Zu viel abschätzige Rhetorik

Interessiert sich die evangelische Kirche nicht (mehr) für armutsbetroffene Menschen?
Symbol christlicher Nächstenliebe: St. Martin und der Bettler. Mittelalterliche Wandmalerei in der Kirche von Hejdeby auf Gotland, Schweden.
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Symbol christlicher Nächstenliebe: St. Martin und der Bettler. Mittelalterliche Wandmalerei in der Kirche von Hejdeby auf Gotland, Schweden.

Die offiziellen Äußerungen der Kirchen zur Armut haben in den vergangenen Jahren ein Problem: Häufig beschreiben sie Armutsbetroffene als defizitäre Menschen. Dies könnte an der bekannten soziokulturellen Milieuverengung der evangelischen Kirchenmitglieder liegen. Das glaubt Andreas Mayert, Referent für Wirtschafts- und Sozialpolitik am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD.

Bisherige größere Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu sozialen Entwicklungen, zu gesellschaftlicher Ungleichheit und zu Menschen in Armutslagen entstanden stets im Zusammenhang mit außergewöhnlichen wirtschaftlichen Krisen- und Konfliktlagen. Das 1997 gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Sozialwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ war eine Reaktion auf den wirtschaftlichen Strukturwandel und die damit verbundene Massenarbeitslosigkeit. Sozialethisch und theologisch begründet, begriffen sich die beiden Kirchen seinerzeit als Anwältinnen der Erwerbslosen und plädierten dafür, dass das damalige Sozialhilfesystem nicht als Auffangbecken für diejenigen missbraucht werden dürfe, die im Zuge des wirtschaftlichen Wandels zuerst Job und Einkommen und schließlich auch ihren Anspruch auf das am Erwerbseinkommen orientierte Arbeitslosengeld verloren hatten.

Die 2006 erschienene EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe – Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“ verdankt ihre Existenz der Hartz-Gesetzgebung und den damit verbundenen Diskussionen um die Zukunft des Sozialstaats. Die Denkschrift kann, wie der Titel bereits nahelegt, in weiten Teilen als grundsätzliche Zustimmung zum mit der damaligen Gesetzgebung verbundenen Paradigmenwechsel vom fürsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat gelesen werden. Es ist nicht die Schuld der Autoren dieser Denkschrift, dass in der praktischen Umsetzung der Hartz-Gesetze in den Folgejahren genau das geschah, was im Sozialwort des Jahres 1997 noch kritisiert wurde. Denn das neue Arbeitslosengeld II wurde nun durch die Verkürzung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld I ganz offiziell zum sozialen Auffangbecken des größten Teils der Erwerbslosen und ihrer Familien, während der aktivierende Teil des Sozialstaates nur allzu häufig bedeutete, dass Erwerbslose unter Androhung von Sanktionen jeden von der Arbeitsagentur angebotenen „Bullshit-Job“ annehmen mussten. Die soziale Situation der nun zum Teil ehemaligen Erwerbslosen verbesserte sich dadurch kaum.

Keine systemischen Ursachen

Das 2014 wieder gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz verfasste Sozialwort „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ stand ganz im Zeichen der Europäischen Schuldenkrise. Auch wenn in diesem Text richtigerweise darauf hingewiesen wurde, dass „die Lösung der europäischen Krise nicht auf dem Rücken von Millionen von Menschen ausgetragen werden (darf), die sie nicht verursacht haben“, wurden doch von den Autoren nicht systemische Ursachen, sondern vor allem individuelle Defizite für Armutsbetroffenheit verantwortlich gemacht, die man hauptsächlich über „Bildung in allen Lebensphasen“ überwinden könne. Hinzugefügt wurde noch, dass das nur funktionieren könne, wenn das Bildungssystem chancengerecht ist und angebotene Bildungschancen von Armutsbetroffenen auch wahrgenommen werden. Der Grundfehler dieser Argumentation war die implizite Annahme, dass es im deutschen Bildungssystem halbwegs gerecht zugehe und Armutsbetroffene daher genug Chancen für Bildungsaufstiege besäßen. Tatsächlich ist das deutsche Bildungssystem heute chancenungerechter als noch in den 1970er-Jahren. Das gilt für den schulischen Bereich ebenso wie für die Weiterbildung im Erwachsenenalter.

Diese Kritik an teilweise schlecht gealterten kirchlichen Stellungnahmen, die sich mit sozialen Schieflagen in unterschiedlichsten historischen Krisen- und Konfliktsituationen befassten, ist sicherlich etwas ungerecht, zumal die Texte auch viele gute Ideen beinhalten, denen man vorbehaltlos zustimmen kann. Schon in der EKD-Denkschrift des Jahres 2006 wird beispielsweise vor dem Hintergrund der Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse ein Mindestlohn gefordert. Hinzu kommt, dass wir im Rückblick oft schlauer sind und es daher wohlfeil ist, die Autoren älterer Texte für Trugschlüsse zu kritisieren, die seinerzeit nicht immer offensichtlich waren.

Was allerdings bei der Relektüre stutzig macht, ist, welch abschätzige Rhetorik in kirchlichen Stellungnahmen noch vor wenigen Jahren für angemessen gehalten wurde, Menschen in Armutslagen und die Ursachen zu beschreiben, durch die sie in diese Lage geraten sind und warum es ihnen oft schwerfällt, diese Lage zu überwinden. Einige der genannten kirchlichen Texte enthalten Passagen, die für Menschen in Armutslagen auch bereits damals degradierend klingen mussten. So hat der theoretisch durchaus gehaltvolle Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit, der die EKD-Denkschrift des Jahres 2006 geprägt hat, den Nachteil, dass Menschen in Armutslagen ihn so verstehen müssen, dass ihnen pauschal Unfähigkeit vorgeworfen wird – und zwar nicht Unfähigkeit, Rechnungen zu bezahlen, sondern Unfähigkeit, (a) eine Beschäftigung aufzunehmen, (b) Bildungschancen wahrzunehmen und (c) Kinder zu erziehen.

Gerade in Bezug auf Letzteres bediente die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ übelste Vorurteile bezüglich der Erziehungskompetenz armutsbetroffener Menschen, die als wissenschaftliche Erkenntnisse dargestellt wurden, ohne diese Behauptung an irgendeiner Stelle tatsächlich nachweisen zu können: „So sind eine Reihe von Unterschieden bei der Erziehung von armen und nicht-armen Kindern zu beobachten. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass arme Kinder weniger gelobt, dafür häufiger mit Geld oder Süßigkeiten belohnt werden. (…) Die Vorbildfunktion der Eltern ist im Bereich der sprachlichen, aber auch der habituellen Kompetenzen wenig ausgeprägt. In den meisten armen Familien wird selten oder so gut wie nie vorgelesen.“ Unter anderem in den Bildungsberichten der Autorengruppe Bildungsberichterstattung werden diese Behauptungen als Mythen entlarvt. Sie zeigen, dass Familien mit niedrigem sozialen Status keineswegs wesentlich weniger Zeit damit verbringen, ihre Kinder früh zu fördern. Die Unterschiede, die vorhanden sind, haben viel mit fehlenden finanziellen Ressourcen zu tun, etwa im Bereich außerschulischer Aktivitäten. Und sie haben zusätzlich damit zu tun, dass einkommensarme Eltern häufig im Schichtdienst oder an Wochenenden arbeiten. Dass Menschen in Armutslagen pauschal dysfunktionales Verhalten vorgeworfen wird, ist auch noch in jüngeren EKD-Texten zu entdecken. In dem im Jahr 2017 erschienenen Impulspapier „Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung“ der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD etwa wird als Erklärung für das Erstarken rechtsradikaler Parteien völlig undifferenziert auf die wissenschaftlich höchst kontrovers diskutierte „Modernisierungsverliererthese“ zurückgegriffen, die von der Kammer so ausgelegt wurde, dass vor allem Menschen rechte Parteien wählen, die mit gesteigerten ökonomischen Anforderungen infolge der Globalisierung nicht mithalten können – sprich: die gering qualifiziert, arbeitslos und armutsbetroffen sind.

Nicht ökonomisch abgehängt

Hätten die Autoren die Modernisierungsverliererthese in Gänze rezipiert beziehungsweise nicht rein auf „ökonomische Verlierer“ bezogen, hätten sie mit Verweis auf diese These durchaus auch Richtiges in Erfahrung bringen können. Die Ängste der Modernisierungsverlierer beziehen sich nämlich hauptsächlich nicht auf ökonomische, sondern auf identitätspolitische Sachverhalte. Wer rechtspopulistische Parteien wählt, ist ganz überwiegend nicht ökonomisch abgehängt. Vielmehr geht es diesen Personen darum, dass sie einen Verlust kultureller Hegemonie befürchten. Deshalb bezieht sich ihr Hass nicht nur auf Muslime, sondern zusätzlich auf alles, was sie für „woke“ halten, auf Homosexuelle, auf Transpersonen, auf Claudia Roth, Windräder, Lastenfahrräder und Kinder mit dunkler Hautfarbe auf weißen Windelverpackungen. Menschen in Armutslagen ist dieser absurde Kulturkampf meistenteils egal, denn sie haben echte Probleme. Sie müssen keine dazuerfinden.

Dass offizielle Äußerungen der Kirchen häufig ein Problem damit haben, Armutsbetroffene nicht als defizitäre Menschen zu beschreiben, könnte an der bekannten soziokulturellen Milieuverengung der evangelischen Kirchenmitglieder liegen. Einen Hinweis darauf liefert eine aktuelle Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD („Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung – Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur“).

Was Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit betrifft, erweisen sich evangelische Christen in dieser Studie als etwas weniger vorurteilsbeladen als Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Anders sieht es aus, wenn es um „Klassismus“ geht, also die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und/oder sozialen Position. Hier gibt es keinen signifikanten Unterschied zu Konfessionslosen. 54 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder sind beispielsweise der Auffassung, dass sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein gemütliches Leben machen. Bei den Konfessionslosen sind es 56 Prozent. Obdachlose wollen 35 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder und ein gleich großer Anteil der Konfessionslosen aus den Fußgängerzonen entfernen.

Dieses Ergebnis verwundert nicht. Die evangelische Kirche setzt sich bewundernswert für Geflüchtete und gegen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit ein. Aber Menschen in Armutslagen sind für viele Kirchenmitglieder und Kirchenobere über viele Jahre fremde Wesen mit einem „ganz eigenen Milieu“ geblieben, wie die Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ deutlich macht. Ist es vor diesem Hintergrund vielleicht sogar besser, wenn Kirche sich nicht für Armut interessiert? Nein, denn erstens ist das theologisch und sozialethisch nicht zu rechtfertigen und zweitens kommt es entscheidend auf das Wie an. Die evangelische Kirche sollte sich auch in der aktuellen Krisensituation, in Zeiten explodierender Energie- und Nahrungsmittelpreise und kaum mehr bezahlbarer Mieten, unbedingt und zeitnah zur sozialen Lage in Deutschland äußern. Sie sollte sich nicht dahinter verstecken, dass sie über ihre Diakonie tatsächlich sehr viel mehr für Armutsbetroffene tut, als öffentlich wahrgenommen und anerkannt wird. Die Kirche muss sich bewusst werden, dass die Diakonie noch aus anderen Gründen von unschätzbarem Wert ist. Denn die Diakonie leistet – gemeinsam mit anderen Sozialverbänden – nicht nur viel, sie besitzt zusätzlich einen Wissensschatz, wenn es um das wirkliche Leben Armutsbetroffener geht. Die evangelische Kirche sollte für ihr nächstes „Sozialwort“ diesen Erfahrungsschatz nutzen, statt wie üblich Professoren über Menschen diskutieren zu lassen, mit denen sie im Regelfall weder beruflich noch privat in Kontakt kommen. Und sie sollte, bevor sie selbst ein Wort zu Papier bringt, jenen das Wort erteilen, über deren Lage sie vorhat, zu berichten und zu urteilen. Es käme ein ganz anderes Sozialwort heraus. Eines, das man auch in vielen Jahren noch lesen kann, ohne sich über unqualifizierte Pauschal- und Vorurteile über Menschen in Armutslagen ärgern zu müssen. 

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