Konzerne, Ketten, Konzentration
Vor knapp 25 Jahren wurde die Pflegeversicherung eingeführt und veränderte die Finanzierung der Altenpflege in Deutschland grundlegend. Private Anbieter machten Heime und Pflegedienste auf. Ihr Anteil stieg und steigt weiter. Heute kaufen sich Finanzinvestoren in Pflege-Konzerne ein, weil sie Renditen erwarten – und erzielen. Konzernen im Besitz von Investoren gehören bereits hunderte Pflegeheime und -immobilien. Pflegebeiträge und Sozialhilfe – öffentliche Gelder, die wir aufgrund demokratisch beschlossener Gesetze für alte Menschen zur Verfügung stellen, – werden in unbekannter Höhe in Privatvermögen umgewandelt. Der Eindruck, dass da etwas schief läuft, ist selbst bei denen angekommen, die den Wettbewerb erst ermöglicht und dann über Jahre politisch forciert haben. Im Sommer des vergangenen Jahres erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Handelsblatt: „Ein kapitalmarktgetriebenes Fokussieren auf zweistellige Renditeerwartungen“ sei „eher nicht angemessen“.
Warnung an Investoren
Man könnte nun als Erstes fragen, an wen sich so ein Satz richtet. An eine alte Frau, die ins Pflegeheim muss, weil ihr Mann oder ihre Kinder es nicht mehr schaffen, sie zu versorgen? An die Kinder, die das Heim aussuchen? Oder sollte der in der Banker-Sprache vorgebrachte Satz eine Warnung sein an die Investoren? Welche Gewinne sind „eher angemessen“? Wie hängen Renditen und Pflegequalität zusammen? Darf man überhaupt mit der Pflege alter Menschen Gewinne erzielen? Der Frankfurter Heimleiter, Autor, Sozialarbeiter und ausgebildete Altenpfleger Michael Graber-Dünow schreibt dazu: „Es ist eine unerträgliche Vorstellung, dass es einerseits möglich ist, mit Pflege Gewinne in Millionenhöhe zu erwirtschaften, während andererseits grundlegende Bedürfnisse von Bewohnern in den Einrichtungen nicht befriedigt werden können.“ Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten, dass der Markt „die Probleme verstärkt, die er zu lösen vorgibt“, bilanziert Graber-Dünow in seinem Buch Pflegeheime am Pranger. Darin schildert er detailliert, wie Altenpflege-Einrichtungen heute arbeiten. Als Kernproblem sieht er die systembedingte Personalknappheit, die „bestenfalls eine ‚Warm-satt-sauber-Pflege‘“ erlaube. Graber-Dünow sieht nicht nur den privaten Sektor, sondern auch die Strukturen bei den freigemeinnützigen Trägern kritisch. Zwar dürfen sie keine Gewinne ausschütten, sondern müssen ihre Überschüsse reinvestieren. Doch müssten die Gelder nicht zwangsläufig wieder in das Pflegeheim zurückfließen, das sie erwirtschaftet hat, kritisiert Graber-Dünow. Er fordert Transparenz: Gemeinnützige Träger sollen ihre finanziellen Transaktionen offenlegen. Die Bewohner sollen wissen, welcher Teil ihres Entgelts in das Heim fließt, in dem sie leben, und wie viel der Träger woanders einsetzt, es etwa in seine Verwaltung steckt.
Insolvenzgefahr gesunken
Die gegenteilige Position vertreten die meisten Ökonomen, so auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, das gemeinsam mit zwei Unternehmensberatungen regelmäßig den „Pflegeheim Rating Report“ herausgibt. Danach kann die steigende Zahl der Pflegebedürftigen nur versorgt werden, wenn private Unternehmen weiter im „Wachstumsmarkt Pflege“ investieren. Deshalb sei es positiv zu bewerten, dass sich die Ertragslage der Heime in den vergangenen fünf Jahren stetig verbessert hat und die Insolvenzgefahr zurückgegangen ist, wie der Rating Report 2017 ausweist. Eine der Autorinnen, Dörte Heger, sagt, durch den Wettbewerb würden Preise und auch Renditen gesteuert und begrenzt. Eine stärkere Marktregulierung könnte dagegen zu einem Mangel an Heimplätzen führen, warnt sie. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Stefan Sell wiederum, der sich ebenfalls seit Jahren mit der Pflegebranche beschäftigt, meint, es gebe im bestehenden System gute Gründe dafür, dass Pflegeheime und -dienste einen angemessenen Gewinn erwirtschaften dürfen – diskutiert werden bis zu fünf Prozent des Budgets – vor allem dann, wenn diese Beträge in die Pflege reinvestiert würden. Dies könne einem aber niemand garantieren. Die Politik könne lediglich versuchen, „indirekte Barrieren einzubauen“, um überhöhte Renditen auf Kosten der Pflegebedürftigen, Beschäftigten und Beitragszahler zu verhindern. Dazu zählen Sell zufolge etwa Personalschlüssel, also gesetzliche Vorgaben über das Verhältnis von Bewohnern zu Pflegekräften. Abgesichert werden müsse auch, dass die in den Pflegesätzen der Heime enthaltenen Beträge für Löhne tatsächlich beim Personal ankommen. Ebenso müssten die Eigenanteile der Pflegebedürftigen nach oben begrenzt werden, damit nicht sie allein die steigenden Kosten tragen, fordert Sell. In seiner jüngsten Veröffentlichung unter dem Titel „Wie viel Rendite verträgt eine gute pflegerische Versorgung?“ macht er im Übrigen darauf aufmerksam, dass die Refinanzierung von Gewinn und Überschüssen inzwischen gesetzlich verankert ist. In das Sozialgesetzbuch (SGB XI) für die Pflegeversicherung wurde Ende 2016 folgende Formulierung aufgenommen: „Die Pflegesätze müssen einem Pflegeheim bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren und seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen unter Berücksichtigung einer angemessenen Vergütung ihres Unternehmerrisikos (…). Überschüsse verbleiben dem Pflegeheim.“ Der grammatikalisch nicht ganz saubere Satz meint mit „ihres Unternehmerrisikos“ wohl die Träger der Heime. Garantiert wird im Paragrafen 84, SGB XI auch die Refinanzierung von Tariflöhnen – es gibt also nicht nur eine gesetzliche Garantie für Gewinne, sondern grundsätzlich auch für eine anständige Bezahlung des Pflegepersonals. Die Zahl pflegebedürftiger alter Menschen wird bis 2030 um knapp eine Million auf mehr als vier Millionen zunehmen. Derzeit werden etwa 800.000 Menschen in einem Heim gepflegt. Noch stellen die freigemeinnützigen Träger mit 53 Prozent den größten Anteil der Pflegeheime, nur 4,7 Prozent sind in öffentlicher Hand. Am dynamischsten entwickelt sich jedoch seit Jahren der private Sektor, dessen Anteil von 35 Prozent im Jahr 1999 auf 43 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig verändert sich die Branche durch einen Konzentrationsprozess. Die dreißig größten Pflegeunternehmen steigerten die Zahl ihrer stationären Pflegeplätze in den vergangenen drei Jahren um rund 13 Prozent, während die Wachstumsrate insgesamt bei vier Prozent lag. Die im Besitz von Finanzinvestoren befindliche Alloheim-Kette etwa hat die Zahl ihrer Heime in weniger als zehn Jahren mehr als verzehnfacht. Der Konzern mit inzwischen 17.500 Beschäftigten wurde schon zweimal weiterverkauft. 2017 ging er Medienberichten zufolge für 1,1 Milliarden Euro an den Nordic Capital Fonds, der seinen Sitz auf der Kanalinsel Jersey hat – besser bekannt als Steuerparadies. Der Korian-Konzern aus Frankreich betreibt nach eigenen Angaben in Deutschland 234 Pflegeeinrichtungen und beschäftigt mehr als 21.000 MitarbeiterInnen. Korian ist an der Börse notiert und preist auf seiner Internetseite unter dem Stichwort „Expansion“ die Übernahmen anderer Anbieter als „Meilensteine der Unternehmensentwicklung“.
Bis zu zehn Prozent Rendite
Anleger, die auf dem Finanzmarkt in Pflegeunternehmen oder -immobilien investieren, erwarten Renditen. Wie hoch diese ausfallen, darüber haben die Wirtschaftsforscher nach Auskunft von Dörte Heger beim rwi keine Zahlen. Der durchschnittliche Gewinn privatgeführter Heime liegt laut Rating Report bei 4,7 Prozent, von Ketten bei sechs Prozent. Der Vorstand des Spitzenverbandes der Kranken- und Pflegekassen, Gernot Kiefer, sagt, mit effizient geführten Heimen erzielten die Träger bis zu zehn Prozent Rendite auf das eingesetzte Kapital. Kritiker der Entwicklung wie die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di sehen einen direkten Zusammenhang zwischen Renditedruck, schlechten Arbeitsbedingungen, niedriger Bezahlung und Mängeln in der Pflege. Das erscheine plausibel, sagt Sozialökonom Sell, denn die Personalkosten bildeten den mit Abstand größten Ausgabenblock. Wer die Kosten drücken wolle, um höhere Gewinne zu erzielen, müsse beim Personal sparen. Ein Zusammenhang zwischen Rendite und Pflegemängeln ist indes im Einzelfall schwer nachzuweisen. Für eine große Pflegereportage recherchierte das Magazin stern unter anderem in zwei Heimen des Korian-Konzerns, ob die Erwartungen der Aktionäre sich negativ auf die Pflegequalität auswirken. Ergebnis: Es ließ sich nicht herausfinden. In einem Heim war die Pflege gut, im anderen schlecht. Mehrere Negativ-Beispiele fanden die stern-Autorinnen indes bei Alloheim, mit derzeit 196 stationären Einrichtungen nach Korian der zweitgrößte Pflegekonzern in Deutschland. Das ZDF-Magazin Frontal 21 und die Stuttgarter Zeitung recherchierten ebenfalls speziell zu Alloheim und kamen zu dem Schluss, es mit einem „System von Profitmaximierung auf Kosten der Patienten“ zu tun zu haben. Anlass der Recherchen war die Zwangsschließung eines Altenheims des Konzerns in Ludwigsburg 2017, nachdem dort massive Mängel festgestellt worden waren. Der Hauptgrund dafür war drastischer Personalmangel. Eine Pflegekraft musste zeitweilig bis zu 32 Menschen versorgen, wurde aus der Mitarbeiterschaft berichtet. Dramatische Pflegemängel gab es auch anderswo, im niedersächsischen Lingen etwa, und im nordrhein-westfälischen Simmerath wurde ein weiteres Heim geschlossen. In Hannover rief ein verzweifelter Alloheim-Pfleger per Notruf die Feuerwehr zu Hilfe. Während der Konzern lediglich „bedauerliche“ Einzelfälle einräumte, stellten die Journalisten anhand der ihnen vorliegenden internen Unterlagen die Einnahmen den Ausgaben gegenüber und kamen zu dem Schluss, dass einzelne Heime kaputtgespart wurden, um die Bilanzen für einen Verkauf der Alloheim-Kette an den nächsten Investor aufzuhübschen. Den internen Zahlen zufolge wurde mit jedem Bewohner umgerechnet 300 Euro Gewinn pro Monat erzielt. Dem standen auf der anderen Seite beschämend geringe Posten wie vier Euro pro Tag und Person für das Essen gegenüber! Sich über diese und andere gut belegte Einzelfälle hinaus ein Gesamtbild zu verschaffen ist indes kaum möglich. Es gibt nicht viele Studien über den Zusammenhang von Renditen und Pflegequalität, und sie kommen zu unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Ergebnissen. Während Forscher der Universität Witten/Herdecke eine durchgängig geringere Pflegequalität bei privaten Anbietern feststellen als in nicht-profitorientierten Heimen, finden andere, wie der Bremer Pflegeforscher und Regierungsberater Heinz Rothgang, dafür keine Anhaltspunkte. Auch aus den Daten zu den Personalkosten, die laut Pflegeheim Rating Report bei den privaten Anbietern mit fünfzig Prozent des Gesamterlöses niedriger sind als bei den gemeinnützigen Trägern (61 Prozent) lassen sich keine automatischen Schlussfolgerungen auf die Pflegequalität ziehen. Der prominente Pflegekritiker Claus Fussek sieht bei den Privaten keine größeren Defizite als bei anderen Trägern. Mit schlechter Pflege sei schließlich auf Dauer kein Geschäft zu machen, bemerkt er dazu.
Politikversagen
Angesichts der zahllosen, dramatischen und niederschmetternden Berichte aus dem Alltag in den Heimen aber stellt sich gleichwohl die Frage, ob mit der Pflege alter Menschen Gewinne gemacht werden dürfen. Die Politik hat sie mit Ja beantwortet. Sie hat aber bisher nicht gezeigt, dass sie in der Lage ist, eine menschenwürdige Versorgung der Pflegebedürftigen, gute Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal und Transparenz über die Verwendung der Beitrags- und Steuergelder zu garantieren. Zum Schluss sei mir daher eine persönliche Bemerkung gestattet: Ich selbst will auf keinen Fall, dass auch nur ein Cent von meinen Pflegebeiträgen, den Ersparnissen meiner pflegebedürftigen Mutter oder der von uns allen finanzierten Sozialhilfe auf dem Konto irgendeines Anlegers landet – der womöglich auch noch Steuern hinterzieht. Ich erwarte von jeder Bundesregierung, dass sie das verhindert. Das ist für mich die Voraussetzung einer jeden Debatte über die Kosten der Pflege, die Leistungen der Pflegeversicherung, über Beitragserhöhungen, höhere Löhne für Pflegekräfte, mögliche Einsparungen oder welche gute Reformidee auch immer.
Bettina Markmeyer