„Ein Appell an die eigene Mündigkeit“

Gespräch mit Stefan Rhein, dem Leiter der LutherMuseen über die Aktualität der Reformation, die Bedeutung Melanchthons und die Diskussion um die „Judensau“ in Wittenberg
Ausschnitt vom Denkmal des Reformators Martin Luther (1483 - 1546) mit der von ihm ins Deutsche uebersetzten Bibel in der Hand auf dem Marktplatz in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) am 11.09.2018. In den Jahren 1521/22 uebersetzte Martin Luther im Schutze​ der Wartburg in Eisenach das Neue Testament ins Deutsche.
Foto: epd /Stefan Schellhorn
Ausschnitt vom Denkmal des Reformators Martin Luther (1483 - 1546) mit der von ihm ins Deutsche übersetzten Bibel in der Hand auf dem Marktplatz in Wittenberg. In den Jahren 1521/22 übersetzte Martin Luther das Neue Testament ins Deutsche.

zeitzeichen: Herr Dr. Rhein, werden am heutigen Reformationstag die Luther-Museen voller sein als an anderen Tagen?

STEFAN RHEIN: Am Reformationstag ist Wittenberg ein „Gesamtkunstwerk“ der Reformation: mit Gottesdiensten, Vorträgen, Konzerten, in diesem Jahr mit einer besonderen Klanginstallation zu den 95 Thesen. Im Mittelpunkt steht für viele Menschen, die nach Wittenberg kommen, allerdings das historische Marktspektakel mit Kunsthandwerk und Kleinkunst. Man läuft durch eine kleine Stadt und gleichzeitig durch einen Ort von Weltgeschichte, vorbei an zahlreichen UNESCO-Weltkulturstätten. Dazu gehören auch unsere Museen, die sich an einem solchen Tag natürlich über besonderen Zuspruch freuen, wie überhaupt September und Oktober gute Monate sind

Wie hat sich denn das Interesse nach dem Reformationsjubiläum 2017 entwickelt?

STEFAN RHEIN: Das war ohne Zweifel ein einmaliges Jahr. Da ging ja eine Woge durch das ganze Land die auch kleinste Orte und Gemeinden erfasst hatte, das war nicht nur ein kirchliches, sondern auch ein kultureller Höhepunkt. Das ist so nicht wiederholbar. Zudem waren die vergangenen Jahre geprägt durch Corona, weshalb die Gruppen aus dem Ausland weggeblieben und noch nicht wieder zurückgekommen sind. Im Lutherhaus erwarten wir in diesem Jahr rund 50.000 Besucher und Besucherinnen, damit sind jetzt wieder etwa auf dem Niveau von 2019. Aber es kommen weitere Jubiläen, kleinere Wellen der Erinnerung, die aber doch besondere Anlässe für Veranstaltungen sein werden: in diesem Jahr das Jubiläum der Lutherbibel, 2025 der Bauernkrieg mit der spannenden Herausforderung, die unterschiedlichen Gedenktraditionen der DDR und der alten Bundesrepublik heute zusammenzuführen, und 2030 das Augsburger Bekenntnis. Da erwarten wir schon nochmal ein besonderes Interesse.

Offenbar entwickelt sich aber die Museumspädagogik schon jetzt besonders gut

STEFAN RHEIN: Ja, das freut uns sehr. Es gibt ein großes Bedürfnis von Schulklassen und Konfirmandengruppen, hinaus zu gehen. Wir reagieren darauf mit Mitmachausstellungen, in Eisleben und hier in Wittenberg. Der Hit ist zur Zeit „Tatort 1522 – Das Escape-Spiel zur Lutherbibel“, bei dem man in Wittenberg in unserem Augusteum in verschiedenen Räumen einen Krimi löst, etwa in Melanchthons Übersetzerbüro, in Cranachs Werkstatt oder in der Druckerstube Melchior Lotters. Wir wollen in einer Region, in der nur ca. 15 Prozent Christen sind, besondere Formen finden, mit denen wir das Interesse an einem Thema wie der Lutherbibel wecken können.

Selber denken

Was ist für Sie, jenseits von Jubiläen, ein Thema der Reformation, das 2022 in einer Welt voller Krisen besondere Aktualität hat?

STEFAN RHEIN: Die Lutherbibel würde völlig entwertet, wenn man sie nur als sprachliches Ereignis sehen würde. Sie ist auch und ganz besonders ein Appell an die Mündigkeit des Einzelnen. Jeder hat durch sie direkten Zugang zu den Quellen und damit auch die Pflicht, selbst zu denken und sich eine eigene Meinung zu bilden. In einer Zeit, die von Fake-News und Meinungsblasen geprägt ist, ist das ein ungeheuer aktueller und wichtiger Aspekt der Reformation.

Sie sind Melanchthon-Experte. Leiden Sie darunter, dass er immer ein wenig Schatten von Martin Luther steht?

STEFAN RHEIN: Ich bin jedenfalls gern und mit Überzeugung ein leidenschaftlicher Botschafter für den Humanisten und Reformator Melanchthon und versuche, seine Faszination über Geschichten, die ihn oft in völlig unerwartetem Licht zeigen, den Menschen nahe zu bringen. Er gilt ja als eher trockener Intellektueller neben dem glühend glaubenden Martin Luther. Doch Melanchton ist der Reformator, von dem die meisten Gebete überliefert sind. Er war also auch ein frommer Mensch. Er hatte viele Träume, war auch ein spiritueller Mensch, der die Natur als von Gott beseelt sah. Und er hatte eine eigene Position zum Umgang mit dem Judentum; so verfasste er eine hebräische Grammatik und kritisierte die zeitgenössischen Judenprogrome etwa in Brandenburg. Er war gewiss kein Toleranzengel, aber mit Blick auf fremde Kulturen offener und sensibler als zum Beispiel Martin Luther.

Offene Wunde

Die Stadtkirche in Wittenberg mit der sogenannten „Judensau“ ist nicht Teil der Luther-Museen, sondern gehört zu einer Kirchengemeinde, die gerade entschieden hat, das Schmährelief nicht abzunehmen, wie es von vielen Menschen gefordert wird. Wie bewerten Sie das?

STEFAN RHEIN: Ich habe immer dafür plädiert, dieses Schandmal an seinem Ort zu belassen, und bleibe dabei. Denn es gibt ein Gegenmal, einen großen Stolperstein, der mit anderen Elementen seit 1988 einen Kontrapunkt setzt. Davor habe ich als in Süddeutschland Geborener großen Respekt. Diese Gemeinde hat sich vor allen anderen Gemeinden in Deutschland mit dem Schandmal beschäftigt und die damit verbundene Schuld sichtbar gemacht. Es gab hier schon 1988 eine Ausstellung über jüdisches Leben und Antisemitismus in Wittenberg zur Zeit des Nationalsozialismus. Wer diese Gemeinde, die sich dieser Schuld unter schwierigen politischen Vorzeichen gestellt hat, auf die Anklagebank setzen will, sollte diese Vorgeschichte nicht außer Acht lassen. Geschichte kann nicht entsorgt werden. Das Relief abzunehmen, macht nichts besser. Die Antwort auf dem Boden braucht auch die Frage an der Kirchenwand. Inwieweit das Ensemble erweitert oder neugestaltet werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Es bleibt eine offene Wunde in der Geschichte, die wir nicht verstecken können und mit der wir uns immer wieder auseinandersetzen müssen.

Das Gespräch führte Stephan Kosch am 28. Oktober 2022 via zoom.

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Foto: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt

Stefan Rhein

Dr. Stefan Rhein ist promovierter Altphilologe und seit 1998 Vorstand und Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (LutherMuseen).

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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