Von Liebe zur Welt

Roman über Hannah Arendt

Hannah Arendt ist zurück. Nein, sie war nie weg. Nur die Sehnsucht nach ihrer unverstellten Art des Seins im Sprechen und Schreiben, ihre geschwätzlose Geradlinigkeit, die sie in ihrer phrasenfreien Direktheit so wohltuend für sich stellt, wenn sie der Liebe zur Welt auf den Grund geht wider alle salbungsvolle Leere, wird neu geweckt und inspirierend gestillt in Hildegard E. Kellers Romanerstling Was wir scheinen.

Wenn man mit Hannah Arendt durch die gut 500 Seiten der neuen Taschenbuchausgabe wandert, begegnet einem eine temperamentvolle Frau, der ihr Mann einst liebevoll ins Stammbuch schrieb: „Hannah, du bist ein Mensch aus einem Guss. Wort und Tat können bei dir nicht im Widerspruch stehen.“ Diese intime Hommage in diesem Biografisches und Fiktives überzeugend verschmelzenden Roman durchgehend spürbar zu machen, ist ein erstes großes Verdienst dieses Buches, das die 69-jährige Hannah Arendt im Sommer 1975 im Urlaub im Tessin begleitet, wo sie der Zeit auf den Grund geht und ihren Erinnerungen die Tore öffnet. Das gelingt in erfrischender Lebendigkeit vor allem in Gesprächen, die die Momente der Muße kostbar kristallin werden lassen als Beweisführung des König-Schlange-Dialogs Goethes.

Ein weiteres Verdienst ist die leichtfüßige Einführung in das Denken dieser Frau, ihr Wachsen an und Lösen von ihren Lehrern Martin Heidegger und Karl Jaspers, ihre Vorliebe für Kant, ihre Erkenntnis- und Urteilskraft, geschärft und mutig schutzlos in den Wind der Welt gestellt mit ihrem berühmtesten Werk Die Banalität des Bösen.

Damit verbindet Hildegard E. Keller geschickt zwei besonders kraftgebende Eigenschaften Hannah Arendts – die der Befreiung ihrer selbst von aller weltlichen Willkür durch das Lachen als Form der Emanzipation und Souveränität – auch im Umgang mit Spaltungsenergie innerhalb der eigenen Gemeinschaft – und die der Tröstung im Gedicht. Hildegard E. Keller offenbart Hannah Arendt hier nicht nur als Kennerin der Werke Schillers, Brechts oder Ingeborg Bachmanns – mit der es im Buch wiederholt zu besonderen Begegnungen kommt –, sondern selbst als Poetin, die noch in dieser erhabensten Form der Reduktion unüberlesbar sie selbst ist und sich selbst findet. So eröffnet sich auch der Buchtitel als Adaption eines Verses von Hannah Arendt: „Was wir sind und scheinen,/ach wen geht es an./Was wir tun und meinen,/niemand stoß sich dran.“ Diese wie ein Schatz verborgene lyrische Seite und die Reflexion darüber erfahren im Buch eine bemerkenswerte, mehr als gerechtfertigte Präsenz und machen umso deutlicher fühlbar, welche Welt in der Erkenntnis ruht, „sich selbst sein, das ist das ganze Leben“.

Das größte Verdienst des Romans schließlich liegt in der Offenbarung der das eigene Schicksal mutig und heiter in die Hand nehmenden Menschlichkeit der Hannah Arendt, die sich auf zwei besondere Beziehungen stützt, die lebenslange Ratgeber und Gesprächspartner waren: zu ihrem Mann Heinrich Blücher und zu Kurt Blumenfeld, einem der bedeutendsten Zionisten, mit dem Hannah Arendt seit den frühen 1930er-Jahren eng befreundet war. Die dramaturgisch brillanten und geradezu plastisch erlebbaren Gespräche um Wahrheit und Vernunft, Freundschaft und Wahrhaftigkeit sind von großer Empathie und jener herzimmanenten Klugheit getragen, ohne die ein fühlendes Leben nicht zu existieren vermag. Hier reifen Erkenntnisse wie „Menschen sind mehr wert als ihre Meinungen“ zu Menschenfreundlichkeit als Brücke in die Welt zwischen Fern- und Heimweh. Hier werden mit dem Journalistenfreund Alain Fraternité, Égalité und Liberté noch um Amitié und schließlich Verité erweitert. Hier schlägt das Herz des Buches, und aus ihm klingt das Lob auf die Schönheit der Welt. Sie zweifeln daran? Lesen Sie. Ermutigender war lange nichts. Nur eins fehlt: ein Glossar, das alle Beteiligten angemessen schnell erschließt.

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