Wünschen reicht nicht

In der christlichen Friedensethik ist ein neuer Realismus gefragt
Ein Feuerwehrmann vor einem zerstörten Gebäude nach russischen Raketenangriffen auf Zaporizhzhia am 10. Oktober 2022.
Foto: picture allianc e/ AA | Jose Colon
Ein Feuerwehrmann vor einem zerstörten Gebäude nach russischen Raketenangriffen auf Zaporizhzhia am 10. Oktober 2022.

Noch immer fordern viele Christen einen Stopp der Waffenlieferungen in die Ukraine und zivile Lösungen statt militärischer Unterstützung. Doch das verkenne die Realität, meint Jörgen Klußmann, Studienleiter „Politik des Dialogs und der Vielfalt“ an der Evangelischen Akademie im Rheinland. Es helfe niemandem etwas, allein eigenen Wunschvorstellungen von einer Welt anzuhängen, die so offensichtlich nicht mehr existiert.

Mehr als acht Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wird angesichts der zunehmenden Geländegewinne der ukrainischen Armee und der Teilmobilmachung durch den russischen Präsidenten deutlich, dass ein Erfolg seiner so genannten „militärischen Sonderoperation“ inzwischen fragwürdig ist. Ob ein Sieg der Ukraine damit ebenfalls greifbar wird, ist damit keineswegs ausgemacht. Denn je mehr die russische Führung und die Armee sowie die Sicherheitsdienste unter Druck geraten, desto gefährlicher werden sie. Für sie geht es nun darum, entweder alles zu verlieren oder aber zu gewinnen. Eine gesichtswahrende Lösung ist in weite Ferne gerückt.

Auch im Westen droht die Stimmung umzuschlagen. Noch befürworten zwischen 60 und 70 Prozent der Bundesbürger laut aktuellen Umfragen die Unterstützung der Ukraine. Gleichzeitig wächst die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung, weil sie die Inflation und die Energiekrise nicht schnell genug in den Griff bekommen.

In Kreisen der christlichen Friedensethik fordert eine große Fraktion unbeirrt den Ausstieg aus der aktiven Waffenlieferung, die sofortige Aufnahme von Verhandlungen und statt einer militärischen Verteidigung den sozialen Widerstand – ein Umdenken von einer Sicherheitslogik zur Friedenslogik. Dabei wird ausgeblendet, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Seite wirklich verhandlungsbereit ist. Der ukrainische Präsident Selensky hat Verhandlungen per Dekret verboten und Vladimir Putin bricht lieber sein Versprechen, keine Reservisten und Wehrdienstleistende in die Ukraine zu schicken und wirft die nächste Welle an Männern zwischen 25 und 35 Jahren an die Front. Darüber hinaus droht er weiter damit, die neu annektierten Gebiete, die jetzt zum heiligen russischen Reich gehören, notfalls sogar mit Atomwaffen zu verteidigen.       

Auf politischer Ebene sind es die AFD und die Linke, die ebenfalls weiter ein Ende des Krieges fordern. Der AFD geht es in erster Linie darum, alle vermeintlich „selbst gemachten Probleme“ wie die Inflation und die hohen Energiepreise wieder zu senken. Sie schüren gezielt die Angst vor sozialem Abstieg. Alles andere ist für sie zweitrangig. „Deutschland zuerst!“ tönt es bei Weidel, Chrupalla & Co. Der Westen müsse die Sanktionen aufkündigen, dann würde auch schnell wieder das Gas fließen und die Menschen müssten im Winter nicht frieren.

Ungelöste Konflikte

Wenn es doch so einfach wäre. Ein sofortiger Waffenstillstand – dem Putin und Selensky zum jetzigen Zeitpunkt weder zustimmen, geschweige denn ihn offensichtlich in Betracht ziehen, könnte auch nicht mehr bewirken als den jetzigen Kriegszustand - wenn überhaupt - einzufrieren. Denn beide Kontrahenten haben ihre Kriegsziele noch nicht erreicht. Weder konnten die russischen Streitkräfte die so genannte „Entnazifizierung“ der ukrainischen Regierung erreichen, noch die ukrainische Armee die eroberten Gebiete vollständig zurück erobern, wie es der ukrainische Präsident unlängst versprochen hat.

Selbst wenn es wirklich gelingen sollte, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen – was aus den genannten Gründen mehr als zweifelhaft ist – was wäre damit erreicht? Dass die Waffen schweigen? Vermutlich nicht. Alle Konflikte, die sich rund um das Erbe der ehemaligen Sowjetunion ranken, sind bis heute ungelöst und tendieren zur Gewalt. Ob es um die Annektierung von Teilen Georgiens oder die gewaltsamen Ausbrüche zwischen Aserbaidschan und Armenien, Kirgisistan und Kasachstan, Tschetschenien und Dagestan, Belarus oder eben die Ukraine und Russland geht – überall hält nur die Gewalt der Armeen und der Sicherheitsdienste das Volk und die Emanzipationsbewegungen mit aller Härte in Schach. Innerhalb des eigenen Landes haben Putin und seine Schergen anscheinend aber noch alles unter Kontrolle, wenn mal davon absieht, dass sich immer mehr Bürger dem Willen des Staates durch Flucht entziehen.

Die jüngst verhängten EU-Sanktionen gegen Russland werden die ohnehin prekäre Wirtschaftslage massiv verschlechtern. Tausenden drohen Arbeitslosigkeit und Einkommensverlust. Die russischen Streitkräfte locken mit hohen Verdienstmöglichkeiten und dennoch wollen immer weniger Männer verheizt werden. Denn die russische Armee hat schon immer den Ruf gehabt, eine der härtesten zu sein. Eine Härte, die sich nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen die eigenen Soldaten richtet, die dem Willen der Offiziere vollkommen ausgeliefert sind. Die Kritik richtet sich daher bislang im Wesentlichen gegen die Armeeführung. Ein neuer Kommandeur für die Ukraine soll es jetzt mit den neuen Truppen richten. Die Zeichen stehen auf Kampf und dass die Ukraine so lange bestehen konnte und zuletzt sogar große Gebiete zurück erobern konnte, hat sie vor allem den Waffenlieferungen und ihrem Kampfwillen zu verdanken. Verhandlungen will also niemand außer denjenigen, die der Ansicht sind, dass „Krieg nach Gottes Wille nicht sein soll“ und oder denen, die glauben, dass unabhängig von den Gegebenheiten vor Ort noch nicht genug unternommen wurde, um alle zur Verfügung stehenden diplomatischen Optionen voll auszuschöpfen. Zu denen gehören auch jene, die vermuten, dass durch Druck auf den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill sich etwas bewegen könnte.

ÖRK erfolglos

Zweifellos wurde das hinter den Kulissen der jüngsten ökumenischen Vollversammlung auch versucht. Doch dort biss man sich an dem geistlichen Oberhaupt der russischen Staatskirche die Zähne aus. Die Organisatoren hatten bewusst darauf verzichtet, Kyrill und seine Delegation auszuladen, in der Hoffnung, dass vielleicht ein Wunder geschehen könnte. Aber die Hoffnung war umsonst. Auch der Versuch, Einfluss auf das Oberhaupt der neuen ukrainischen orthodoxen Kirche auszuüben, führte vor allem nur dazu, dass dieser sich stattdessen vor dem ukrainischen Geheimdienst rechtfertigen musste.

Auf dieser Ebene wurde also tatsächlich nichts unversucht gelassen. Doch es ist Zeit anzuerkennen, dass die Menschheit offensichtlich noch nicht reif für Gottes Plan ist, denn wenn die Gewalt erst einmal in Gang gesetzt wurde, dann lässt sie sich auch nicht so schnell wieder einfangen – eine bittere Erkenntnis, an der auch die zivile Konfliktbearbeitung nicht vorbeikommt. Mit anderen Worten: es gibt eine Zeit des Friedens aber leider auch des Krieges – Friedens- bzw. Sicherheitslogik hin oder her. Das Eine ergibt sich immer aus dem Anderen.

Das ist natürlich enttäuschend. Auf meinem letzten Vortrag in einem Evangelischen Kirchenkreis der rheinischen Kirche über den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die protestantische Friedensethik kritisierte ein Zuhörer entsprechend, dass ich keine Lösung für eine zivile Konfliktbeilegung angeboten hätte und stattdessen sogar Partei für die Ukraine gegen Russland ergriffen habe. Von einem „Fachmann für zivile Krisenprävention“ hätte er mehr Unparteilichkeit erwartet. „Was denn überhaupt der Unterschied zwischen dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Einmarsch der Amerikaner im Irak sei“, wollte ein anderer Teilnehmer wissen.

Erosion des Völkerrechts

Mein Einwand, dass die USA immerhin zu unseren Lebzeiten bisher nie ein anderes Land einfach annektiert und sich einverleibt hätten und dass sie bislang auch noch nie mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht haben, um ihre militärischen Operationen abzusichern, schien die Mehrheit meiner Zuhörer nicht wirklich zu beeindrucken. Auch dass die amerikanischen militärischen Auslandseinsätze in den meisten Fällen mit einem völkerrechtlichen Mandat ausgestattet gewesen seien, machte da keinen Unterschied.

In der Tat müssen wir aber zugeben, dass wir, der Westen, an der Erosion des Völkerrechts mitschuldig sind. Zum Beispiel weil die USA den Sturz Saddam Husseins mit dessen angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen rechtfertigte und dafür sogar gefälschte Beweise vorlegte, um den Sicherheitsrat zu täuschen. Das hat nun dazu geführt, dass eine Vetomacht, die zugleich den größten Flächenstaat der Welt repräsentiert, sich ermutigt fühlt, einen Nachbarstaat zu überfallen, weil dessen Territorium doch eigentlich angeblich zum eigenen gehöre und alle vorherigen Verträge über die Achtung und Anerkennung von dessen Souveränität und Grenzen ignoriert werden.

Imperialismus und Nationalismus

Natürlich hat Putin bereits lange vor diesem Krieg erklärt, dass die NATO-Osterweiterung eine Bedrohung für ihn sei und er hat nichts unversucht gelassen, um diese angebliche Bedrohung von Anfang an in die Köpfe seiner Mitbürger einzuhämmern. Er beschwor damit die Ideologie der rechtsextremen nationalistischen Kräfte um den Demagogen Dugin, dessen Tochter vor kurzem an seiner statt, vermutlich von ukrainischen Nationalisten, in die Luft gesprengt wurde. Egal,wie man es dreht und wendet: Putin und seinen verbündeten Nationalisten geht es um Revisionismus – sie wollen die Größe des einstigen Sowjetimperiums wiederherstellen. Ihr Ziel ist es, die alte Großmacht wieder auferstehen zu lassen, jedoch ohne sozialistisch-revolutionäre Hintergedanken, sondern allein um der eigenen Macht Willen.

Selensky und dessen Regierung geht es dagegen um den Erhalt des Vaterlandes. Der ukrainische Nationalismus, der auch nicht frei von extremistischen und chauvinistischen Kräften ist (so wie bei jedem Nationalismus auf der Welt) kämpft bereits seit mehr als hundert Jahren um einen eigenen Staat. Und weder zwei Weltkriege noch ein Genozid wie der Holodomor, mit dem Stalin durch die Zwangsrekrutierung ukrainischen Getreides eine Hungersnot verursachte, konnten Kiew in die Knie zwingen. Auch nicht die anhaltende Einflussnahme des großen Nachbarn im Norden auf die ukrainische Innenpolitik nach dessen Unabhängigkeit konnte etwas daran ändern. Der Respekt vor Russland schwindet in der Ukraine.

Für die Kriegsgegner hierzulande scheint es aber ohnehin nur schwer hinnehmbar zu sein, dass sich die osteuropäischen Völker nach dem Zerfall der Sowjetunion in großer Mehrheit eher für eine Westanbindung entschieden, als weiter im Einflussbereichs Russlands zu verbleiben. Stattdessen, so meinte mein kritischer Teilnehmer nach meinem Vortrag, hätte die NATO ja schließlich „Nein“ sagen können und die Anträge auf eine Mitgliedschaft ablehnen können, um den Frieden zu wahren.

Unrealistische Wunschvorstellungen

Ähnlich denkt wohl auch die Initiative der badischen Landeskirche „Sicherheit neu denken“. Dort vertraut man noch auf ein Grundsatzpapier von 2018. Zu der Zeit aber war die Krim bereits annektiert und im Donbass wurde immer wieder gekämpft und dennoch setzten die Verfasser auf eine Wirtschaftsunion zwischen der EU und Russland und den Umbau der Bundeswehr in ein technisches Hilfswerk. Deren weitere Vorschläge von einer gerechteren Wirtschaftsordnung und einer Demokratisierung der UNO sowie mehr Resilienz unserer Demokratie durch Friedensbildung und zivile Konfliktbearbeitung klingen nobel und erstrebenswert. Auch die Idee einer internationalen Polizei ist sicher jede Unterstützung wert. Allein - es mangelt an der Bereitschaft der Mächtigen, sie umzusetzen und das schon lange vor dem aktuellen Konflikt. Darüber hinaus nützt es niemand etwas, allein eigenen Wunschvorstellungen von einer Welt anzuhängen, die so offensichtlich nicht mehr existiert. Wenn Zeiten angebrochen sind, in denen eine Diktatur, die zugleich Vetomacht ist und über atomare Waffen verfügt, sich anschickt, nicht nur seine eigenen Bürger zu unterdrücken, sondern auch seine Nachbarstaaten unter sein Joch zu zwingen droht, ist Realpolitik gefragt.  

Und überhaupt, was ist daran so schwer zu verstehen, dass ein gerechter Frieden unter diesen Umständen nicht möglich ist? Das ist kein Bellizismus oder Forderung nach einem Kriegseintritt der NATO, sondern Realismus. Das Schweigen der Waffen jedoch würde nichts daran ändern, dass weiter in Russland und in den von ihm besetzten Gebieten Bürger mundtot gemacht, inhaftiert, verschleppt oder gar ermordet werden. Und was ist mit denjenigen, die in den Satelliten-Staaten wie Belarus, Usbekistan oder Kasachstan mit Unterstützung der russischen Führung ebenfalls Repressionen ausgesetzt sind? Oder jenen, die Putin sogar im Westen verfolgen und umbringen lässt? 

Was ist mit der fortwährenden Unterstützung der neuen rechten Bewegungen innerhalb der EU durch Putin, ob nun der AFD hier in Deutschland oder dem Rassemblement National in Frankreich, den Neofaschisten in Italien, der FPÖ in Österreich oder Victor Orban in Ungarn? Sie alle wurden und werden mit Geld, Informationen und in ideeller Form unterstützt, mit dem Ziel die EU und seine rechtsstaatlichen demokratischen Strukturen zu schwächen. Über seinen Propagandasender „Russia Today“ und über die sozialen Medien verbreitet der ehemalige KGB-Mann Putin seit Jahrzehnten seine Desinformationen und sein Weltbild. Selbst der Brexit wurde ausdrücklich auf Wunsch des russischen Präsidenten unterstützt. Ein britischer Geheimdienstbericht, den der britische Premier Boris Johnson weitgehend erfolgreich der Öffentlichkeit vorenthalten konnte, legt dies zumindest nahe. Sogar bei der Wahl des Populisten Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten hat Putins Apparat die Finger mit im Spiel gehabt.

Zivile Lösung unerwünscht

Anstelle eines vereinigten, starken, demokratischen Europas unter dem Dach der EU und einem demokratischen Westen, wünscht sich Putin ein fragmentiertes Europa, in dem jedes Land seine eigenen Interessen wohl oder übel vertritt. Seine Vision ist ein Europa der „Vaterländer“, die jedes für sich mit der Großmacht Russland verhandeln müsste. Er wünscht sich eine neue hegemoniale Ordnung, in der Russland nach eigenem Belieben schalten und walten kann, ohne die bisherige Dominanz der USA. 

Ein gerechter Frieden kann auch nicht die zahlreichen Kriegsverbrechen ignorieren, die die russischen Streitkräfte und ihre Söldner begangen haben. Ein gerechter Friede kann nur dann geschaffen werden, wenn auch all diese Verbrechen aufgeklärt und die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Auch ist es fraglich, wie eine neue internationale Friedens- und Sicherheitsarchitektur mit Putin gelingen kann. Nein, eine zivile Lösung kann derzeit wohl niemand präsentieren, weil sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht erwünscht ist und auch nicht funktionieren könnte, weil sie nur als Zeichen der Schwäche interpretiert würde. Solange gekämpft wird und keiner Anzeichen erkennen lässt, dass es sich lohnt damit aufzuhören, ist keine zivile Lösung in Sicht.

Darüber hinaus müssen wir anerkennen, dass eine Kirche, die inzwischen beileibe keine Volkskirche mehr ist, nur sehr geringen Einflussnahme auf das Kriegsgeschehen hat. Selbst die Bundesregierung oder gar die USA haben immer weniger Einfluss auf die Kriegsparteien. Das, was uns in dieser Lage zu tun bleibt, ist eine Anpassung an diese neuen Realitäten. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen vor allem die Augen für die neuen sicherheits- und ordnungspolitischen Herausforderungen öffnen: Eine multipolare Welt, die im Zweifel auch bereit ist, Waffengewalt einzusetzen, um ihre Interessen durchzusetzen - ein Rückfall in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der der Imperialismus herrschte.

Eine Riesenenttäuschung

Natürlich ist das eine Riesenenttäuschung, gerade für uns Deutsche, die wir bisher so formidabel von der bisherigen Friedensordnung profitierten. Diese aber konnte wohl erst unter dem atomaren Schutzschirm überhaupt entstehen, wie der Wiener Systematische Theologe Ulrich Körtner richtig erkannt hat. Deutschland und Europa haben vor allem wirtschaftlich, trotz der Sanktionen, weiter von billigen Gas- und Ölpreisen aus Russland und von der Globalisierung profitiert. Angesichts unserer eigenen deutschen nationalistischen Geschichte haben wir uns nur zu gern dem Glauben hingegeben, dass eine Welt ohne Krieg nicht nur möglich, sondern sogar zum damaligen Zeitpunkt auch wahrscheinlich war. Wir fühlten uns verpflichtet, gegen den Militarismus aufzustehen – zu Recht – vergaßen aber, dass er außerhalb unseres Landes und unseres Kontinents noch „fröhliche“ Missstände feiert. Nun wurden wir durch die relative Nähe eines Angriffskrieges in europäischer Nachbarschaft eines Besseren belehrt, und das bedeutet, dass wir mit den machtpolitischen Ambitionen Russlands, Chinas und Nordkoreas rechnen müssen.

Eine gemeinsame europäische Sicherheits-, Außen- und Verteidigungspolitik war deswegen noch nie so wichtig wie heute. An einer Zeitenwende kommen wir leider nicht vorbei. Aufrüsten allein reicht jedoch nicht. Es bedarf einer besseren Zusammenarbeit und neuer Verbündeter. Wir müssen bestehende Partnerschaften gegebenenfalls neu definieren und auch weiterhin mit allen Mitteln nach einem geeigneten zivilen Krisenmanagement suchen.

Weniger Selbstgerechtigkeit

Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan schrieb unlängst in einem Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung, dass wir eine neue globale Zusammenarbeit brauchen, die sich jenseits postkolonialer Interessen und machtpolitischer Arroganz des Westens bewegen sollte - wie wahr! Wir dürfen unseren moralischen Maßstab  nicht zum allein Maßgeblichen machen. Genau darin liegt die Chance, nun auf Augenhöhe neue Beziehungen mit unseren Nachbarn – allen voran mit Afrika – aufzubauen. Doch dafür müssen wir glaubwürdiger und weniger selbstgerecht werden, indem wir nicht länger die Menschenrechte mit Füßen treten. Unsere EU-Außengrenzen sollten nicht gegen jene gerichtet sein, die doch eigentlich bei uns Schutz vor der Verfolgung in ihren Heimatstaaten oder nach einer Perspektive suchen. Schaffen wir lieber ein gerechtes Arbeitsmigrationsgesetz - Europa braucht die Zuwanderung ohnehin, denn wer soll in Zukunft all die Jobs machen, für die sich Einheimische zu schade sind?

Wir können uns in Zukunft nicht mehr die Arroganz leisten, Migranten auszuschließen oder sie zu diskriminieren. Wir können uns keine weiteren Uneinigkeiten und Diskrepanzen in Europa leisten. Wir können auch nicht mehr allein weiter auf den Schutzschirm der Vereinigten Staaten von Amerika bauen, wenn es darum geht, unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand in Europa zu verteidigen. Denn auch die USA sind tief gespalten und polarisiert, und sollte Donald Trump die nächste Präsidentschaftswahl gewinnen, wäre ein Auseinanderbrechen der NATO nicht auszuschließen. Und ja - wir können es uns auch nicht mehr leisten, mit dem Kriegsverbrecher, Tyrannen und Präsidenten Vladimir Putin falsche Kompromisse einzugehen.

Und was die christlichen Friedensethiker anbelangt, so wären sie gut beraten, nicht allein normative theologisch-theoretische Grundsatzdebatten zu führen, sondern sich eine eigene praktisch-konkrete Kompetenz in der Konfliktbearbeitung anzueignen, statt vom Schreibtisch aus wohlfeile Ratschläge an die Kontrahenten zu erteilen. Dafür muss man noch nicht einmal auf der höchsten politischen Ebene ansetzen, sondern könnte im Kleinen, in Kirchengemeinden und -kreisen damit beginnen, die anspruchsvolle und anstrengende Praxis der zivilen Konfliktbearbeitung einzuüben und zu erlernen. Denn inzwischen ist der Krieg auch in unserer Gesellschaft, zum Beispiel in Schulen, Flüchtlingsheimen und in sozialen Brennpunkten angekommen. Das wäre nicht nur sinnvoller als allein Mahnwachen abzuhalten, sondern auch glaubwürdiger. Es wäre aber auch anstrengender und würde dem eigenen Anspruch „Friedensstifter“ sein zu wollen, gerechter werden.

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Foto: Jun Fukuda – Fotostudio Menke

Jörgen Klußmann

Jörgen Erik Klußmann ist Studienleiter "Politik des Dialogs und der Vielfalt" an der Evangelischen Akademie im Rheinland. 


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