Kasualien 2.0

Plädoyer für eine „kasualpraktische Pünktlichkeit“
Restaurierungsbaustelle in der Kirche St. Madeleine im 8. Bezirk in Paris, Mai 2021.
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Restaurierungsbaustelle in der Kirche St. Madeleine im 8. Bezirk in Paris, Mai 2021.

Die kirchlichen Segenshandlungen, in besonderer Weise Taufe und Trauung, sind im Wandel begriffen. Die Theologin Emilia Handke leitet als Pastorin das Werk „Kirche im Dialog“ der Nordkirche und hat unter anderem die Gründung der Hamburger Ritualagentur st. moment mit verantwortet. Sie schildert die neuen Parameter für Amtshandlungen und erzählt aus der Praxis.

Als ich 2012 meinen Studienabschluss gemacht hatte, gab es noch keine Kasualagenturen. Überhaupt schien bei den Kirchenmitgliedern vieles seinen gewohnten Gang zu gehen: Auf Kindertaufe schienen in aller Regel Konfirmation oder Firmung zu folgen; bei Heirat war die kirchliche Hochzeit zumindest noch eine Option, die man sich vielleicht für später aufsparte; sicher aber schien vielerorts das letzte Geleit durch Geistliche. Auch im Osten – nur war da der Pool der religiös Sozialisierten eben viel kleiner. Wenn ich auf diese vergangenen zehn Jahre zurückblicke, dann hat sich vieles verändert – vieles ist sichtbar geworden, was wir vorher vielleicht gerne übersehen haben.

Dazu gehört erstens, dass alle Kasualien für Kirchenmitglieder von einer Selbstverständlichkeit zur Option geworden sind. Bis zur Hälfte von ihnen nehmen Taufe oder kirchliche Bestattung – bei der Trauung sind es noch viel weniger – gar nicht mehr in Anspruch, sondern gestalten die Anlässe privat oder tun sich auf dem freien Markt um. Das hat unterschiedliche Gründe, die sich jedoch auf eine knappe Formel bringen lassen: Je pluraler eine Gesellschaft wird, desto strittiger werden ihre religiösen Traditionen. Und je weniger „Konformitätsdruck“(Michael Domsgen) im eigenen Kontext vorhanden ist beziehungsweise je mehr eine religiöse Lebensoption im Gegenzug sogar begründungsbedürftig erscheint, desto stärker müssen sich Taufe, Trauung und Bestattung auf dem Ritualmarkt behaupten. Wir sind als Kirche seit längerem auf dem Prüfstand – Eltern, Angehörige und Gäste überprüfen bei allen Kasualien, ob das, was dort gesagt und gefeiert wird, ausreichend mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Die Verbindlichkeit besteht heute nicht mehr „einer Gruppe oder Tradition, sondern [vor allem] sich selbst gegenüber“ (Dorothea Lüddeckens). Kirche auf dem Prüfstand – das ist anstrengend, aber auch verheißungsvoll: weil es darauf ankommt, was wir tun.

Wer der Kirche gegenüber zögerlich geworden ist, der sucht und informiert sich heute im sicheren Abstand im digitalen Raum. Und da sind wir als Kirche im Blick auf Taufe, Trauung und Bestattung tendenziell eher wenig kreativ und vor allem wenig persönlich aufgestellt: „Für Anfragen wenden Sie sich bitte an das Kirchenbüro.“ Selbst die sogenannten Sinnfluencer:innen sind ja nur im Rahmen ihrer Gemeinden – sofern sie solchen zugeordnet sind – für Taufe, Trauung und Bestattung zuständig. Kasual-Content geschieht dort nach meiner Wahrnehmung auch eher am Rande. Wenn man der Gemeinde vor Ort aber nicht persönlich verbunden ist – und das ist ja nur ein winziger Prozentsatz unserer Kirchenmitglieder –, dann hat man in der Regel Hemmungen, dort nach einer Taufe oder anderem zu fragen. Je weniger Beziehungslinien in die Kirchengemeinde verlaufen, desto unwahrscheinlicher wird die Kontaktaufnahme. Aber es ist diese eigenständige Kontaktaufnahme, auf welche die allermeisten Kirchengemeinden seit jeher warten.

Aus diesem Grund haben sich in den Jahren 2020 bis 2022 in Berlin, Hamburg, Lübeck-Lauenburg, München und Nürnberg sogenannte Kasualagenturen gegründet – und damit das parochiale Standbein der Kasualpraxis der Kirche um ein übergemeindliches Spielbein ergänzt. Während die bayrische Landeskirche ihre Agenturen in München und Nürnberg zunächst eher als „Servicestellen“ für die Ver­mittlung von Kasualanliegen in Gemeinden profilierte, wurde in Hamburg mit st. moment [sankt moʊmənt] von Anfang an der Schritt auf den freien Markt gewagt. Unser Ziel war es, eine Einrichtung zu gründen, die zum einen Kasualien in ihrer ganzen geistlichen Kreativität stärker sichtbar werden lassen sollte, es zum anderen mit der Konkurrenz auf dem freien Markt aufnehmen kann und es drittens Kirchenmitgliedern und anderen ermöglichen soll, mit Kirche unkompliziert in Kontakt zu treten. Dabei ging es nicht nur um eine reine Beratungsstelle, sondern von Anfang an um einen Hybrid aus Beratung, Durchführung und Vernetzung.

Von diesem Hamburger Konzept, das seit 2018 im Rahmen meiner Arbeit bei „Kirche im Dialog“ aufgestellt, vernetzt und kirchenpolitisch durchgesetzt wurde, ließen sich das Segensbüro in Berlin sowie die Einrichtung segensreich in Lübeck-Lauenburg zu eigenen Gründungen inspirieren. Heute versuchen alle fünf Initiativen und weitere wie Leben.feiern. in Hanau, mit speziellen Kasual-Paketen nicht gemeindlich orientierte Menschen auf die kirchliche Gestaltungsoption der besonderen Lebensmomente aufmerksam zu machen. Dies geschieht unter anderem durch sogenannte Drop-in-Taufen, durch stadtweite Tauffeste, durch Pop-up-Traufestivals oder durch Spontantrauungen zu besonderen Daten wie dem 22.02.2022. Am Pop-up-Hochzeitsfestival des Berliner Segensbüros auf dem Herrfurthplatz in Neukölln nahmen am 21. Mai 2022 insgesamt 72 Menschen aus allen Stadtbezirken Berlins und auch aus Brandenburg teil. Das mediale Echo war enorm. Ausgangspunkt war die eigentlich längst bekannte Tatsache, dass die Zivilehe bei jungen Erwachsenen stark an Bedeutung verliert und damit „der Großteil aller Menschen [...] an dem Kasualangebot Trauung der evangelischen Kirche vorbei[lebt]“ (Susann Kachel/Amelie Renz). Eigentlich wusste man das in der Kirche schon seit Jahren, aber wie überall und immer braucht es die ersten Mutigen, die der bloßen Kenntnisnahme dieses Wissens eine konkrete Idee entgegensetzen. Sie boten den Paaren ein „All-inclusive-Paket“ an, in dem vom Vorgespräch mit einer Pfarrperson, der Auswahl eines Songs, der Segnung über ein Hochzeitsband bis zum Hochzeitsfoto und einer Urkunde alles kostenlos enthalten war. Ein Unterschied zur kirchlichen Trauung wurde nicht gemacht, weil für sie „auch andere partnerschaftliche Lebensformen als die Ehe zum Ort christlich verstandener Gemeinschaft und eines in Liebe und Verantwortung gestalteten Lebens werden [können]“ .

Säkulare Kompatibilität gefordert

Diese einladende Kirche riskiert sich. In Berlin hat man alle Menschen eingeladen – ob sie Kirchenmitglieder und standesamtlich verheiratet waren oder nicht. Die sozialwissenschaftliche midi-Studie von Daniel Hörsch zeigt, dass sich tatsächlich viele Nichtkirchenmitglieder davon ansprechen ließen – den Rückmeldebögen zufolge war es fast die Hälfte aller Paare. Alle bekamen das Gleiche – wie bei dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Die Hamburger Ritualagentur st. moment hält das ähnlich, und so wird eine evangelische Hochzeit zwischen einer Katholikin und einem Muslimen möglich, die sich sonst unter keiner anderen Tradition rituell vereinigen könnten. Ohne interreligiöse und säkulare Kompatibilität geht Kommunikation des Evangeliums offensichtlich an vielen Orten heute nicht mehr.

Wir haben es also gegenwärtig mit einer Kasualpraxis zu tun, die sich immer mehr entgrenzt. Dazu gehört auch die Begleitung von Tiersegnungen oder polyamoren Beziehungsformen – und nicht zuletzt die Lindner-Lehfeldt-Trauung in Keitum auf Sylt im Sommer dieses Jahres. Das ist der eine Weg, den eine religiöse Minderheit heute einschlagen kann: Was von dem Eigenen dem Leben dient, freizugeben für die säkulare Mehrheit. Von der katholischen Praxis in den ostdeutschen Bistümern ist hier eine Menge zu lernen. Der andere Weg ist der Weg der Begrenzung – und zwischen beiden tobt derzeit, wenig überraschend und ekklesiologisch durchaus verständlich, ein Widerstreit.

An der Frage des Einbezugs von Nichtkirchenmitgliedern in die Kasualpraxis wird das grundsätzliche Dilemma der Kirche zwischen theologischen und organisationsbezogenen Erwägungen deutlich. Denn natürlich richtet sich die Kirche schon immer auch an Menschen, die nicht Mitglied der Kirche sind. In der Diakonie und Seelsorge ist das seit jeher unumstritten, und auch die Diskussion um die Kasualpraxis folgt bereits seit einigen Jahren der Position einer partiellen Öffnung auch für Nicht-Kirchenmitglieder. Was theologisch völlig richtig ist, führt die Kirche jedoch in ein organisatorisches Dilemma: Es wird immer weniger einsichtig, warum man Kirchenmitglied bleiben oder werden sollte, wenn man an allen Angeboten der Kirche faktisch auch ohne Kirchenmitgliedschaft teilnehmen kann. Der Mehrwert einer Kirchenmitgliedschaft muss sich natürlich auch im Blick auf die Nutzungsberechtigung der kirchlichen Angebote irgendwie abbilden – zumal die Kasualien nach wie vor einen wichtigen Grund für eine Kirchenmitgliedschaft darstellen. Zudem muss man sich als Kirche wohl eingestehen, dass die Ausnahmeregelungen bei Trauung und Bestattung in der Regel nicht zu einem Kircheneintritt der Betreffenden geführt haben dürften. Dass sich Kirchengemeinden Kasualien von Nicht-Kirchenmitgliedern als Dienstleistungen bezahlen lassen, gilt immer noch als Tabu, unter anderem weil die Kirchenmitgliedschaft dann in der Gefahr steht, zu einer Abwägungsfrage gegenüber einer überschaubaren einmaligen Gebühr zu werden.

Wie sollen die Kirchen mit diesem Dilemma umgehen? Zugespitzt gesagt, konterkariert eine Öffnung der Kasualpraxis gerade das Mitgliedschaftssystem. Werden die Regeln jedoch wieder enger gezogen, wäre das bittere Ergebnis wohl, dass viele Ausgetretene entweder kurz vor Taufe, Trauung oder Bestattung wieder eintreten, um anschließend wieder auszutreten, oder die kirchlichen Angebote eben gar nicht mehr wahrnehmen, sondern sich auf dem freien Markt umtun. Zugleich sind die Lebenswege von Menschen oft wesentlich facettenreicher als unsere binäre Mitgliedschaftslogik.

Christliches Empowerment

Über 15 Jahre nach dem EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ kommen die alten unterdrückten Fragen nach mehr Unternehmens- und Dienstleistungslogik in der Kirche wieder hoch. Und es sind – das ist das Wichtige dabei – keine rein ökonomischen Fragen, sondern auch eminent theologische: Wobei hilft die kirchliche Kasualie eigentlich, welchen Nutzen hat sie? Letztlich geht es aus meiner Sicht dabei um so etwas wie christliches Empowerment. Angesprochen ist damit der Kommunikationsmodus des Helfens zum Leben: Menschen suchen danach, berührt, wahrgenommen und gewürdigt zu werden, Vergewisserung im Unsteten zu erlangen und Ankerpunkte für das eigene Vertrauen zu finden.

Das bedeutet aber auch, dass der unmittelbare Nutzen für viele Menschen erstmal gar nicht auf der Ebene einer Beheimatung in einer Gemeinde liegt. Es geht vielmehr um eine momenthafte Stärkung auf dem Lebensweg – der Liedtext des beliebten Hochzeitssongs von Andreas Bourani „Ein Hoch auf uns“ sagt das beispielhaft aus: „Ein Hoch auf uns/Auf dieses Leben/Auf den Moment/Der immer bleibt/Ein Hoch auf uns/Auf jetzt und ewig/Auf einen Tag Unendlichkeit.“

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass wir uns als Kirche der Logik des Besonderen (Andreas Reckwitz) nicht entziehen können. Eine Institution, die Jahrhunderte lang das Allgemeine geprägt und repräsentiert sowie auf dieses Allgemeine hin ausgebildet hat – das Amt, die Agende der Taufe – und das Besondere dagegen eher als „Event“ abgewertet und abgewehrt hat, ist hier zu einem grundlegenden Perspektiv- und Handlungswechsel herausgefordert. Das hat weitreichende Folgen für die sich immer stärker artikulierenden (Mit-)Gestaltungswünsche bei den Kasualien; die Zeitfenster, die auf Seiten der Pfarrpersonen damit einhergehen müssen; der selbstverständliche Stellenwert populärer Musik; die Erweiterung der Orte, an denen sie stattfinden; die Priorisierung der Kasualien innerhalb des pfarramtlichen Alltagsgeschäfts; die Anforderungen an eine Ausbildung; pröpstliches Leitungsverhalten im Blick auf Kasualkommunikation. Bei unserer Hamburger Ritualagentur st. moment machen gescheiterte Versuche der Kontaktaufnahme mit einer Gemeinde einen nicht unwesentlichen Teil der Anfragen aus: Es gibt offenbar ein gewisses Leck in der Verantwortungsübernahme für Kasualien – insbesondere dann, wenn Sonderwünsche bestehen oder die Zuordnung zu Terminen oder Parochie uneindeutig wird.

Neu über Mitgliedschaft nachdenken

All das gehört zu dem, was ich in Anlehnung an den Religionspädagogen Rudolf Englert mit „kasualpraktischer Pünktlichkeit“ bezeichne. Wir dürfen den Entwicklungen nicht allzu häufig hinterherhinken und kommen mit unserer Parochiallogik und Komm-Struktur bei Kasualien immer häufiger an Grenzen. Mit den skizzierten Entwicklungen verbinden sich aber letztlich auch – das Beispiel der Lindner/Lehfeld-Trauung hat dies unübersehbar gezeigt – Fragen an ein künftiges Finanzierungskonzept: Auch wenn man an der Kirchensteuer aus guten Gründen festhalten will, weil sie die Funktionsfähigkeit der Kirche unter monetären Gesichtspunkten wesentlich erhöht, muss neu über die mit ihr verbundene Mitgliedschaftslogik nachgedacht werden.

Religiöse Auseinandersetzung ist nie statisch, sondern immer dynamisch. Die binäre Codierung von „drinnen“ oder „draußen“ wird dieser Dynamik nicht gerecht. Die Nutzung der Kasualien legt den Fokus auf eine ereignisbezogene Kirchenbindung, indem sich die Kirche vor allem in heiligen Momenten investiert. Warum sollte man dafür als Nichtkirchenmitglied nicht – ähnlich wie auf dem freien Markt oder bei Therapie oder Supervision – einen angemessenen Preis bezahlen? Das würde auch die Diskussion um die Prioritäten pfarramtlicher Aufgaben neu befruchten. 

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Foto: Yvonne Most

Emilia Handke

Dr. Emilia Handke (*1986) leitet als Pastorin das Werk „Kirche im Dialog“ der Nordkirche, hat in diesem Rahmen u.a. die Gründung der Hamburger Ritualagentur st. moment verantwortet und treibt die Idee deutschlandweit voran. Sie ist Lehrbeauftragte für Praktische Theologie.


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