Inneres Leben

Ein moderner Zeit-Roman

Die englische Zeitung The Guardian ist aus vielen Gründen zu empfehlen. Ein Beitrag über „Bücher von Frauen, die jeder Mann lesen sollte“ fügte jüngst noch einen hinzu. Auf der Basis von Umfragen, wonach Frauen je zur Hälfte Bücher von Männern wie Frauen lesen, Männer hingegen zu achtzig Prozent bei dem eignen Geschlecht bleiben, fragte er nach Ursachen sowie bekannte Autoren nach deren Lieblingsbüchern von Frauen.

Salman Rushdie nannte Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway: „Ich habe ihn erst dieses Jahr erneut gelesen, und er bleibt erstaunlich: Zuerst auf der Ebene des Satzes, ihre Sätze sind einfach schön. Und dann wegen ihrer Fähigkeit, tief ins innere Leben und die Gedanken der Figuren einzudringen. Warum also sollten Männer diesen Roman lesen? Weil sie auch ein inneres Leben haben!“ Erschienen ist der Artikel Ende Mai, im Vorgriff auf den Dalloway Day sozusagen, der stets am 15. Juni begangen wird. Schließlich erzählt Woolf (1882 – 1941) in ihrem vierten Roman von einem Tag Mitte Juni 1923 im Herzen Londons: „Mrs. Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst kaufen“, lautet der erste Satz. Lucy, eine ihrer Bediensteten, hat nämlich genug zu tun. Denn Clarissa, wie die 51-jährige Parlamentariergattin mit Vornamen heißt, gibt am Abend eine Gesellschaft, zugleich restviktorianische Kunst – wie vor allem ihre Form, das Leben zu spüren.

Und mit dem wohl absehbar nötigen aus den Angeln Heben der Türen im dritten Satz beginnt sogleich ein Strom von Erinnerungen und Gefühlen, die sie hier- und dorthin führen, abschweifen und fokussieren lassen, während der Erzählstab in Orts- und Stichwortanbindungen wieder und wieder lässig präzise an eine der vielen Nebenfiguren weitergegeben wird. Begegnungen und Berührungen, in denen der Leser so erregt wie gebannt mitschwimmt: In Zeitsprüngen, Introspektion, Geschichten sowie anschaulich imaginierten Orten rund um Westminster, die zugleich lebendige Vergangenheit und die ferne Kronkolonie Indien leichthändig mitenthalten. Bloß die andere Hauptfigur, den noch jungen, vom Weltkriegsschlachtfeld schwer traumatisierten „Kriegszitterer“ Septimus Warren Smith, der einem im Lauf des Romans um so näher rückt, trifft sie nie. Erst am Ende ihres vollen Tages, der wohlig zwischen Misslingensgezeter und Strahlen pendelt, begegnet sie ihm indirekt – und pikiert. Ein Nervenarzt, der sich an Fällen wie jenem zuvörderst selbst gesund stößt, zählt samt Gattin zu den Geladenen: „Was fiel den Bradshaws ein, auf ihrer Party vom Tod zu sprechen? Ein junger Mann hatte sich umgebracht. Und davon sprachen sie auf ihrer Party – die Bradshaws sprachen vom Tod. Er hatte sich umgebracht – aber wie? Es fuhr ihr immer zuerst durch ihren ganzen Körper, wenn sie unvermittelt von einem Unfall erfuhr; ihr Kleid entflammte, ihr Körper brannte.“ Dabei ist und bleibt im Stundenschlagen des nahen Big Ben der Tod gleich von Beginn an präsent: „Es dröhnte. Zuerst die Ankündigung, melodisch; dann die Uhrzeit, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösten sich in Luft auf.“ Dem geschätzten Graham Greene ist also zu widersprechen, fand der tapfer sündigende Katholik und Erzähler des existenziell Inneren doch, in ihrem modernistischen Schreiben habe Woolf den religiösen Sinn verloren. Die Folge seien hohle, oberflächliche Pappfiguren in einer papierdünnen Welt. Doch gerade so trifft sie ihn, den religiösen Sinn in der modernen Welt, und dies erzählerisch unwiderstehlich elegant: im Fließen von indirekter Rede und innerem Monolog, Wahrnehmungen, Erinnern und Begegnungen, dem Wechseln von Stimmen und Orten.

Wie James Joyce’ Ulysses ist ihre Mrs. Dalloway ein Meilenstein des modernen Zeit-Romans. Zwar war es mit dem Guardian wohl kaum verabredet, passt aber gut dazu, dass nun eine Neuübersetzung von der vielfach prämierten Melanie Walz erschienen ist. Als Leser hängt man vielleicht an jener Version, die man als prägend erste las, ganz ähnlich wie bei der Luther-Bibel. Doch diese taschenfreundliche Neue aus der Manesse-Bibliothek punktet zudem mit sachte erläuternden Fußnoten und einem Nachwort, das den Roman wie auch Virginia Woolf legendenfern, konzis und gelungen vertiefend umkreist.

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