Nötig wäre eine christliche Renaissance

Auf der Suche nach der europäischen Identität
„Der Raub der Europa“ von Valentin A. Serov (1865 – 1911).
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„Der Raub der Europa“ von Valentin A. Serov (1865 – 1911).

Reisefreiheit, Wohlstand, Frieden – all das spricht für die Europäische Union. Aber reine Nützlichkeitserwägungen sind keine ausreichende Basis eines auf lange Sicht hin gedachten gesellschaftlichen und politischen Zusammenschlusses. Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit, analysiert Wolfgang Sander, Professor em. für Didaktik der Gesellschafts-wissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Es sei jetzt „wirklich allerhöchste Zeit, wenn nicht zu spät, eine gesamteuropäische Identität zu besprechen“, schrieb Nils Minkmar kürzlich in der Süddeutschen Zeitung mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Das ist treffend gesagt, denn tatsächlich hängt die Zukunft der europäischen Einigung ganz wesentlich davon ab, ob in Europa eine gemeinsame Vorstellung darüber entsteht, was die Europäer miteinander verbindet. Bislang ist das schon innerhalb der Europäischen Union (EU) nicht oder allenfalls in oberflächlicher und floskelhafter Form der Fall. Mehr noch: Genau an dieser Frage, was es heißt, Europäer zu sein, geht ein feiner Riss zwischen West und Ost durch die EU, der zur Sollbruchstelle der Union werden könnte. Sichtbar wurde er bislang an Themen wie Asyl- und Migrationspolitik, Gesellschafts- und Familienpolitik oder dem Verhältnis zwischen Nation und Europa. Bei allen Unterschieden im Einzelnen sind die osteuropäischen Gesellschaften traditioneller, religiöser, geschichtsbewusster und ihre nationale Identität stärker betonend als die westlichen, die die europäische Integration bis zur Osterweiterung 2004 geprägt haben. Die im Westen wohl noch immer verbreitete Vorstellung, diese Unterschiede würden sich durch Angleichung des Ostens an den vorgeblich fortschrittlicheren Westen von selbst erledigen, dürfte eine westliche Selbsttäuschung sein.

Die EU hat der Frage nach der europäischen Identität bisher eher wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Eine offizielle Positionierung dazu findet sich erst in einem 1973 beschlossenen „Dokument über die europäische Identität“. Dieses knappe Papier beleuchtet vor allem die Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften zur sonstigen Welt und belässt es im Blick auf das Verbindende der Mitgliedsstaaten bei formelhaften Sätzen: Man wolle „das Überleben einer Zivilisation“ sichern, „die ihnen gemeinsam ist“, es gehe um die Geltung der gemeinsamen „rechtlichen, politischen und geistigen Werte“, um die „Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, die das Ziel des wirtschaftlichen Fortschritts ist, sowie die Achtung der Menschenrechte als Grundelemente der europäischen Identität“. Noch formelhafter wirkt die Werteliste in Artikel 2 des Lissaboner Vertrags von 2009:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschen­würde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Richard Schröder merkte zu dieser Lis­te einmal an, dies sei zwar alles „irgendwie erhebend und wünschenswert, ansonsten aber ein Sammelsurium“. Hier werden Begriffe unterschiedlicher Art und Reichweite aneinandergereiht: Verhaltenserwartungen an die Bürger (zum Beispiel Toleranz, Solidarität) stehen neben Prinzipien staatlicher Ordnung (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit), Hinweisen auf geltende Rechte (Menschen- und Minderheitenrechte) und einem gesellschaftstheoretischen Fachbegriff (Pluralismus). Der Begriff „Nichtdiskriminierung“ ist ohne nähere Bestimmung nicht sinnvoll, denn Gesellschaften ohne Diskriminierung gibt es nicht. So darf in Deutschland zwar beispielsweise niemand wegen seiner Hautfarbe oder seines Geschlechts benachteiligt werden, sehr wohl aber aufgrund von Schwächen in seiner Leistung, Zuverlässigkeit, Rechtstreue oder seinem Sozialverhalten.

Der Wertebegriff ist gut brauchbar, wenn man untersuchen und mit abstrakten Begriffen bezeichnen will, was Menschen als erstrebens- und wünschenswert betrachten. Schwierig wird es aber regelmäßig, wenn der Wertebegriff präskriptiv gebraucht wird, wenn er also zur positiven und handlungsleitenden Bestimmung kollektiver Identitäten führen soll. Denn die mit dem Wertebegriff bezeichneten normativen Vorstellungen stehen immer in breiteren Kontexten von menschlichen Selbst- und Weltverständnissen, aus denen heraus sie ihre Überzeugungskraft und handlungsleitende Bedeutung gewinnen. Was etwa Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit konkret bedeuten, kann sich deshalb je nach weltanschaulichem Kontext stark unterscheiden. Dies hat bekanntlich in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder zu höchst kontroversen Debatten geführt. So ist es bislang nicht gelungen und kann wohl auch nicht gelingen, die Antwort auf die Frage nach der europäischen Identität mit einer kohärenten Liste von Werten zu beantworten.

Kritik aus Polen

Weitere Maßnahmen der EU zur Förderung einer gemeinsamen Identität wie die Einführung von Flagge, Hymne und des Europatags am 9. Mai sowie der gemeinsame Reisepass mit einer zusätzlichen EU-Staatsbürgerschaft blieben in normativer Hinsicht inhaltlos. Ein weitergehender Schritt war die Gründung des 2017 eröffneten Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel, dessen Konzeption aber besonders in Polen sofort auf Kritik stieß.

Die konzeptuelle Schwäche dieser Versuche, sich der Frage nach der europäischen Identität zumindest zu nähern, ist frappierend. Lange konnte diese Schwäche durch den Verweis auf praktische Vorteile der europäischen Integration überdeckt werden, von der Reisefreiheit über die Förderung des Wohlstands durch den gemeinsamen Markt bis zur Sicherung des Friedens zwischen den Mitgliedsstaaten und die Vertretung gemeinsamer Interessen auf globaler Ebene. Aber reine Nützlichkeitserwägungen sind keine ausreichende Basis für Gründung und Stabilität eines auf lange Sicht hin gedachten gesellschaftlichen und politischen Zusammenschlusses. Zu schnell kann sich ändern, was verschiedene Mitgliedsstaaten als nützlich ansehen, und zu wenig krisenfest wäre daher ein solcher Verbund auf lange Sicht. Daher dürfte es auch sehr zweifelhaft sein, ob alleine schon die derzeitige Bedrohung durch Russland die Schwächen bei der positiven Bestimmung europäischer Identität dauerhaft kompensieren kann.

Postmoderne Ansätze zum Thema, etwa vom österreichischen Historiker Wolfgang Schmale, versuchen aus der Not eine Tugend zu machen und definieren Vielfalt (oder modischer: Diversität) als Basis europäischer Identität. Diese Identität soll nicht starr, sondern flüssig und offen für Veränderung sein, sich nicht auf Traditionen stützen, sondern auf die Verknüpfung vieler und immer neuer Netzwerke, die in einer transnationalen Zivilgesellschaft gebildet werden. Ihr normativer Letztbezug sei, so Schmale, im 21. Jahrhundert nicht mehr Gott, auch nicht mehr Vernunft, sondern Wissenschaft, was insofern verblüfft, als die Wissenschaften normative Fragen zwar reflektieren und diskutieren, mit ihren Mitteln aber letztlich nicht entscheiden können.

Eine solche Denkweise kann zwar an ein Motto anknüpfen, das die EU sich 2000 gab: „In Vielfalt geeint.“ Allerdings kann sie nicht wirklich überzeugend klären, wodurch genau das durch Vielfalt geprägte Europa „geeint“ sein soll. Durch seine Vielfalt selbst jedenfalls gewiss nicht, denn Vielfalt ist, wie Hannah Arendt herausgearbeitet hat, eine Ausgangslage und Bedingung jeder Politik und kann deshalb schwerlich zugleich normativer Kern der europäischen Identität sein. Vielfalt gibt es, wenn auch in unterschiedlichen Formen, in jeder Gesellschaft, was heute etwa in den großen Städten weltweit erlebbar ist.

Die Frage nach der europäischen Identität wird sich letztlich nur sinnvoll beantworten lassen, wenn man Europa nicht primär als geografischen Begriff, sondern als Bezeichnung für ein geistiges Konstrukt, als Begriff für einen kulturellen Zusammenhang versteht, der sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt hat und sich von anderen kulturellen Zusammenhängen unterscheidet. Die Frage nach dieser Identität ist dann die Frage danach, was den Kern des geistigen Konstrukts Europa ausmacht. Dieser Kern wiederum ist ohne Bezug auf zentrale lange Linien, die die europäische Geistesgeschichte prägen, nicht zu bestimmen. Es versteht sich, dass sich diese Linien nicht auf die EU und deren Geschichte begrenzen lassen.

Rom, Athen, Jerusalem

Immer wieder sind zur Charakterisierung dieser Linien metaphorisch drei Städtenamen genannt worden: Athen, Rom und Jerusalem. Sie stehen für griechische Kunst, Geschichtsschreibung, Wissenschaft und Philosophie, für die römischen Ideen der Republik und des rechtlichen Denkens, schließlich für das Christentum, das mit den Missionsreisen des Paulus sich im Römischen Reich verbreitete. Aus den Verknüpfungen zwischen diesen drei Traditionslinien entstand die Eigentümlichkeit des kulturellen Konstrukts Europa: aus der Verbindung von griechischer Philosophie und christlichem Denken in der Alten Kirche, aus der Christianisierung des Römischen Reiches und der Tradierung des römischen Rechtsdenkens zunächst durch die Kirche und später in den neuzeitlichen Staaten, aus dem Neben- und Miteinander von Theologie, Philosophie und Wissenschaften, von Aufklärung und christlichem Glauben, von Staat und Kirche. Diese Verbindungen waren und sind nicht spannungsfrei. Sie bilden keine unveränderbare Essenz Europas, sondern sie haben einen dynamischen kulturellen Zusammenhang hervorgebracht, der sich nicht erst in der Neuzeit als offen für Innovation und Veränderung gezeigt hat. Diese Traditionslinien sind auch für die künftige Diskussion über europäische Identität unerlässliche Referenzen. Aber während Athen und Rom im heutigen Europa in Philosophie und Wissenschaften, Demokratie und Rechtsstaat nach wie vor von prägender Wirkung sind, ist Jerusalem in den beiden vergangenen Jahrhunderten als Traditionslinie blasser und besonders im Westen und Norden zunehmend schwächer geworden. Eine Entchristlichung Europas wäre aber nicht Ausdruck einer Modernisierung europäischer Kultur und Identität, sondern von deren Auflösung. Dagegen wäre eine Renaissance, die sich auf die christlichen Traditionen Europas bezieht und diese für die europäische Identität auf neue Weise fruchtbar macht, eine starke Inspiration für die europäische Zukunft. Sie würde nicht nur neue Brücken zwischen West und Ost in der EU bauen – und möglicherweise in einer Zeit nach dem jetzigen Krieg auch darüber hinaus. Sie brächte auch Impulse für die Korrektur von problematischen Entwicklungen in den modernen westlichen Gesellschaften. So würde sie daran erinnern, dass Freiheit weder Konsumgut noch Freibrief für Egozentrismus und Hedonismus, sondern in Verbindung mit Verpflichtungen gegenüber anderen zu denken ist. Sie würde einen auf bloßes Verfügbarmachen gerichteten Weltbezug kritisieren und die Behebung der Schäden, die die Moderne in dieser Hinsicht hinterlassen hat, befördern. Einem auf Nützlichkeitserwartungen reduzierten und damit normativ entleerten Bildungsbegriff würde sie ein gehaltvolles Bildungsverständnis entgegenstellen, das zugleich auf Selbstbestimmung und Verantwortungsbereitschaft zielt. Schließlich würde sie in den Wissenschaften Tendenzen zu einem kruden Säkularismus und Naturalismus entgegenwirken und für eine Kultur des Dialogs jenseits der neuzeitlichen Spaltungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften werben.

Eine solche Vorstellung mag auf den ersten Blick als etwas verwegen erscheinen, denkt man an den Traditionsbruch im Christentum und den Bedeutungsverlust der Kirchen in weiten Teilen des westlichen Europas. Aber nur die wenigsten derer, die die Kirchen verlassen oder die den Bezug zum christlichen Glauben verloren haben, sind überzeugte Atheisten oder gar militante Gegner des Christentums. Viele sind spirituell auf der Suche oder meinen, bestimmte Elemente christlichen Denkens auf andere Weise leben und in andere Vorstellungswelten transferieren zu können. Die Geschichte der Moderne ist voller Quasi-Religionen (Paul Tillich) und Neomythen (Linus Hauser), die aus dieser Konstellation heraus entstanden sind. Die heutige Wokeness-Bewegung ist dafür das jüngste Beispiel. Gewiss sind zuallererst die Kirchen gefordert, mit einer neuen Sprache und neuen Organisationsformen die Menschen anzusprechen, zu denen sie den Kontakt verloren haben oder zu verlieren drohen. Aber die Chancen, dass dies glückt, sind schon deshalb gegeben, weil die Ersatzangebote spätestens in Hinblick auf existenzielle Lebensfragen in aller Regel wenig tragfähig sind.

Unverzichtbare Elemente

Mit Blick auf europäische Identität sind überzeugende quasi-religiöse oder sich rein säkular verstehende Angebote, die den Beitrag der christlichen Tradition kompensieren könnten, nirgendwo in Sicht. Denn dem Christentum verdankt Europa als kulturelles Konstrukt zentrale, unverzichtbare Elemente: die universalistische Vorstellung von der moralischen Gleichheit aller Menschen, die Trennung von politischer Herrschaft und religiöser Heiligung, das Bewusstsein für die Vorläufigkeit aller irdischen Ordnungen und die Fehlbarkeit aller Menschen, die Verknüpfung von Freiheit und Nächstenliebe, die Freiheit des Gewissens, die Verbindung des Glaubens an die transzendente Wirklichkeit Gottes mit einer selbstreflexiven Vernunft, die um ihre eigenen Grenzen weiß. Hierin liegen die wichtigsten Ressourcen für eine Erneuerung Europas, die freilich mit Blick auf die Herausforderungen und Krisen in unserer Zeit neu zu durchdenken sind. So gründet die Zukunft der europäischen Identität in der europäischen Vergangenheit. 

 

Hinweis

Von Wolfgang Sander ist zuletzterschienen: Europäische Identität. Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, 272 Seiten,
Euro 25,–.

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