Volkskirche!

Warum Gott noch lange nicht in den Ferien ist

Der liebe Gott geht inkognito durch die Straßen, aller lästigen Aufgaben ledig. Für Donner, Blitz und Hagel macht man ihn nicht verantwortlich. Den irdischen Begriffen von Recht und Unrecht braucht er sich nicht mehr anzupassen. Den Kirchenglocken hört er mit halbem Ohr zu. Und wenn er in eine Kirche tritt, gibt er den Bettlern ein Almosen, um nicht aufzufallen. Gott kann sich nur noch seinen unerforschlichen Ratschlüssen widmen, der Verwaltung des Unermesslichen und der Erhaltung des Ewigen. Sie werden kaum glauben, wie froh Ich bin, gesteht er. Jetzt gehe Ich ins Theater, man gibt dort ein Stück, in dem Ich gelästert werde: Ich brauche ja gar nicht mehr zu strafen, Sie glauben gar nicht, welch ein schöner Abend das wird …

So stellt sich der jüdische Schriftsteller Joseph Roth Gott in Russland vor, nachdem die Staatsreligion erledigt ist und der säkulare Sowjetmensch Gott entlassen hat. „Gott hat Ferien“ resümiert Roth in seiner Glosse „Der Liebe Gott in Russland“. 95 Jahre später sind die Ferien für Gott in Russland längst vorbei, und er wird vom Staat und staatsgehorsamen Popen mächtig eingespannt fürs Rechtfertigen, Strafen und Krieg-Segnen, was er doch so leid war.

Ferien scheint Gott aber hierzulande in Aussicht zu haben, wo fast die Hälfte der Kabinettsmitglieder nicht mehr auf Gottes Hilfe setzt und weniger als die Hälfte der Deutschen Kirchenmitglieder sind. Könnte Gott in mittelferner Zukunft ähnlich erlöst sein wie in Roths Phantasie, wenn es die Volkskirche nicht mehr gibt, die Landeskirchenämter geschlossen und die meisten Gemeindehäuser anderen Zwecken zugeführt sind? Wer wird in Zukunft noch selbstverständlich und ohne jede Ambivalenz von einem Gott reden, der immer da, immer nah ist und für uns sorgt? So sehr das stimmt, hat das für einen erheblichen Teil der Menschen noch nie gestimmt. Gott weniger gewiss zu behaupten, wird die Worte gewichtiger machen.

Aber allem Unken zum Trotz: Ich sehe Gott noch lange nicht in den Ferien, und ich halte fest an der Volkskirche als einer Kirche, die offen ist für alles Volk, das festgläubige und halbgläubige und nichtgläubige. Es sind viele, die nicht genau wissen, ob sie sich als Christen bezeichnen sollen, die aber unsere Kirche wollen und darum nicht austreten. Ich möchte, dass gerade dieses nichtgläubige Volk sich bei uns am richtigen Ort fühlt. Sie wollen, dass wir den Menschen, wie manche abfällig sagen, „Märchen erzählen“, also Geschichten, die im schönsten Sinn weltfremd sind, in denen Kinder Riesen besiegen, Gelähmte gehen und Tote auferweckt werden und in denen die Welt nicht aufgeht in rationalen Prognosen. Sie wollen, dass wir das sind, was oft als unser Manko verschrien ist: für alte Leute da. Es ist gut, wenn die Kirche ein Ort ist, an dem Alte sind und sichtbar sind. Sie wollen, dass die Wörter Barmherzigkeit, Seligkeit und ewiges Leben nicht aussterben. Sie wollen, dass öffentlich gebetet wird, auch wenn sie es selbst nicht können.

Als der erlöste Gott in die Kirche geht, sieht er den Fuß eines knienden Mannes und ein Loch in seiner Fuß­sohle. Wo hat er sich das Loch aus­getreten?, fragt er. Das sind die Gottesfragen – die Zukunftsfragen.


 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"