruntergekommen ist und endlich den eigenen Platz im Kontext gesellschaftlicher Vielstimmigkeit anerkennt. Die Kirche beginnt zu lernen, dass sie eine gleichberechtigte Stimme neben anderen ist. Sie beginnt die eigene Partikularität spielerisch anzunehmen und experimentiert, wie sich aus dieser Position heraus wirksames kirchliches Handeln entfalten lässt. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein solches Selbstverständnis nicht der Anfang vom Ende ist, sondern der wesentliche reformatorische Impuls, den unsere Kirche braucht, um relevant und zukunftsfähig zu sein.

Wenn an meinen Wahrnehmungen zum Fehlen des Halloween-Bashings etwas dran sein sollte, wäre das ein deutliches Zeichen, dass es sich gegen allen Anschein am Ende bei der Kirche doch um eine lernende Organisation handelt. Das wäre ein echter Grund zum Feiern. Nicht nur im Gottesdienst zum  Reformationstag oder auf Halloween-Partys.

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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