Lasst die Unis auf!

Energiesparen auf Kosten der Studierenden? Ein Unding!
Foto: Harald Oppitz

Da ich mich noch an die Zeiten erinnern kann, als im Bauernhaus meiner Großeltern der große Kessel für das heiße Badewannenwasser einmal am Samstag angeworfen wurde und dann alle (hintereinander) in diese Wanne stiegen, machen mir Waschlappengebrauch und abgesenkte Temperaturen in Wohnungen nicht wirklich Angst. Angst dagegen habe ich vor dem bald beginnende Wintersemester im Blick auf Pläne und Forderungen, aus Energiespargründen Studentinnen und Studenten in die verlängerten Weihnachtsferien zu schicken oder gar wieder ganz auf digitale Lehre umzusatteln. Dabei habe ich nicht Angst um mich, sondern um die jungen Menschen in unserem Land.

Meine Ansicht: Die Länder sollten diese Forderungen entweder ganz zurückzunehmen oder wesentlich zurückzuschrauben. Es ist ein Unding, dass manche Universitäten 20 Prozent Energie einsparen sollen! Junge Menschen sind nachweislich die Hauptleidtragenden der Pandemie gewesen. Die Tochter eines Freundes leidet nach der Einsamkeit ihrer ersten Semester an der Uni an einer ausgewachsenen Depression, und sie ist wahrlich nicht die Einzige. Psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen sind nach manchen Studien um 30 Prozent angestiegen. Einmal ganz abgesehen von den Folgekosten im Blick auf Kosten für ärztliche- und therapeutische Behandlung oder Reha-Maßnahmen. Die OECD schätzt, dass die Kosten schlechter psychischer Gesundheit im OECD-Schnitt mehr als 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen!

Nur in Kooperation

In jedem Fall brauchen die jungen Menschen den Schutz unserer Gesellschaft. Ich werde wütend, wenn ich mir vorstelle, dass die Studierenden einsam in ihren kalten Buden hocken, damit die Lehrsäle, Bibliotheken und Foyers nicht geheizt werden müssen. Meint jemand im Ernst, dass das die Wissenschaft in unserem Land voranbringt? Oder ist es ganz egal, ob gelernt und gelehrt werden kann? Ganz im Gegenteil müssten die Universitäten und andere Ausbildungsorte Räume schaffen dürfen, in denen junge Menschen auftanken, sich aufwärmen und Gemeinschaft genießen können, um sich mental zu stärken. Denn die Bewältigung der Krisen dieser Welt gelingt nur in Kooperation und im vernetzten Diskurs, beides erlernt man im leiblichen Kontakt mit anderen. Und nicht am einsamen Bildschirm daheim.

In unserer Ausbildungsstätte, dem Theologischen Seminar im Schloss Herborn, leben und arbeiten wir in einem uralten Gemäuer, das zwar energetisch saniert, naturgemäß aber nicht einfach zu heizen ist. Wir haben die Heizungstemperatur gesenkt, wir bitten alle um sparsamsten Umgang mit den Ressourcen, die meisten Vikarinnen und Vikare und auch ich haben jetzt immer eine Wärmflasche und Wollsocken dabei. Am meisten schmerzen alle die eingeschränkten Nutzungszeiten der Kaffeemaschine, allerdings ergeben sich in der Schlange vor dem Automat auch viele gute Gespräche. Keiner freut sich über die Einschränkungen, aber wir haben das gemeinsame Ziel, dass wir weiter gemeinsam in Präsenz lehren und lernen können, und ich bin sehr dankbar darüber, dass unsere Evangelische Kirche in Hessen und Nassau das auch finanziell mitträgt, weil sie weiß, dass nur so die Qualität der Ausbildung und die seelische Gesundheit der Vikarinnen und Vikare gewahrt bleiben kann.

Klar, Energie muss eingespart werden. Aber solange in Deutschland noch über 120 km/h auf den Autobahnen gefahren werden darf, solange man noch verbrauchsintensive Autos als Dienstwagen von der Steuer absetzen kann und solange es keine Reichensteuer gibt, sollten die Länder die jungen Menschen an Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten in Ruhe lassen!

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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