Das von Gott geschaffene Leben

Zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz bei vorgeburtlicher Diagnostik
Mit einem Bluttest können werdende Eltern untersuchen, ob ihr Kind an Trisomie 21 erkrankt sein wird. Foto: dpa/ Patrick Seeger
Mit einem Bluttest können werdende Eltern untersuchen, ob ihr Kind an Trisomie 21 erkrankt sein wird. Foto: dpa/ Patrick Seeger
Sollen die gesetzlichen Krankenkassen für eine neue Methode der vorgeburtlichen Diagnostik die Kosten übernehmen? Welche Auswirkungen hat das auf den gesellschaftlichen Diskurs? Der Bonner Sozialethiker Hartmut Kreß hat das neue EKD-Positionspapier dazu in zz 2/2019 geprüft. Ihm antwortet Ulrich Eibach, emeritierter Theologieprofessor aus Bonn.

Die „Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD“ hat zur vorgeburtlichen Diagnostik einen „evangelischen Beitrag zur ethischen Urteilsbildung und zur politischen Gestaltung“ vorgelegt. Darin schlägt sie eine freiwillige und primär ethische Beratung durch entsprechend geschultes Personal vor. Sie soll vor einer Pränataldiagnostik (PND) erfolgen. Dafür spricht, dass vor der möglichen Diagnose ohne zeitlichen und sonstigen Druck ein Bewusstsein bei der Frau und ihrem Partner dafür geschaffen werden kann, ob sie überhaupt eine PND durchführen lassen möchten und welche Folgerungen sie aus der Beratung für sich ziehen. Denn schon heute sieht das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) nach der Diagnose einer Krankheit eine Beratung durch den Arzt und Experten für diese Krankheit vor.

Im EKD-Papier wird betont, dass es sich hier um ein ethisches Problem handelt, das gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat und keinesfalls nur eine „Privatsache“ ist. Die vorgeschlagene Beratung soll daher das individuelle wie das gesellschaftliche Bewusstsein für diese Problematik schärfen. Insbesondere die vorgeburtliche Diagnostik, die schon an Zellen des Embryos durchgeführt werden kann, die aus dem Blut der Mutter gewonnen werden (nichtinvasive Diagnostik), kann dazu führen, „dass einer ganzen Gruppe von Menschen mit bestimmten Eigenschaften wie Trisomie 21 das Recht auf Leben verwehrt“ wird. Das hat dazu geführt, dass in Deutschland etwa 90 Prozent der diagnostizierten Kinder mit Down Syndrom getötet werden. Es ist also schon eine gesellschaftliche Erwartung entstanden, „nur Kinder auszutragen, die der gesellschaftlichen Norm entsprechen“.

Kein Automatismus

Der embryopathischen Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch liegt meist das Urteil zugrunde, dass ein Leben mit einer ernsthaften Krankheit für das Kind selbst und für andere, in erster Linie die Eltern, nicht zumutbar, es also „lebensunwert“ ist. Wenn das zuträfe, würde auch das Leben der mit solchen Krankheiten geborenen Menschen lebensunwert sein. Solche Auffassungen beeinflussen auch die Entscheidung der schwangeren Frau.

Ziel der vorgeschlagenen freiwilligen Beratung ist es daher, einem Automatismus zur Abtreibung zu wehren, indem sie zur Stärkung der Entscheidungsfreiheit von Frau und Mann beiträgt und zugleich das Gewissen dahingehend schärft, dass sie beide Verantwortung für das übernehmen, was sie entscheiden. Daher sollten in der Beratung die Auswirkungen der vorgeburtlichen Diagnostik auf die Menschen bedacht werden, die mit der gleichen Krankheit leben müssen, und die Menschen, die sie betreuen müssen. Ebenso soll der Einfluss auf das „Wertegefüge“ in der Gesellschaft insgesamt zur Sprache kommen.

Im EKD-Text wird davon ausgegangen, dass eine Entscheidung über das Schicksal eines unheilbaren Kindes nur von den Eltern getroffen werden kann. Hartmut Kreß sieht darin in zeitzeichen 2/2019 den entscheidenden Fortschritt der EKD. Sie nehme erstmals eindeutig Distanz zur Position der katholischen Kirche, die Schwangerschaftsabbrüche rigoros ablehne, dies aber mit „Spekulationen“ begründe, die „rational unplausibel sind“ und daher „keinerlei rechtspolitische Geltung beanspruchen“ können. Die deutschen Kirchen haben 1989 die gemeinsame Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“ veröffentlicht, in der sie dem Schutz des Lebens eindeutig den Vorrang einräumen vor der Achtung der individuellen Entscheidung der betroffenen Menschen. Diese Auffassung entsprach dem damaligen Verständnis von Menschenwürde im Grundgesetz (Artikel 1), deren Achtung in erster Linie im Schutz des Lebens konkret wird (Artikel 2).

Etwa ab dem Jahr 2000 hat sich ein Wandel im Verständnis der Menschenwürde vollzogen. Obwohl das Grundgesetz gemäß seiner Präambel „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ verfasst ist, wird nun zunehmend jeder Bezug des Inhalts der Menschenwürde auf ein metaphysisches und theologisches Verständnis der Menschenwürde verworfen, weil sie nicht mehr der rationalen Weltanschauung der heutigen Menschen entspricht.

Die Würde des Menschen bestehe mithin nicht mehr darin, dass Gott allen Menschen zuspricht, Ebenbild Gottes zu sein, sondern sie bestehe in der empirisch fassbaren Fähigkeit des Menschen, sein Leben mittels seiner Vernunft selbst zu gestalten. Dazu bedarf es keiner von Gott geschenkten Gottebenbildlichkeit und damit auch keines Gottes mehr. Der Mensch schafft sich seine Würde selbst durch seine Vernunft.

Diese Wende im Verständnis der Menschenwürde führt dazu, dass ihre Achtung mit der Achtung der Selbstbestimmung und Autonomie zusammenfällt, dass sie also nicht mehr in erster Linie im „Recht auf Leben“ (Artikel 2 Grundgesetz) konkret wird. Der Schutz des Lebens wird so zu einem Grundrecht wie die Religionsfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft. Diese neue Sicht der Würde blieb nicht ohne Auswirkungen auf die protestantische Ethik. Sie wird vor allem von Hartmut Kreß vertreten (zeitzeichen 2/2019).

In der neuen Stellungnahme der EKD wird betont, dass letztlich nur die schwangere Frau eine Entscheidung für oder gegen eine Inanspruchnahme der vorgeburtlichen Diagnostik und für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch fällen darf. Das wird dadurch unterstrichen, dass die Beratung freiwillig und ergebnisoffen sein soll und die „werdenden Eltern“ moralisch nicht „bevormundet“ werden sollen. Betont wird aber, dass die „christliche Freiheit“ nicht nur selbstbestimmte Lebensführung bedeutet, dass sie vielmehr „Verantwortung für den anderen Menschen“ übernimmt. Die Beratung soll daher die Rechte des ungeborenen Kindes thematisieren. Dadurch wird deutlich, dass „mit der Freiheit die Notwendigkeit einhergeht, die eigenen Entscheidungen zu verantworten - vor sich selbst und dem ungeborenem Kind, den Mitmenschen und, in christlicher Perspektive, … in letzter Konsequenz vor Gott“. Geschöpf Gottes zu sein impliziert eine „Unverfügbarkeit des Lebens und seiner genetischen Grundlagen“. Die Beratung soll daher ein Bewusstsein dafür wecken, dass es sich um die Tötung des von Gott geschaffenen Lebens und damit um wirkliche Schuld gegenüber dem ungeborenen Kind und vor Gott handelt. Dem entspricht, dass auf jede ethische Rechtfertigung der Tötung eines Kindes im Mutterleib verzichtet wird.

Gradueller Schutz

Das drückt sich nicht zuletzt in der Sprache aus. Man vermeidet grundsätzlich jeden Gebrauch der Begriffe „Embryo“ und „Fetus“, sondern spricht „vom ungeborenen Kind beziehungsweise Menschen“ oder „vom Kind im Mutterleib“, dem „Würde“ zukommt, weil es „geliebtes Geschöpf Gottes“ ist. Vermieden wird auch der Begriff „Schwangerschaftsunterbrechung“, gebraucht wird nur der Begriff „Schwangerschaftsabbruch“.

Hartmut Kreß hingegen macht die Theorie vom graduellen Schutz des vorgeburtlichen Lebens geltend, die sich aus der biologischen Entwicklung im Mutterleib ableitet. Je höher entwickelt ein „Leben im Mutterleib“ sei, umso mehr Schutzwürdigkeit komme ihm zu. Die begriffliche Unterscheidung zwischen „Embryo“ und „Fetus“ soll suggerieren, dass es sich hier um einen Sprung in der Entwicklung handelt. Das ist falsch, denn vielmehr handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess, in dem es bis zur Geburt und darüber hinaus keine Zäsuren gibt, die einen Sprung vom rein biologischen Menschenleben zu einem spezifisch menschlichen Leben, dem Würde zukommt, begründen.

Hartmut Kreß plädiert für die nicht invasive vorgeburtliche Diagnostik, weil sie es schon möglich macht, im embryonalen Stadium Krankheiten zu diagnostizieren. Embryonen sind also weniger „wertvoll“ als Feten. Die Argumentationshilfe der EKD „Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen“ von 2002 ging noch davon aus, dass Einigkeit darüber besteht, dass die „Menschenwürde nicht quantifizierbar ist“ und dass sie „daher nicht gegen andere Grundrechte abgewogen werden“ darf.

Kreß verlässt diese gemeinsame Basis, die auch grundlegend ist für den jetzigen Beitrag der EKD zur vorgeburtlichen Diagnostik. Sie geht davon aus, dass es keine Entwicklung „zum“ Menschen sondern nur eine Entwicklung „als“ Mensch gibt. Kreß vollzieht im Grunde das, was man in der analytischen Philosophie als „naturalistischen Fehlschluss“ bezeichnet, wenn also primär aus biologischen Fakten ethische Überzeugungen abgeleitet werden. Dies würde bedeuten, dass die Menschenwürde eine empirisch feststellbare Größe ist, wenigstens aber eine empirische Grundlage hat. Fehlt diese Voraussetzung in der Entwicklung eines Menschenlebens noch wie beim Embryo, so könne es auch bis dahin keine Würde haben.

Die fatale Konsequenz solchen Denkens ist, dass Embryonen, die diese Voraussetzung aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nie haben können, keine Menschenwürde zugesprochen wird. Durch solches Denken wird aber die Grundlage dafür gelegt, dass es „lebensunwertes Leben“ gibt.

Die entscheidende ethische Problematik liegt darin, dass die Diagnose einer ernsthaften Krankheit zu einem derartigen Urteil führt. Dies ist aus christlicher Sicht nur möglich, wenn nicht mehr jeder Mensch, auch jeder ungeborene Mensch - wie versehrt auch immer er ist - Geschöpf Gottes ist, dem von Gott eine unverlierbare Würde zugesprochen ist. Hartmut Kreß hat diesen Schritt vollzogen, weil nicht nur die katholische sondern die christliche Sicht überhaupt in einer säkularen und pluralistischen Welt kein Gehör mehr finden kann. Er folgt damit der eingangs beschriebenen neuen Sicht der Menschenwürde im 21. Jahrhundert.

Die sozialethische Problematik der vorgeburtlichen Diagnostik besteht hauptsächlich darin, dass einerseits die Integration von behinderten Menschen in die Gesellschaft gefordert wird und andererseits zugleich diagnostische Methoden mit dem Ziel angeboten werden, die Geburt behinderter Kinder möglichst zu verhindern. Es wird deutlich, wie der Beitrag der EKD mit dieser Problematik ringt. Zwar wird in dem EKD-Text der Entscheidung der schwangeren Frau der vorrangige Stellenwert eingeräumt, aber die Beratung hat dennoch das Ziel, dass die gesellschaftliche Problematik der vorgeburtlichen Diagnostik hinreichend in Blick kommt, nicht zuletzt die Auswirkungen auf die Menschen, die mit Behinderungen leben müssen.

Kritische Haltung

Hartmut Kreß vertritt hingegen die Auffassung, dass der Schwangerschaftsabbruch nach der Diagnose einer genetisch oder sonst wie bedingten Krankheit und der Umgang mit behinderten Menschen in der Gesellschaft wenig miteinander zu tun haben. Da wird in der Schrift der EKD eine andere Meinung vertreten. Zwar wird in ihr auch für eine informierte freie Entscheidung der Frau plädiert, der entschieden größere Teil der Schrift behandelt aber die gesellschaftlichen Auswirkungen, indem man sich mit den Tendenzen zu einer „Eugenik“ auseinandersetzt, die nicht - wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts - „von oben“ verordnet wird, sondern aus den neuen Biotechniken und aus dem neuen Denken der Gesellschaft selbst kommt.

Der „Fortschritt“ der Biotechniken wird die gesellschaftliche Problematik verschärfen, weil ihr - wenn auch unausgesprochenes - Ziel eine möglichst von Menschen mit Behinderungen freie Gesellschaft ist, ja eine Verbesserung der genetischen Natur des Menschen mittels der neuen Methoden der Gentechnik, zum Beispiel dem Einsatz so genannter Genscheren. Eine evangelische Ethik sollte nicht - wie bei Kreß - in erster Linie einer Legitimation des biotechnischen „Fortschritts“ das Wort reden, sondern zu einer kritischen Haltung gegenüber der

Zum Text von Hartmut Kreß

Ulrich Eibach

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