Wir Frommen und das Politische

Widerstreit von Grundsätzen: theologisch-ethische Überlegungen zum Kirchenasyl
Flüchtlinge bitten 2016 im Dom St. Peter in Regensburg um Kirchenasyl. Foto: dpa/ Armin Weigel
Flüchtlinge bitten 2016 im Dom St. Peter in Regensburg um Kirchenasyl. Foto: dpa/ Armin Weigel
Es ist die Kombination des individuellen Hilfehandelns mit der politischen Botschaft, die die besondere Situation des Kirchenasyls ausmacht – aber auch ihre besondere Schwierigkeit, meint Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München.

Mit dem Anstieg von Flucht und Migration in den vergangenen Jahren hat auch die Zahl der Kirchenasyle deutlich zugenommen. Waren nach Auskunft der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in den Jahren 2004 bis 2013 durchschnittlich 44 gemeldete Kirchenasylfälle zu verzeichnen, so stieg, in etwa parallel zu der Anzahl der Asylbewerberzahlen insgesamt, seit 2014 auch die Zahl der Kirchenasyle steil an und erreichte 2017 mit 1.189 bei der Bundesarbeitsgemeinschaft gemeldeten Fällen ihren bisherigen Höhepunkt. Für 2018 liegen bei der Bundesarbeitsgemeinschaft die Zahlen noch nicht vor; nachdem im Juli bereits 552 Fälle gemeldet waren, dürften sie jedoch nicht deutlich unter denen des Vorjahres liegen.

Aus dieser Korrelation lässt sich für die theologisch-ethische Urteilsbildung ein erster Anhaltspunkt gewinnen: Die Praxis des Kirchenasyls steht in engem Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen und der entsprechenden Meinungsbildung. Unbeschadet des Beistands für einen konkreten Menschen oder eine Familie sind Kirchenasyle immer auch ein politisches Statement. Dem entspricht es, dass der Beginn der Kirchenasylbewegung mit den politischen Debatten um eine Verschärfung des Asylrechts seit den Achtzigerjahren zusammenfällt. Die Kombination des individuellen Hilfehandelns mit der politischen Botschaft ist es, was die besondere Situation, aber auch die besondere Schwierigkeit des Kirchenasyls ausmacht. Denn hier vermischt sich eine aus dem Glauben entspringende Motivation zu unmittelbarer Hilfe mit dem Impuls einer Veränderung der politischen, vor allem auch rechtlichen Rahmenbedingungen der Asylpolitik. Eine theologisch-ethische Analyse tut daher gut daran, das Augenmerk auf eine rechte Zuordnung dieser beiden Ebenen zu legen und sich nicht bloß auf die Frage nach der grundsätzlichen Legitimität oder Illegitimität des Kirchenasyls zu fokussieren.

Zunächst kann kein Zweifel bestehen, dass die christlich gebotene Nächstenliebe auf den Menschen gerichtet ist, der unmittelbar meine Hilfe braucht. Dies gilt unabhängig von seiner Herkunft, seinem Stand, aber auch unabhängig von den sozialen Normen, die die Zuwendung zu Hilfebedürftigen regeln. Aus dieser bedingungslosen Zuwendung bezog das Christentum seine Kraft, aus ihr lebt es in vielfältiger Weise bis heute. Die Hilfe für Migrantinnen und Migranten unabhängig von deren Schutzstatus zu gewähren ist daher für Christinnen und Christen selbstverständlich. Das Engagement für die, die man als unmittelbar bedroht ansieht, stellt einen unverzichtbaren und vor allem auch nicht relativierbaren Teil persönlicher Glaubenspraxis dar. Es ist beeindruckend zu sehen, wie im Kontext der Unterstützung von Geflüchteten neue Formen christlichen Gemeindelebens entstanden sind, die diesen Zusammenhang von Handeln und Glauben überdeutlich dokumentieren.

Sodann gilt auch: Eine rechtsstaatliche, demokratische Ordnung – für die sich Christen und Kirchen mit großem Nachdruck einsetzen – kann nur dann tragfähig sein und bleiben, wenn die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, die staatlichen Normen und Gesetze zu befolgen. Das schließt natürlich nicht aus, dass solche Normen gestaltbar sind, im Gegenteil: Sie sind verbindlich, weil sie demokratisch beschlossen und legitimiert sind. Zu dieser Einsicht in die grundsätzliche Gestaltbarkeit staatlicher Normen mussten sich die Kirchen mühsam durchringen. Zu sehr waren sie von der Vorstellung einer gottgegebenen Ordnung geprägt, als deren Ausdruck ihnen die Monarchie galt. Demokratische Systeme sind nun dadurch gekennzeichnet, dass sie Normen in demokratisch legitimierten Verfahren aufstellen und gegebenenfalls verändern. Aus eben diesem Grund sind sie zunächst einmal für alle verbindlich – und können auch nicht unter Verweis auf persönliche Glaubensüberzeugungen einfach für illegitim oder ungültig erklärt werden. Doch wie ist zu verfahren, wenn etwa das Asylgesuch einer über die Zeit liebgewonnenen Person von staatlicher Seite abgelehnt wird? Wie lassen sich beide Grundsätze christlicher Lebensführungspraxis zueinander bestimmen, der Einsatz für den unmittelbar hilfebedürftigen Nächsten auf der einen und die Anerkennung des Rechtsstaats auf der anderen Seite, in Konfliktfällen?

An dieser Stelle liegen die Schwierigkeiten für eine Beurteilung des Kirchenasyls. Die Anerkenntnis, dass es sich um zwei miteinander im Widerstreit liegende, gleichermaßen in den Überzeugungen christlicher Lebensführung verankerte Grundsätze handelt, stellt hier bereits die Weichen für eine weitergehende Überlegung. Denn sie beinhaltet zunächst die Einsicht, dass der Einsatz für den Nächsten über die unmittelbare Nothilfe hinaus angewiesen ist auf die stützende rechtliche Ordnung. Die schlichte Entgegensetzung zwischen einem dem Menschen zugewandten Handeln aus christlicher Überzeugung einerseits und einem primär auf Prinzipien abhebenden Rechtsstaat andererseits ist unsachgemäß. Individuelle Hilfe und institutionelle Strukturen bedingen einander: Auch der barmherzige Samariter benötigte die Institution des Gasthauses, dessen Eigentümer die Hilfe für den am Straßenrand Gefundenen verstetigt.

Nicht nur innere Gewissheit

Dabei gehört es zu den Stärken der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung, um ihre eigenen Grenzen zu wissen. Dazu gehört nicht nur jeder Verzicht, die Weltanschauung und damit auch den Glauben von Bürgerinnen und Bürgern zu normieren, sondern auch die Möglichkeit, eigene Entscheidungen einer kritischen Revision zu unterziehen. Für den Kontext des Kirchenasyls sind nun zwei weitere Präzisierungen in den Blick zu nehmen. Zum einen gehört es zum besonderen Entgegenkommen der bundesrepublikanischen Rechtsordnung gegenüber der Religion, nicht nur die Gesinnungsfreiheit, sondern auch die Religionsausübung zu garantieren. Das entspricht der christlichen Überzeugung, der zufolge das Christentum nie nur eine individuelle, innere Gewissheit, sondern immer auch eine soziale Praxis darstellt. Glauben und Handeln gehören für das Christentum unauflöslich zusammen, und eben diese Handlungsfreiheit garantiert der Rechtsrahmen des Grundgesetzes. Zum anderen gehört es zum Wissen um die eigenen Grenzen, Verfahren vorzusehen, die Fehler oder übertriebene Härten rechtsstaatlicher Entscheidungen revidieren können. In der Formel „Was recht und billig ist“ hat sich eine Vorstellung erhalten, die schon in der Reformationszeit eine große Rolle spielte: Nicht ein Formalismus, sondern ein mit Augenmaß, eben mit Billigkeit, angewendetes Recht ist das Ideal der Rechtsordnung in evangelischer Perspektive. Gerade Martin Luther hat immer wieder darauf hingewiesen, dass auch die Rechtsanwendung im Horizont der im Glauben empfangenen Gnade gesehen werden müsse.

Die Möglichkeit, ein ergangenes Urteil noch einmal einer Überprüfung zu unterziehen, lässt sich als Ausdruck dieser Tradition verstehen und kann zur Akzeptanz der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung beitragen. Denn auf diese Weise bringt es zum Ausdruck, dass im Zentrum des staatlichen Handelns eben nicht das selbstbezogene Aufrechterhalten der Ordnung, sondern das Wohlergehen der Menschen steht. Eine Position des fiat iustitia, pereat mundus („Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde“) ist dem Rechtsstaat fremd. In dieser Perspektive ist das Gnadenrecht kein Atavismus aus den vergangenen Zeiten eines absolutistischen Herrschers, sondern kann als Ausnahme durchaus seinen Platz haben in einer modernen Rechtsordnung: Diesen Ort bilden die Härtefallkommissionen, mit denen nicht zuletzt auch Eindrücke und Anliegen kirchlicher Flüchtlingsarbeit zur Geltung gebracht wurden. Dass in den meisten Bundesländern Verfahren, bei denen es im Rahmen der Dublin-iii-Verordnung um die Übernahme des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik geht, nicht vor die Härtefallkommissionen gebracht werden können, ist eine kritikwürdige Einschränkung, und zwar ungeachtet der speziellen Probleme, die diese Verfahren aufwerfen. Darauf ist gleich noch einmal zurückzukommen.

Nach evangelischer Auffassung besteht das Zentrum der politischen Ethik darin, die Sphären des Politischen und der Glaubenspraxis beständig in ein angemessenes „Abstandsverhältnis“ zu bringen. Thorsten Moos hat jüngst wieder in einer beachtenswerten Studie darauf hingewiesen. Weder dürfen politische Entscheidungen als unabhängig von der Glaubenspraxis dargestellt werden, wie es in einem überspitzten Liberalismus mitunter passiert, der die vermeintliche weltanschauliche Neutralität des Staates in den Mittelpunkt stellt. Denn Demokratien sind immer parteiisch. Der Einfluss weltanschaulicher Überzeugungen auf konkrete politische Entscheidungen lässt sich nicht eliminieren, ohne die politisch Handelnden – die Wählerinnen und Wähler ebenso wie die Politikerinnen und Politiker – unzulässig zu beschneiden oder zu bevormunden. Ebenso wenig dürfen aber auch das Politische und die Glaubenspraxis in eins gesetzt werden: Während letztere die konkrete Not des Nächsten vor Augen hat, muss ersteres die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen zu einem tragfähigen, fairen und guten Ausgleich bringen.

Dies vor Augen, besteht die entscheidende Frage für eine Beurteilung des Kirchenasyls dann darin, ob dessen Unterstützerinnen und Unterstützer ihre aus dem Glauben begründete Praxis in ein angemessenes Verhältnis zum Politischen setzen – und dabei um die eigenen Grenzen wissen. Dazu gehört zunächst, eigentlich selbstverständlich im Raum der evangelischen Kirche, die Unterschiede zwischen dem gegenwärtigen Kirchenasyl und seinen biblischen Vorbildern festzuhalten. Zur Zeit der Bibel gab es keinen Rechtsstaat. Dafür galt die Überzeugung, dass bei Fragen von Leben und Tod das Urteil letztlich Gott überlassen werden muss. Entsprechendes gilt für die vormoderne Praxis des Kirchenasyls: Unter den Bedingungen einer noch nicht vollzogenen Trennung von kirchlichem und weltlichem Recht basierte diese auf der Vorstellung, dass der Klerus den im Gesetz festgehaltenen Willen Gottes besser erfassen könne als die weltliche Macht. Eine solche Überordnung des Kirchlich-Sakralen über das Weltliche in Rechtsdingen ist unter den Bedingungen der Gegenwart – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Rechtsbrüche innerhalb der Kirche – so nicht mehr aufrecht erhalten.

Sodann beinhaltet eine adäquate Verhältnisbestimmung, dass die Praxis des Kirchenasyls auf den Gedanken bezogen sein muss, der Rechtsordnung durch die Vermeidung unmenschlicher Härten und der Möglichkeit einer Überprüfung getroffener Entscheidungen in ihrer Legitimität zu dienen. Das bedeutet, dass Kirchenasyle gegenüber den die Rechtsordnung repräsentierenden Instanzen und Institutionen zwar ihre relative Berechtigung haben, wenn sie legitime Asylansprüche formulieren und durch kontextuelle Kenntnisse eine neuerliche Rechtsprüfung unterstützen. Dafür sind sie aber vollständig transparent zu halten – und zugleich sind die auf Grundlage einer erneuten Prüfung getroffenen Entscheidung zu akzeptieren. Gerade hier bestehen berechtigte Zweifel im Blick auf die tatsächliche Durchführung des Kirchenasyls. Es gehört zu den Grundeinsichten des modernen Rechtsstaats, dass es Endpunkte der rechtlichen Auseinandersetzung geben muss, wenn diese nicht selbst gnadenlos werden soll. Franz Kafka hat diese Problematik in seinem „Prozess“ literarisch eindrücklich verarbeitet. Einen weiteren Problemkreis bildet der strategische Gebrauch des Kirchenasyls – etwa zur Umgehung der Dublin-iii-Verfahrensregeln. Denn bei allen möglichen Schwächen der Asylpraxis in anderen EU-Staaten dürfte es doch zweifelhaft sein, ob etwa im Fall einer drohenden Rücküberstellung nach Italien stets eine unmittelbare Nothilfe greift. Es gibt zu denken, dass die Mehrzahl aller gemeldeten Kirchenasyl-Fälle darauf zielen, eine Zuständigkeit der Bundesrepublik im Rahmen der so genannten Dublin-iii-Fälle zu erreichen. Zumindest die kritische Selbstprüfung, ob es legitim sein kann, die Rechtsordnung zu brechen, um den Schutz der Rechtsordnung zu erzwingen, scheint darum angemessen – verbunden mit der Frage, welche Idee eines gemeinsamen Europa, das ja nicht einfach nur der vergrößerte eigene Nationalstaat sein kann, damit verbunden ist. Angesichts der asylpolitischen Spaltung vor allem zwischen West- und Osteuropa gewinnt dieser Aspekt zusätzlich an Bedeutung: Denn bei aller Uneinigkeit darf das Ziel einer gesamteuropäischen Koordination der Asylpolitik, die gerade durch den gemeinsamen Schengener Reiseraum erforderlich ist, nicht aus den Augen verloren werden.

Flüchtlinge instrumentalisiert?

Politische Ziele können in einer Demokratie zwar durch einzelne Zeichenhandlungen unterstützt werden, letztlich aber müssen sie auch auf politischem Weg erreicht werden. In aller Vorsicht und in allem Respekt vor der Komplexität der Situation und der Motive formuliert: Im Blick auf die Kirchenasylpraxis müssen sich hier alle Unterstützerinnen und Unterstützer immer wieder neu der Frage aussetzen, ob sie möglicherweise Geflüchtete für eigene politische Interessen instrumentalisieren. Sicher ist die hier vorzunehmende Selbstprüfung nicht einfach. Umso größer ist die Notwendigkeit, sich diese Frage stets neu zu stellen.

Schließlich muss eine grundsätzliche Differenz präsent gehalten werden zwischen Handlungen, die unmittelbar durch den Anblick des Nächsten motiviert werden, und solchen Handlungen, die der institutionellen Logik des Rechtsstaates folgen. Während im ersten Fall die Kontingenz der Not geradezu konstitutiv ist und daher auch kein Problem darstellt, ist im zweiten Fall ein berechenbares, gerade nicht kontingentes Handeln nach vorgegebenen, fairen und transparenten Routinen vonnöten. Dazu passt es, dass auch allein der Sozialstaat über die notwendigen Ressourcen für ein dauerhaftes Hilfehandeln verfügt, das im Übrigen gerade nicht als Almosen, sondern als Rechtsanspruch verfasst ist.

Für all diese Prüfsteine einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen den Praktiken des Glaubens und denen des Politischen gilt: Es handelt sich hier nie um starr fixierbare Korrelationen. Vielmehr ist die Zuordnung immer wieder neu zu justieren, sie bleibt auf eine beständige Reflexion und kritische Überprüfung von allen Seiten aus angewiesen. Eben das stellt die angemessene evangelische Form des Umgangs mit ethischen Konfliktfragen dar: selbstkritisch, aber auch selbstbewusst, mit Respekt vor dem Recht, ohne es sich unreflektiert zu eigen zu machen, fromm – und eben auch politisch.

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Reiner Anselm

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