Die Erfindung des Missionsbefehls

Über die koloniale Wurzel der gegenwärtigen Kirchlichkeit und Theologie
In der Missionsstation Maria Trost des Klosters Mariannhill in der südafrikanischen Provinz KwaZulu Natal: Ein Priester tauft ein Neugeborenes (1912).
Foto: akg
Deutsch-Ostafrika: Pater Conrado mit Missionsschülern, vermutlich 1910er-Jahre.

Das zeitliche Zusammenfallen von Mission und Kolonialismus ist kein historischer Zufall, meint Ravinder Salooja, der bis August dieses Jahres Direktor des Evangelisch-Lutherischen Missionswerks in Leipzig war. Vielmehr sieht er im imperialen Streben der Europäer in der Neuzeit den Boden, auf dem die Vorstellung eines „Missionsbefehls“ erst entstehen konnte. Im folgenden Text beleuchtet Salooja kritisch auch die zeitzeichen-Berichterstattung zum Thema.

Wohl kaum ein anderer Bereich aus Kirche und Theologie ist in der kirchlichen und öffentlichen Wahrnehmung so eng mit Kolonialismus verbunden wie Mission. Im 19. Jahrhundert als der Hochzeit der protestantischen Weltmission sind die großen europäischen protestantischen Missionsgesellschaften von Basel über Elberfeld und Bethel bis Bremen und Berlin sowie von Breklum über Hermannsburg und Leipzig bis Neuendettelsau entstanden, die heute in Deutschland landeskirchliche Missionswerke und Zentren der weltweiten Kirche geworden sind. Als Direktor des Evangelisch-Lutherischen Missionswerks Leipzig war ich deshalb gespannt auf den zeitzeichen-Schwerpunkt „Kolonialismus“, der für die Juli-Ausgabe angekündigt war – und wurde enttäuscht: Mir ging der Schwerpunkt nicht tief genug und erreichte die Wurzeln des Problems nicht. Insbesondere die Verbindung von Kolonialismus und Mission war nicht mehr im Blick. Martina Pauly stellt in ihren Überlegungen die bewundernswerte Entwicklung der Vereinten Evangelischen Mission hin zu einer tatsächlich internationalen Missionsgemeinschaft in den Vordergrund. Sollte also mit dem Beitrag von Anton Knuth „Unterdrückt oder befreit?“ vom Oktober 2021 alles gesagt sein? Knuth verneint darin die Frage, ob christliche Mission eine andere Form von Kolonialismus gewesen sei. Aber war seine Antwort in der Frage vielleicht bereits vorgegeben, so dass andere Antworten nur mit anderen Perspektiven zu erhalten sind?

Der Kolonialismus-Schwerpunkt der Juli-Ausgabe beinhaltet wichtige Dimensionen hervorragender Autoren: Der Beitrag von Mark Terkessidis benennt das Thema des deutschen Kolonialismus vor und nach dem Übersee-„Salzwasser“-Kolonialismus, nämlich der preußischen und später kaiserreichlichen Kolonisation Ost- und Südosteuropas, die von Hitlers kontinentaler Expansionspolitik fortgesetzt wird. Stefan Silber geht auf die Weißheit europäischer Theologie ein und erwähnt unter anderem den Wuppertaler Missionsinspektor Friedrich Fabri, der als theologischer Vordenker der deutschen Kolonialbewegung gilt. Der römisch-katholische Missionswissenschaftler Joseph Schmidlin wird unfreiwilliger Zeuge dafür, wie die theologische und kirchliche Expansion Europas unter dem Mantel der Mission zur „inneren Kolonisation“ und „seelischen Unterwürfigkeit“ der kolonisierten Subjekte beigetragen hat. Für Silber ist „die Nähe zwischen Kolonialismus und (Missions-)Theologie“ eine Erblast – dass diese Erblast die gesamte Theologie betrifft, hat Simon Wiesgickl kürzlich exemplarisch in seiner Studie „Das Alte Testament als deutsche Kolonie“ (2018) aufgezeigt. Schließlich bringt Louis Henri Seukwa im Interview über den postkolonialen Blick auf Pädagogik, Wissensproduktion und im Ergebnis koloniales Wissen die zutiefst rassistische Grundstruktur der neuzeitlichen westlichen Gesellschaften zur Sprache. Aus dem Fokus verschwunden aber sind für mich beim zeitzeichen-Schwerpunkt gerade Theologie und Kirche: Wenn die neuzeitlichen westlichen Gesellschaften eine rassistische Grundstruktur haben, muss das dann nicht auch für ihre Kirche und Theologie vermutet werden? Am Beispiel „Mission“ lässt sich das besonders gut zeigen.

„In alle Welt“

Anton Knuth führte in zz 10/21 Beispiele an, in denen Mission und Missionsbewegung den kolonisierten Menschen Möglichkeiten des Widerstands gegen den Kolonialismus bereitstellten, so wie beispielsweise Konversion auch als Akt der Selbstbehauptung und Befreiung verstanden und genutzt werden konnte. Auch seien Missionare und Diakonissen nicht von den Staatskirchen, sondern von freien, unabhängigen Missionsgesellschaften ausgesandt worden, und vor Ort hätten diese oft im Widerstand gegen die koloniale Herrschaft gearbeitet. Knuth behauptet, dass das „zeitliche Zusammenfallen von Kolonialismus und Mission“ keine inhaltliche Symbiose belege, und suggeriert so, dass die Zeitgleichheit ein historischer Zufall sei.

Das aber ist sie nicht – jedenfalls dann nicht, wenn man den Thesen von Rasiah S. Sugirtharajah folgt. Für Sugirtharajah ist nämlich das Entstehen von Missionsgesellschaften, die von einer Zentrale ausgehend Mitarbeiter:innen in alle Welt zum Ernten der Früchte der Glaubensverbreitung entsenden, gerade kein Zufall, sondern erklärt sich aus dem spezifischen Kontext europäischer Expansion „in alle Welt“ seit dem 16. Jahrhundert. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Publikation des englischen, baptistischen Predigers William Carey, der später zum herausragenden Indien-Missionar avanciert. Dieser hatte 1792 in seiner „Untersuchung über die Verpflichtung von Christen, Mittel für die Konversion der Heiden aufzuwenden“ die Bibelstelle Matthäus 28,18–20 zur Begründung der Konversionsverpflichtung angeführt.

In der Nachfolge Careys tritt Matthäus 28 dann seinen europäischen Siegeszug als „Missionsbefehl“ an, der die Gründung entsprechender Missionsgesellschaften legitimiert, die überdies mit ihren europäischen Zentralen strukturell den Handelsgesellschaften gleichen, die die Früchte ihrer wirtschaftlichen Unternehmungen einsammeln. Die Verbreitung des christlichen Glaubens ist vor Carey mit allen möglichen Bibelstellen interpretiert worden, in der Regel aber nicht mit Matthäus 28, so wenig wie Matthäus 28 vorher als „Befehl zur Konversion“ verstanden wurde. In diesem Sinne darf William Carey als Erfinder des Missionsbefehls gelten. Dass dieser Missions-Konversionsbefehl ein Paradebeispiel des Othering im Kontext der Kons­truktion europäischer Weißheit ist, also der Kons­truktion der eigenen Identität mit Hilfe der Negierung und Abgrenzung von einem Gegenüber als dem Anderen, liegt auf der Hand.

Wie sich der christliche Glaube vor der Neuzeit und insbesondere auch vor dem Paradigmenwechsel zur römischen Staatsreligion im vierten Jahrhundert verbreitet hat, ist ein eigenes Thema, das natürlich sofort als Frage im Raum steht, wenn der „Missionsbefehl“ als neuzeitliche Erfindung verstanden wird. Sugirtharajah verweist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchungen Alan Kreiders, der das Bild eines stillen Fermentierungsprozesses verwendet.

Mein hermeneutischer Ansatz in der Interpretation der Geschichte der protestantischen Weltmission besteht darin, dass ich ihr Entstehen im Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus anders als Anton Knuth nicht für einen Zufall halte: dass staatliche Kolonialherrschaft zum Teil erst nach dem Erscheinen europäischer Missionare in den Ländern Afrikas und Asiens etabliert wurde, ist kein Beleg gegen die Abhängigkeit der protestantischen Weltmission vom imperialen und kolonialen Gesellschaftskontext ihrer Zeit. Unter den herausragenden Persönlichkeiten der protestantischen Weltmission wird Franz Michael Zahn, Inspektor der Norddeutschen Missionsgesellschaft, als Gegenspieler des kolonialbegeisterten Friedrich Fabri verstanden.

Getrübter Blick

Allerdings spricht Ohiniko Mawussé Toffa in seiner Untersuchung zu Zahn von einem „Kolonialismus avant la lettre“, und so verdunkelt sich auch dieser Leuchtturm protestantisch-missionarisch guten Gewissens. Im Sinne einer Hermeneutik des Verdachts achte ich darüber hinaus besonders auf die „irregulären“ Stimmen aus lokalen Missionskontexten: Die Positionierung bei der Reflextion des Verhältnisses von Mission und Kolonialismus unterscheidet sich möglicherweise zwischen Personen aus kirchlichen Bezügen und denen aus kirchenkritischen Zusammenhängen. So nehme ich hoffentlich deutlicher das wahr, was man – auch ich selbst – oft ungern zur Kenntnis nimmt und viel lieber übersieht.

Die Ausführungen zu den Anfängen des Missionsbefehls sind für mich nur Beispiel dafür, inwiefern der zeitzeichen-Schwerpunkt Kolonialismus in seiner Ausgestaltung nicht radikal genug ist: Er trübt den Blick auf die koloniale Wurzel unserer gegenwärtigen Kirchlichkeit und Theologie. Damit befindet er sich allerdings in „guter“ Gesellschaft all derer, die mit dem Finger auf die protestantische Weltmission zeigen und ihr die Verbindung mit dem imperial-kolonialen Geist ihrer Zeit vorwerfen. In historischer Betrachtung ist ein Vorwurf allerdings überflüssig, es sei denn, er dient dazu, das eigene von dem, was dem anderen vorzuwerfen ist, freizuhalten. Wenn aber insbesondere der Missionsbefehl Jesu eine Erfindung aus der Zeit von Imperialismus und Kolonialismus ist, was dann vielleicht noch alles?

Erblast im Gesamten

Beim Fingerzeig weisen drei Finger auf einen selbst zurück. Stefan Silber hatte bereits die Nähe zum Kolonialismus als Erblast bezeichnet. Wir stehen vor der Herausforderung, diese Erblast im Gesamten unserer europäischen Theologie und Kirchlichkeit aufzuspüren. Dass das nötiger ist denn je, wird bei einem Blick auf aktuelle Kirchenstruktur-Reformprozesse deutlich: Wo eine inhaltlich-qualifizierende Zielvorstellung sich auf den Begriff „Mission“ bezieht, wird diese in der Regel als „Mitgliedergewinnung“ verstanden. Aber ist nicht genau das das koloniale Konzept von Mission als Konversion von Heiden, als Mitgliedermachen derer, die noch keine Christ:innen oder keine Kirchenmitglieder mehr sind?

Was könnte Mission bedeuten, wenn sie nicht Konversion anderer meinen soll? Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt Matthäus 28,19 mit „lasst alle Völker mitlernen“, und die Lutherbibel 2017 liest nun „lehret alle Völker“ (was übrigens den Protest traditioneller Missionskirchlichkeit hervorgerufen hat, die eine Rückkehr zum kolonialen Missionsbefehl fordert). Sofern in diesen Übersetzungen eine Verpflichtung zu entdecken ist, dann erlegt sie den sich schon zu Christus Haltenden auf, die eigenen Reihen nicht zu schließen, sondern sie zu öffnen für die, die dazutreten wollen. Das aber ist etwas anderes als eine Bewegung, die auf die Konversion anderer zielt. Sollte dennoch Konversion nötig sein, dann wohl die der Nachfolger:innen Jesu: Wenn wir nicht zu Restkirchen weißer Protestant:innen regionaler Prägung Niedersachsens, Sachsens, Württembergs schrumpfen wollen, dann müssen unser Herz und unser Verstand umkehren.

Die Debatte um eine postkolonial-kritische Reflextion unserer Theologie und Kirchlichkeit hat gerade erst begonnen. Beim Thema Mission hilft sie uns, andere biblische Bilder zu stärken: Salz der Erde – ausgestreut werden, um zu würzen; Licht der Welt – stoisch zu leuchten, um die Umgebung zu erhellen; Tischgemeinschaft halten mit Zöllnern und anderen – um Exklusion zu überwinden und Teilhabe zu ermöglichen … Lasst uns auf dem Weg einer mission from the margins, die auf der Suche nach dem Leben gemeinsam mit anderen den lebendigen Gott bezeugt, Hand anlegen an die Wurzel der kolonialen Prägung von Theologie und Kirche. 

 

Literatur

Rasiah S. Sugirtharajah: Eine post­koloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation. In: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, 11), Stuttgart 2013, S. 123–144 (englische Erstveröffentlichung 1998).

William Carey: An Enquiry into the Obligations of Christians, to Use Means for the Conversion of the Heathens. In Which the Religious State of the Different Nations of the World, the Success of Former Undertakings and the Practicability of the Further
Undertakings are Considered, 1792.

Alan Kreider: The Patient Ferment of the Early Church. The Improbable Rise of Christianity in the Roman Empire, Grand Rapids 2016.

Ohiniko Mawussé Toffa: Die Missions­konzeption Franz Michael Zahns (1862 – 1900).  Überlegungen zur epistemischen Dimension der kolonialen Begegnungen in Togo.  Dissertationsschrift zur Erlangung der Doktorwürde durch den Promotionsausschuss (Dr. Phil)
der Universität Bremen, 2019.

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