Zuviel Bescheidenheit

Punktum
Foto: Rolf Zöllner

Anni war die coolste Frau der Neunzigerjahre, wie wir sie in unserer Abizeitung 1986 prophetisch nannten. Sie war ihrer Zeit voraus, das spürten wir. Ihr styliges Outfit (Annie Lennox ziemlich ähnlich), ihr Berufswunsch (Clown), ihr Nach-Abi-Ziel (England) - das alles hatte Glamour und Coolness in unserer hessischen Provinz. Und sie wurde wirklich Clown, tourte jahrelang mit einem Truck durch England, von einem Alternativ-Festival zum nächsten, lebte schließlich in einem Londoner Loft. Cool. Aber auf eine bescheidene, zurückhaltend-britische Art.

Nun kam Anni mal wieder nach Berlin. Sie wolle sich die hiesige Premiere eines Films mit ihrer Freundin Beth, einer Sängerin, anschauen. Ich könne mitkommen, gern auch auf die Gästeliste. Der Film sei eine Art Dokumentation über die Aufführung einer Symphonie von Henryk Gorecki. Ich kannte den polnischen Komponisten nur vom Namen, hörte mir seine schöne Musik auf Youtube an. Freudig sagte ich zu.

Nachdem wir Kaffee und Kuchen bei mir zuhause genossen und viel über das Heute und ein wenig über das Gestern gesprochen hatten, standen wir schließlich vor dem alt-ehrwürdigen Berliner Kino Babylon in Mitte. „III. Symphonie von Gorecki“, stand über dem Eingang - mit Beth Gibbons. Ach ja, sagte Anni nun nebenbei, das sei ja die Sängerin von Portishead.

Portishead! Eine der tollsten und coolsten Bands der Neunziger, ihr Album „Dummy“ habe ich hoch und runter gehört, prägend - dem „Rolling Stone“ zufolge gehört es zu den 500 besten Alben aller Zeiten. Und diese zerbrechliche, leicht rauchige Stimme, eben die von Beth Gibbons: unvergesslich. Nur wem diese Stimme gehört, das wusste ich nie.

Doch da stand sie also, Beth Gibbons mit Rollkoffer offenbar direkt vom Flughafen kommend, im vertrauten Gespräch mit Anni. Ein Händedruck und ein Lächeln für mich, andere wollten sofort ein Autogramm von ihr. Wir sollten doch mitkommen, backstage, sagte sie - seltsam, ein Groupie wider Willen zu sein. Manche hätten sich einen Finger abgehackt, um Beth Gibbons mal so nahe zu kommen. Eine freundliche Frau. Cool. Bescheiden. Britisch.

Aber gibt es ein Zuviel an Bescheidenheit? Vor der Vorführung grüßte sie nur kurz mit einem „Hi“ und einem Lächeln im Kinosaal all die Besucher, die offenbar meist nur wegen ihr gekommen waren. Auch kein Wort von ihr nach Ende des Films. Dafür im Foyer eine riesige, chaotische und Handyfotos knipsende Menge all der Leute, die ein Autogramm von ihr wollten - auch das war ungeplant. Vielleicht aus Coolness, womöglich aus Schüchternheit. Sicher aus Bescheidenheit.

Zu lernen war: Nie sein Licht unter den Scheffel stellen! Bescheidenheit kann auch in die Irre führen. Und Sachen sehr kompliziert machen.

Philipp Gessler

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