„Seht, der Mensch!“

Religiöse Spuren im Werk von Annie Ernaux
Portrait Annie Ernaux
Foto: picture alliance / REUTERS | Johanna Geron
Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

Für Annie Ernaux war nach eigener Auskunft die Zeit der Religion vorbei, nachdem sie ihre Abtreibung einem Priester gebeichtet hatte. Denn für ihn sei sie eine Verbrecherin gewesen. Und dennoch ziehen sich religiöse Spuren durch das Werk der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin. Karl Tetzlaff, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Halle, zeichnet sie nach.

Der Literaturnobelpreis 2022 geht an eine Autorin, die sich in ihren Werken vor allem selbst zum Thema macht. Wer darin das Symptom eines narzisstischen Zeitalters entdecken will, hat allerdings weit gefehlt. Denn der biografischen Selbsterkundung, die Annie Ernaux seit ihrem Debütroman Les Armoires vides (1974) unaufhörlich betreibt, liegt alles andere als ein ichsüchtiges Programm zugrunde.

Es geht Ernaux (*1940) ausdrücklich darum, die eigenen Lebenserfahrungen derart „in Worte zu fassen“, dass „eine allumfassende menschliche Erfahrung“ darin aufscheint. „Die Dinge sind mir passiert“, so zeigt sie sich gar „überzeugt […], damit ich davon berichte. Und das wahre Ziel meines Lebens ist vielleicht einfach dies: dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken zu Geschriebenem werden, zu etwas Verständlichem und Allgemeinem also, dass meine Existenz vollkommen im Kopf und im Leben der anderen aufgeht.“

Beide Zitate stammen aus Das Ereignis (2000), einer Erzählung, in der Ernaux ihre Anfang der 1960er Jahre nach einer ungewollten Schwangerschaft unter lebensbedrohlichen Umständen vorgenommene Abtreibung thematisiert. Dort gibt sie in typisch nüchterner Diktion, also ohne jemals „in einen wütenden oder schmerzerfüllten Lyrismus“ zu verfallen, ein Gedächtnisprotokoll ihres Leidenswegs. In dem für sie „unvergesslichen Ereignis“ verdichten sich aus ihrer Sicht menschheitliche Erfahrungen „von Leben und Tod, von Zeit, von Moral und Tabu, von Gesetz“, weshalb es sie „unweigerlich“ zum Schreiben drängt – zur literarischen Selbstmitteilung an andere, die sich darin mit ihren eigenen Lebenserfahrungen sollen widerfinden können.

An einer Stelle von Das Ereignis schildert Ernaux mithin, wie es ihr einmal selbst so vorkam, „als erzählte mir jemand in einer fremden Sprache meinen Leidensweg“. Beim Hören von Bachs Johannespassion nämlich wurde ihr das Leiden Jesu für einen Moment zum Spiegel ihres eigenen Ergehens. „Ich fühlte mich erlöst“, schreibt sie da, „gingen“ ihre Schmerzen doch augenblicklich „auf im Schmerz der Welt“, den der Gekreuzigte stellvertretend für alle Menschheit erlitten hat. Kurz darauf berichtet die katholisch sozialisierte Ernaux noch von einer Beichte, in deren Rahmen sie ihre Abtreibung gleichsam ‚loszuwerden‘ versuchte. In den Augen des Beichtvaters, so schreibt sie aber, „war ich eine Verbrecherin. Als ich wieder hinausging, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war“.

Literarische Selbsterforschung

So wenig Ernaux demnach als religiöse Schriftstellerin bezeichnet zu werden vermag, so sehr weist die Episode mit Bachs Johannespassion doch auf eine religionsaffine Seite ihres literarischen Schaffens hin. Denn jene für sie erlösende Erfahrung, das eigene Leben im Lebensgeschick Jesu widergespiegelt gefunden zu haben, wünscht sie in gewissem Sinne auch den Leserinnern und Lesern ihrer autobiografisch eingefärbten Texte. Was sie auf unvertretbar individuelle Weise erlebt hat, soll ja „zu etwas Verständlichem und Allgemeinem“ werden, sodass ihre „Existenz vollkommen im Kopf und im Leben der anderen aufgeht“. Uns, den Leserinnen und Lesern Ernaux‘, leuchtet bei der Lektüre also gelingendenfalls ein, dass auch wir dieser Mensch sind, um den es in ihren Büchern geht. Solche nur je für sich zu gewinnende Einsicht stiftet Verbundenheit, Verständnis und Sympathie über die Grenzen des bloß Eigenen hinweg. Darin zeigt sich der heilvoll-transzendente Sinn von Ernaux‘ Literatur, in der beständig der Ruf des Pilatus nachzuhallen scheint: „Ecce homo!“ – „Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5) Anhand weiterer Beispiele aus ihren Büchern mag dieser religiöse Bezug im Folgenden noch deutlicher werden.

„Vielleicht handelt es sich noch immer um dasselbe, tödliche Vorhaben, eingeflüstert von den Worten eines Messbuchs, das ich heute nicht mehr lesen kann“, schreibt Ernaux in Die Scham (1997) über den Motivationsgrund ihrer literarischen Selbsterforschung, die sie zur „Ethnologin meiner selbst“ werden ließ. Nichts Geringeres als Worte aus der Abendmahlsliturgie hat ihr das fremd gewordene Messbuch einstmals eingeflüstert. „Nehmt und lest, denn das ist mein Leib und Blut, das ich für euch vergießen werde“, zitiert sie diese in leicht abgewandelter Form. Einmal mehr tritt ihre literarische Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte damit in Analogie zur Selbsthingabe Jesu.

Schonungslos entäußert sich Ernaux demnach in ihren Werken, damit wir Lesenden uns aneignen können, was sie an unvergänglich Bedeutsamem erlebt hat. „Ich wollte immer schon Bücher schreiben“, so hält sie fest, „die den Blick der anderen unerträglich machen“. Als Schriftstellerin scheut sie die Erfahrung der Scham nicht, sondern setzt sich ihr stellvertretend für all jene aus, die es fürchten, dass der Blick der anderen unerträglich werden könnte. Und wer fürchtete das nicht?

In der Scham

Ernaux jedenfalls fürchtete sich lange davor, dass eine Szene aus ihren Kindheitstagen öffentlich werden könnte, die für sie zutiefst schambesetzt war: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Der drastische erste Satz von Die Scham aber macht diese Begebenheit ohne Umschweife publik. „Ich schreibe die Szene zum ersten Mal auf“, offenbart Ernaux wenige Zeilen später. Was ihr bisher „unmöglich“ erschien, so als „wäre es etwas Verbotenes, wofür man bestraft wird“, vermag sie nun erleichtert zur Darstellung zu bringen. „Indem ich das tue“, schreibt sie, „will ich vielleicht die unsagbare Szene, die ich im Alter von zwölf Jahren erlebt habe, in einer Verallgemeinerung auflösen“. Schambesetzt war der auf einen ehelichen Streit folgende Beinahe-Mord des Vaters an der Mutter für Ernaux vor allem deshalb, weil sich darin ihre Herkunft aus prekären Verhältnissen kristallisierte. Nach diesem Erlebnis wusste sie „etwas, was mich auf unsagbare Weise in das Lager derjenigen einordnete, deren Gewalttätigkeit, Alkoholismus und geistige Verwirrung den Stoff für Erzählungen lieferten, die mit ‚so was ist wirklich traurig mit anzusehen‘ endeten.“

„Von jetzt an lebte ich in der Scham“, schreibt Ernaux. Denn jede Thematisierung dieser familiären Schlüsselszene hätte nur ihr Gefühl verstärkt, in den Augen der feineren Leute „unwürdig“ zu sein. Im Medium der Literatur aber fand Ernaux die Möglichkeit, der als unsagbar erscheinenden Erfahrung Ausdruck zu verleihen, sie „in einer Verallgemeinerung aufzulösen“, in der sie mit anderen teilbar wird. „Das Schlimmste an der Scham ist“ nämlich aus ihrer Sicht, „dass man glaubt, man wäre die einzige, die so empfindet.“ Indem sie ihr Schweigen bricht, wird auch diese Vereinzelung durchbrochen. Wer nimmt und liest, was sie durch Worte zu geben hat, lernt sich vermittels der Erfahrungen einer anderen der eigenen Schamangst zu stellen. Diese Angst wird dadurch zwar nicht überwunden. Aber sie wird etwas erträglicher, wenn man sich ihrer als einer menschlich-allgemeinen Angelegenheit bewusst wird, mit der eigentlich niemand allein ist. Darin liegt die Art Erlösung, die von Ernaux‘ literarischer Selbsthingabe auszugehen vermag.

Wie stark das Thema ihrer familiären Herkunft das Werk Ernaux‘ prägt, ist bereits angeklungen. Mit Der Platz (1983) und Eine Frau (1987) hat sie zwei Bücher vorgelegt, in denen sie sich explizit den eigenen Eltern widmet. „Keine Erinnerungspoesie“ will sie damit schaffen. Ein „sachliche[r] Ton“ soll vielmehr ihre Darstellung bestimmen. Ernaux erzählt die Lebensgeschichte ihrer Eltern als Biografie zweier Menschen, „die in ein beherrschtes Milieu hineingeboren“ wurden: ins Arbeitermilieu. Dadurch waren ihre Seinsmöglichkeiten, bei aller Sehnsucht nach gesellschaftlichem Aufstieg, weithin festgeschrieben. Der Tochter hingegen gelang der ersehnte Aufstieg hin „zur gebildeten, bürgerlichen Welt“.

Kühler Blick

Ernaux geht es in diesen Büchern darum, „ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen“, also stark sozial determiniert war, und von dem auch sie „ein Teil gewesen“ ist. In die Biografien der Eltern mischt sich so die Erzählung ihrer eigenen Emanzipation von der familiären Herkunft ein, die stets von latenten Schuldgefühlen begleitetet war. Das Bewusstsein, Verrat geübt zu haben, aber weicht beim Schreiben Stück für Stück einem Gefühl der Dankbarkeit.

Es war „vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck“, heißt es schließlich über den Vater, „dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte“. Ihr eigener Blick auf die Eltern ist dem hingegen einer, der würdigen kann, was sie im Rahmen des gesellschaftlich Möglichen erreicht haben. Ernaux‘ Bücher durchbrechen damit auch ein Stück weit jene festgezurrten sozialen Verhältnisse, deren unerbittlichem Gesetz Mutter und Vater unentrinnbar zu folgen hatten. Dafür steht etwa die Bemerkung, dass die Mutter von Jugend an „mit rebellischer Klarsicht auf ihre niedrige gesellschaftliche Stellung“ geblickt und sich geweigert habe, „ausschließlich danach beurteilt zu werden“. Insbesondere aber zeigt sich dies an den Stellen, wo Ernaux‘ kühler soziologischer Blick, der die Eltern stets in „ihrer gesellschaftlichen Stellung zu verorten“ bestrebt ist, durch seinen Gegenstand infrage gestellt wird.

„Ich spüre“, heißt es an einer Stelle, „wie sich etwas in mir“ gegen diese von „individuellen Charakterzügen“ absehende Sichtweise „sträubt, etwas, das sich reine Gefühlsbilder meiner Mutter bewahren möchte, Wärme oder Tränen, ohne ihnen einen Sinn zu geben“. Bei der Erinnerung an den Vater sieht sie immer auch „ihn, wie er war, sein Lachen, seinen Gang“: „Jedesmal versuche ich verzweifelt, mich aus der Falle des Individuellen zu befreien.“ Doch schnappt diese ‚Falle des Individuellen‘ eben immer wieder zu. Oder anders gesagt: Das Individuelle widersetzt sich einer vollständigen Aufhebung in übergreifende Gesellschaftszusammenhänge, wie Ernaux beim Versuch, das Leben ihrer Eltern objektiv zu erzählen, feststellen muss.

Göttliche Individualität

Darin spricht sich ein Bewusstsein für die unvergleichliche Eigenart menschlichen Selbstseins aus, der zufolge niemand je nur als ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Karl Marx) zu stehen kommt. Theologisch gewendet, ist der Mensch vielmehr „als selbst etwas Göttliches, Unbedingtes“ (Traugott Koch) anzusehen, insofern er sich in seiner unfasslichen Individualität dem sozialen Zugriff immer auch entzieht. So viel man von Ernaux über den massiven Einfluss von Kultur und Herkunft auf das Leben des einzelnen lernen kann – ihre Bücher halten zugleich jene allen äußerlichen Bedingungen gegenüber unbedingte Dimension menschlichen Selbstseins hoch. Auch das lässt sich als eine Variante des „Ecce homo“ lesen.

Die theologisch höchst bedeutsame Einsicht in die unfassliche – ja göttliche – Eigenart des Individuellen kommt schließlich auch in Ernaux‘ bislang erfolgreichstem Werk Die Jahre (2008) zum Tragen. Sie nennt es eine „unpersönliche Autobiografie“, die ihr Leben bis in die Gegenwart der Nullerjahre hinein derart nachzeichnet, dass sich in dessen Gang zugleich die gesellschaftlichen Entwicklungen widerspiegeln. In dieser „fließenden Erzählung“, die immer wieder „unterbrochen wird“ durch die Beschreibung fotografischer „Standbilder der Erinnerung“, soll es tatsächlich zum Vorschein kommen: „was sie“ – Ernaux – „einzigartig macht“. Ausschlaggebend dafür sind aber aus ihrer Sicht nicht „die äußeren (gesellschaftlicher Weg, Beruf) oder inneren (Gedanken und Sehnsüchte, das Bedürfnis zu schreiben) Elemente ihres Lebens, sondern […] deren individuelle Kombination“. Diese Kombination, in der sich das individuelle Ich der Autorin allererst manifestiert, bleibt aber lebenslang unabgeschlossen.

„Die Frau, die auf den Fotos ‚immer eine andere‘ ist, spiegelt sich im ‚sie‘ der Erzählung“, wobei es zwischen beiden niemals endgültig zur Deckung kommt. Für Ernaux gibt es kein finales Bild unser selbst. „Alle Bilder werden verschwinden“, schreibt sie vielmehr endlichkeitsbewusst im ersten Satz von Die Jahre. „Etwas von der Zeit [zu] retten, in der man nie wieder sein wird“, ist dennoch, wie es ganz am Ende des Buchs heißt, ihr Programm. Es zielt auf die Bewahrung gelebten Lebens vor dem Abgleiten ins Dunkel einer Vergangenheit, die nur noch vergangen ist. Schreibend versucht Ernaux „das Licht einzufangen“, das sich im Rückblick „auf alles gelegt hat, was sie erlebte“ und von dem eine erleuchtende Kraft auch auf andere ausgehen soll.

Wer sich von diesem Licht erleuchten lässt, schaut anders auf das Leben als vorher. Erlöster vielleicht. Menschlicher auf jeden Fall.

(Aus den folgenden Büchern von Annie Ernaux wurde unter Angabe des Erscheinungsjahrs der französischen Erstausgabe im Text zitiert: Der Platz, Berlin 22019; Eine Frau, Berlin 2019; Die Jahre, Berlin 2019; Die Scham, Berlin 2021; Das Ereignis, Berlin 2022. Sie sind allesamt in der Übersetzung von Sonja Finck im Suhrkamp Verlag erschienen.)

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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