„Es kommt alles schneller“

Der Darmstädter Pfarrer Steffen Bauer ist Experte für Kirchenreformprozesse. Er ist überzeugt, dass sich die Kirche rascher wandeln wird, als viele es heute vermuten
Baustelle vor der Matthäuskirche am Potsdamer Platz in Berlin.
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Baustelle vor der Matthäuskirche am Potsdamer Platz in Berlin.

zeitzeichen: Herr Bauer, mit der Parole „Ecclesia semper reformanda“ war früher meistens gemeint, dass wir in der Kirche die kirchliche Lehre auf der Höhe der Zeit halten sollten. Heute wird sie eher auf den Reformprozess unserer kirchlichen Organisationsformen bezogen. Aber seit wann gibt es in Deutschland überhaupt diese spezifisch organisatorischen Kirchen­reformprozesse?

STEFFEN BAUER: Seit ihrer faktischen Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich unsere Kirche ständig in Reformprozessen. In den dreißig Jahren zwischen 1950 und 1980 wurden in Westdeutschland etwa 5 000  Gemeindehäuser gebaut und eingeweiht. Jede Kirchengemeinde sollte eine Kirche, ein Gemeindehaus, ein Pfarrhaus für jeden Pfarrer und möglichst auch noch einen eigenen Kindergarten haben. Das erschien nötig, denn auf einmal waren durch die Flüchtlinge aus den Ostgebieten viel mehr evangelische Menschen da, und die Kirche hatte zumindest ab Ende der 1950-er Jahre auch genügend Geld, um so zu expandieren. Schon im Laufe der 1960er-Jahre merkte man: Die Menschen werden in ihren Lebensweisen vielfältiger, und viele werden nicht mehr über die örtlichen Kirchengemeinden erreicht. So wurde ab Ende der 1960-er Jahre bis mindestens Mitte der 1980-er Jahre viel um die Gemeinden herum aufgebaut. Die sogenannten funktionalen Dienste kamen hinzu, etwa Industrie­arbeit, Krankenhausseel­sorge, Studierendenseelsorge – also all die Spezial­funktionsstellen. In diesen Reform­jahrzehnten versuchte die Kirche, der Entwicklung unserer Gesellschaft zu folgen. Und solange man finanziell aus dem Vollen schöpfen konnte, ging das auch ganz gut. Aber dann, spätestens Anfang der 1990-er Jahre, wuchsen das Faktum und die Erkenntnis: Wir verlieren Mitglieder, und wir haben weniger Geld. Ich bin 1989 in den kirchlichen Dienst eingetreten, und ich kann mich an nichts anderes erinnern, als dass die Leitenden immer gesagt haben: Wir müssen sparen, wir haben nicht mehr so viel Geld.

Diese Knappheitserfahrung Anfang, Mitte der 1990er-Jahre traf mit einem neoliberalen Zeitgeist zusammen. Es gab das „Hamburger Hauptpastoren-Papier“, das von der Unternehmensberatung McKinsey beeinflusste „Evangelische München Programm“, es gab Kongresse mit dem Titel „Unternehmen Kirche“ und vieles mehr.

STEFFEN BAUER: Ja, es war die Phase der Optimierungsprogramme, der Effizienzsteigerung. Wir haben zum ersten Mal mit Zahlen gearbeitet. Und das war dann 2006, als das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ als Kulminationspunkt dieser Entwicklung erschien, ein großer Aufreger: die Rede von Taufquoten, vom Wachsen gegen den Trend und die Forderung nach Zusammenlegung von Landeskirchen. Viele befürchteten: Wir verkaufen uns an eine andere Sache, an ein marktwirtschaftliches Denken, das nicht zur Kirche passt. Aber beim Nachdenken über die Kirche stand künftig die Organisation im Mittelpunkt. Aus dem wenig angefochtenen Selbstbewusstsein der Institution Kirche wurde das selbst­kritische Fragen einer zunehmend kritisch beäugten Organisation Kirche.

Unmittelbar nach „Kirche der Freiheit“ kam die Finanzkrise 2008. Aber in den Jahren danach, letztlich bis heute, herrschte eine überraschende finanzielle Prosperität. Wenn man vom Einbruch 2020 durch den Corona-Schock absieht, wo das Kirchensteuerauf­kommen erstmals seit langem wieder etwas schrumpfte, blieb doch bisher finanziell alles recht stabil, oder? 2021 gab es nominell ein höheres Kirchensteueraufkommen als 2019.

STEFFEN BAUER: Niemand konnte ahnen, dass wir eine so lange Phase so guter Finanzbedingungen haben würden. Das fällt uns heute auf die Füße, weil die Prognosezahlen finanzmäßig nicht stimmten. Das gibt denen Oberwasser, die sagen: „Ach, warten wir es doch erstmal ab.“ Der Elan einiger Reformprozesse von Anfang der 2000er-Jahre ist zusammengesackt, weil der Spardruck nachließ, und weiterhin bleibt es ja auch schwierig, die Entwicklung der Finanzen vorherzusagen. Aber uns beschäftigt ja seit Jahren ein viel größeres Problem: Wir finden zu wenig Menschen, die für die Kirche arbeiten wollen – besonders Pfarrer­innen und Pfarrer. In den nächsten zehn Jahren werden wir deutschlandweit dreißig bis fünfzig Prozent weniger Pfarrerinnen und Pfarrer haben, und in anderen kirchlichen Berufsgruppen sieht es ähnlich aus. Und da geht es durchaus auch ums Geld, denn die wachsenden Versorgungslasten der Beamten sind eine tickende Zeitbombe, aber das wäre ein Thema für sich …

Vor drei Jahren hat die sogenannte Freiburger Studie für viel Aufsehen gesorgt, wobei das, was die Forscher veröffentlichten, für   Insider ja gar nicht überraschend war. Dennoch hatte man den Eindruck, dass sich da ein Schalter umgelegt hat …

STEFFEN BAUER: Das Neue an der Freiburger Studie war diese minutiöse Art der Aufarbeitung. Es wurde für jede Landeskirche, für jede Diözese berechnet, wie es künftig Jahr für Jahr sein wird. Wobei die Studie von 2019 jetzt schon überholt ist, denn das Abschmelzen der Mitgliederzahlen passiert viel schneller. In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gingen wir noch 2019 von einem Einsparbedarf von 100 Millionen Euro bis 2030 aus. Nach den neuesten Zahlen und neuerlichen Prognosen aus Freiburg sind es jetzt 140 Millionen Euro. Das heißt: Es kommt schlimmer, es kommt schneller. Allein in Frankfurt/Main haben wir im vergangenen Jahr 4,3 Prozent der Kirchenmitglieder verloren – eine neue Dimension.

Das Besondere war ja, dass in der Freiburger Studie stand, man könne durchaus etwas gegen den Mitgliederschwund tun. Der Tenor der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen und anderer Studien war bisher eher so: Die Kirche macht eigentlich gute Arbeit, aber am Großtrend der Säkularisierung, also dem stetigen Abbröckeln, dem Mitgliederschwund, kann sie nichts ändern.

STEFFEN BAUER: Genau dieser aktivistische Impuls ist interessant und wird in den nächsten Runden im Ringen um die Transformation eine ganz wesentliche Rolle spielen. Denn wir müssen uns verändern, wenn wir viele verschiedene Menschen ansprechen wollen. Neue Formate, wie Tauffeste und Segenshochzeiten, sind jetzt an vielen Orten groß in der Erprobung. Dadurch wird deutlich, dass Veränderung heißt, sich intensiv auch mit Fragen der Mitgliedschaft und des parochialen Systems zu beschäftigen. Denn mit der neuen Kasualpraxis stellt sich ja das alte System selbst in Frage. Was darf, was soll der Ortspfarrer, die Ortspfarrerin noch exklusiv tun?

Von Taufunterweisung und Katechumenat ganz zu schweigen.

STEFFEN BAUER: Ich finde das total spannend: Die eine große Triebfeder der gegenwärtigen Transformationsprozesse, ohne die es nicht geht, ist die herrschende oder kommende Ressourcenknappheit. Die andere aber ist die Notwendigkeit geistiger und geistlicher Kirchenentwicklung. Ich behaupte, unser bisheriges Parochial­system wird in wesentlichen Teilen ausgehebelt werden. Nicht weil wir die Parochie auflösen, das meine ich überhaupt nicht, aber indem wir Fragen der Zuständigkeiten und der Rechte neu klären. Wenn wir den Menschen die Möglichkeit geben, sich in Eckern­förde am Meer in einem großen Event taufen zu lassen, dann erleben sie die Kirche so als Gemeinschaft. Da haben wir bisher immer gesagt, das gehört eigentlich in die Mitte der Gemeinde, also in den Gottesdienst.

In jene Zwangsgemeinschaft, die vielen in der Kerngemeinde vorschwebt, Sonntag, 10 Uhr …

STEFFEN BAUER: … mit 14 Leuten Kerngemeinde, von denen vier missmutig sind, weil die Kinder schreien. So etwas werden wir mindestens ergänzen müssen, und das ist auch gut so. Aber es stellt das Kirchenbild vieler, die der Kerngemeinde und ihrem herkömmlichen Leben eng verbunden sind, in Frage. Ob wir dieses not­wendige neue Nebeneinander zu­lassen – das ist die spannende Frage.

Aber ist es nicht ein relativ altes kirchensoziologisches Wissen, tradiert in allen EKD-Kirchenmitgliedschafts­untersuchungen seit 1972, dass die meisten Menschen in erster Linie die alte vertraute Kirche mit ihren pfarramtlichen Vollzügen wollen und bloß nicht mehr? Demnach lebt Kirche paradoxerweise von denen, die sich für die elaborierten Details kerngemeindlicher Aktivitäten oder kirchlicher Initiativen gar nicht interessieren. Ist das eine weiterhin richtige Diagnose?

STEFFEN BAUER: Ich bin mir nicht sicher, denn da muss man differenzieren. Ich denke, dass der Soziologe Andreas Reckwitz Recht hat. Er diagnostiziert seit den späten 1990er-Jahren den „Aufbruch in die Spätmoderne“ und in eine „Gesellschaft der Singularitäten“. Damit meint er ja auch etwas Para­doxes, nämlich den Drang vieler Menschen, ein singuläres, einzig­artiges Leben zu führen, aber das zum Beispiel auf Social-Media-Kanälen, wo Millionen andere genau dasselbe tun. Auf die Kirche übertragen heißt das: Unser traditionelles Angebot zum Beispiel am Sonntagmorgen ist schon lange nicht mehr mit dem Lebensgefühl der meisten unserer Mitglieder vereinbar. Das ist gar keine neue Erkenntnis, aber jetzt, wo die Beteiligungszahlen immer weiter sinken, kommt es noch einmal deut­licher zum Vorschein, wie wenig es der Lebensweise der meisten Menschen entspricht. Tauffeste oder Segenshochzeiten aber sind gefragt, also religiöse Events, bei denen Menschen ganz spontan sagen: Ich will den Segen Gottes haben …

… der der Kirche immer noch zugetraut wird?

STEFFEN BAUER: Ja, und wir merken es in der Breite überhaupt erst, dass uns Segenskraft zugetraut wird, seitdem es solche Tauffeste und Segenshochzeiten gibt. Ich freue mich deshalb sehr über die Taufinitiativen landauf, landab, denn viele Menschen sagen: „Macht so etwas, ich komm dann! Aber in den Sonntagsgottesdienst um 10 Uhr in der Ortsgemeinde komme ich bestimmt nicht, und schon gar nicht als Alleinerziehende, denn ich kann keine große Party machen und alle Nachbarn einladen. Aber in Eckernförde eine von 200 Tauffamilien zu sein, das ist wunderbar.“ Also ich glaube, dass die meisten Menschen in Zukunft ihre Kirchenzugehörigkeit eher auf solche Resonanzereignisse gründen und nicht mehr auf eine lebenslange, vereins­mäßige Bindung.

Aber welche Funktion haben dann noch die Mitglieder der Kerngemeinde? Die muss es ja auch irgendwie geben, oder?

STEFFEN BAUER: Natürlich, denn sie halten das gesamte System mit den Angeboten, die sie stützen und tragen, am Laufen. Sie müssten vielleicht nur einen Hauch demütiger werden und von dieser Haltung wegkommen, die oft zu spüren ist, nämlich: „Wir wollen eigentlich, dass die anderen werden wie wir.“ Ich bin auch überhaupt nicht der Meinung, dass wir alles neu machen müssen, denn manches tun wir auch stellvertretend für die Vielen. Aber wir müssen es endlich schaffen, auch um die unausweichlichen Ressourcen­fragen zu beherrschen, die Erkenntnis in die Tat umzusetzen, dass es die Gemeinde allein nicht mehr schaffen kann, denn das ist eine permanente Überforderung des hauptamtlichen wie des ehrenamtlichen Personals.

Und was heißt das konkret?

STEFFEN BAUER: In meiner Kirche, der EKHN, hat die Synode festgelegt, dass ab Ende 2023 alle Gemeinden in einem „Nachbarschaftsraum“ verbindlich zusammenarbeiten müssen. Wir geben zwar keine einheitliche Fixzahl vor, aber ein Gebiet von 3 000 bis 10 000 Gemeindegliedern soll künftig einen solchen Nachbarschaftsraum bilden, und dort arbeitet dann ein multi­professionelles Team, nicht nur der einzelne Pfarrer, die einzelne Pfarrerin in ihrer Gemeinde, sondern auch Kirchenmusikerinnen und Gemeindepädagogen. In diesem Nachbarschaftsraum finden dann auch, abgestimmt aufeinander, die Kürzungen zum Beispiel der Gebäude­zuweisungen statt. Und rechtlich fusionieren die Gemeinden, oder sie bilden eine Gesamtkirchengemeinde mit einem gemeinsamen Kirchen­vorstand oder eine Arbeitsgemeinschaft mit einem geschäftsführenden Ausschuss.

Gemeinden sollen sich zusammenschließen, aber was ist eigentlich mit den Landes­kirchen? Die sind doch total unterschiedlich groß, und 2006 bei „Kirche der Freiheit“ war unter anderem die Forderung nach Fusionen von Landeskirchen der große Aufreger. Man hat den Eindruck, an dieser Front geschieht nicht wirklich etwas, denn die Fusion zur Nordkirche liegt jetzt schon ein Jahrzehnt zurück. In Niedersachsen gibt es fünf evangelische Landeskirchen, deren Gebiet fast genau mit dem des Bundeslandes übereinstimmt. Da liegt es einem doch auf der Zunge zu fragen: Regelt das bitte wie in Bayern, oder?

STEFFEN BAUER: Natürlich. Ich könnte mich da amüsieren, denn die Kirchenleitungen sagen den Gemeinden und Dekanaten: Arbeitet gefälligst zusammen, geht zusammen! Aber sie selbst wollen auf ihrer Ebene möglichst lange alles bestehen lassen. Von der Organisationslogik her ist das sicher verständlich, denn wer will sich schon selbst abschaffen? Aber wenn man es von außen betrachtet, dann wird klar, dass es auch dort bald zu Veränderungsprozessen kommen muss.

Was wäre denn Ihrer Meinung nach die Rolle der EKD? Der Rat der EKD, der bis Ende 2021 amtierte, hatte ja noch einmal einen großen Wurf  ersucht und „Elf Leitsätze“ veröffentlicht, aus denen dann bei der Synode 2020 „Zwölf Leitsätze“ wurden, in denen der Vernetzungsgedanke eine große Rolle spielt. Aber seitdem herrscht Funkstille, oder?

STEFFEN BAUER: Einige Experten, zum Beispiel Georg Lämmlin vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD,  arbeiten ganz selbstverständlich mit diesen „Zwölf Leitsätzen“. Aber in den Papieren der Landes­kirchen spielen sie gar  keine Rolle. Das ist Wahnsinn, und das regt mich wirklich auf! Ich war in verschiedenen Landeskirchen unterwegs und habe gemerkt: Die wissen wenig bis nichts von­einander. Ja, was machen denn die Leitungen alle paar Monate auf der Kirchenkonferenz? Zum Glück gibt es seit geraumer Zeit im Kirchenamt der EKD eine digitale und analoge Plattform, den sogenannten Denkraum, in dem alle mitmachen können, die in Sachen inhaltlicher und organisatorischer   Kirchenreform etwas vorantreiben wollen, und zwar auch von der mittleren Ebene und der Gemeindebasis her. Die also nicht warten, bis die Kirchenleitungen sich zusammenschließen, sondern die jetzt schon landeskirchenübergreifend miteinander und voneinander lernen wollen. Das ist wirklich eine gute Sache!

Wie sind die Chancen, dass dieses Miteinander von Sparen und nötiger kreativer Neuorientierung gelingt?

STEFFEN BAUER: Ich bin ein grund­optimistischer Mensch und sage: Wir werden in spätestens zehn Jahren fast überall funktionierende Teamarbeit in verbundenen Gemeinden haben, in denen Menschen dieser Gesellschaft völlig unterschiedlich angesprochen und mitgenommen werden und in denen sie sich zeigen werden, so wie sie sind. Wenn wir das schaffen, dann kommen wir aus diesem kleinen, schrumpfenden Milieu der Kerngemeinde hinaus! Und das ist für mich nicht Bedürfnis­befriedigung der Gesellschaft – das ist ja immer der Vorwurf, der dann kommt –, sondern das ist für mich das Ernstnehmen von den Menschen, die im Gemeinwesen und im digitalen Raum auf andere Weise als ich ihren Glauben, ihre Religiosität leben. Die Pfarrerzentrierung wird abgenommen haben und das Priestertum aller Getauften gestärkt sein. Aber: Die Verschiedenheit wird zunehmen, und wir müssen alle lernen, das auszu­halten.

 

Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 28. September in Darmstadt.
 

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