Auf kargem Boden

Das Christentum in Island nimmt ab – aber Hoffnung ist angebracht
Die eindrucksvolle evangelische Kirche in Stykkishólmur im Westen Islands.
Die eindrucksvolle evangelische Kirche in Stykkishólmur im Westen Islands.
Vor etwas mehr als 1.000 Jahren entschieden sich die Isländer für den christlichen Glauben – und durften gleichwohl unter der Hand ihre alten heidnischen Riten pflegen. Diese Toleranz in religiösen Dingen ging mit der Reformation eine Weile verloren, eine lutherische Staatskirche entstand. Die ist seit rund zwanzig Jahren in einem steten Sinkflug. Dennoch gibt es auch Kirchen, die auf der Nordmeer-Insel aufblühen.

Es gibt viele verrückte Geschichten in der langen Geschichte Islands – aber diese dürfte zu den verrücktesten gehören, gerade was Religion betrifft: Im Jahre 1627 überfielen algerische Korsaren aus Nordafrika mit einer Handvoll Schiffen die Westmännerinseln, die ein paar Kilometer südlich der Hauptinsel Islands im Nordmeer liegen. Die „Türken“ genannten Muslime nahmen 242 Inselbewohner gefangen, segelten zurück in ihre Heimat und verkauften die Männer und Frauen auf Sklavenmärkten Nordafrikas. Viele der Versklavten blieben den Rest ihres Lebens dort. Aber ein paar isländische Sklaven konnten sich freikaufen, für andere zahlte die dänische Krone, zu der Island damals gehörte, Lösegeld. Nur wenige kehrten nach Island zurück, nach etwa zehn Jahren.

Zu ihnen gehörte auch Guðríður Símonardóttir, die in Nordafrika in einem Harem als Sexsklavin missbraucht wurde. Sie lernte, schließlich befreit, den Dichter und evangelischen Pfarrer Hallgrímur Pétursson kennen. Er ist so etwas wie der Paul Gerhardt Islands, nach ihm ist die größte Kirche Reykjaviks benannt, die mächtige Hallgrímskirkja. Hallgrímur Pétursson bekam die ein wenig seltsame Aufgabe, die womöglich zu sehr durch den Islam geprägten Ex-Sklaven wieder zum christlichen Glauben zurückzuführen. Eine war Guðríður Símonardóttir. Wie erfolgreich er war, weiß man nicht. Nur eines ist gewiss: Er verliebte sich in die 16 Jahre ältere Ex-Haremsdame, obwohl man sie als Türken-Hure beschimpfte. Sie heirateten und bekamen ein Kind.

Die katholische Kathedrale Landakotskirkja, die Hauptkirche des Bistums Reykjavik.
Die katholische Kathedrale Landakotskirkja, die Hauptkirche des Bistums Reykjavik.

Wer zum Thema Religion und Kirchen in Island recherchiert, stößt immer wieder auf Hallgrímur Pétursson – und nicht selten an Orten, wo man es am wenigsten erwartet hätte, etwa in einem Hai-Museum in dem sehr einsam gelegenen Gehöft Bjarnarhöfn auf der Halbinsel Snæfellsnes im Westen Islands. Hier kann man das fermentierte Fleisch des Grönlandhais essen. Es wird Hákarl genannt, schmeckt wie Fisch mit Camembert-Nachgeschmack und ist ausgesprochene Geschmackssache. Ein gerahmtes Gedenkblatt zum 300. Geburtstag von Hallgrímur Pétursson hängt über der Tür zum Ausstellungsraum. Darin steht Kristjan Hildibrandsson, er führt durch die Ausstellung. Der 31-Jährige lebt auf dem Gehöft. Er erzählt, dass er Mitglied der lutherischen Staatskirche Islands sei und gelegentlich die rund 200 Meter zu einer malerischen Kapelle am Meer gehe, zum Gebet. Das Kirchlein ist, nicht unüblich in Island, de facto im Besitz seiner Familie. Nur ein oder zwei Mal im Jahr komme ein Pastor hierher, um darin einen Gottesdienst zu feiern.

Das scheint recht typisch für diese Insel zu sein – Religion wird hier vor allem als Privatsache gesehen, und das obwohl (oder vielleicht gerade weil?) der Staat dabei traditionell viel zu sagen hat. Seit der dänische König Christian iii. ab 1537 als Herrscher über Island die Reformation auf der Insel einzuführen begann, war die lutherische Konfession verpflichtend. Wer Isländer oder Isländerin war, war lutherisch, Punkt.

Unterstützen und schützen

Erst 1874 gewährte die Verfassung vollständige Religionsfreiheit – zugleich aber definierte sie die isländische Kirche weiterhin als Staatskirche. Noch heute beschreibt die Verfassung die evangelisch-lutherische Kirche als „Volkskirche“, die „unterstützt und geschützt“ werden müsse. Das heißt nicht, dass diese Staatskirche in voller Blüte steht, eher im Gegenteil. In dem Vierteljahrhundert seit 1994 ist der Prozentsatz der Staatskirchen-Mitglieder von 96 Prozent der Einwohner Islands auf nur noch 67 Prozent abgesackt, Tendenz: sinkend.

Das schmerzt sichtlich auch Agnes Sigurðardóttir, die seit 2012 Bischöfin von Island und damit Oberhaupt der lutherischen Staatskirche ist, die erste Frau in diesem Amt. Bischöfin Agnes sitzt mit einem großen goldenen Kreuz an einer Kette um ihren Hals und in guter ökumenischer Verbundenheit im Gemeinderaum des katholischen Bischofssitzes in Reykjavik.

Die Kapelle des Gehöfts Bjarnarhöfn auf der Halbinsel Snæfellsnes im Westen Islands.
Die Kapelle des Gehöfts Bjarnarhöfn auf der Halbinsel Snæfellsnes im Westen Islands.

„Niemand ist eine Insel“, sagt die 64-Jährige. Klar, man müsse darüber nachdenken, warum so viele Menschen der Kirche den Rücken kehrten. Andererseits sage die Bibel doch immer wieder, dass man mutig sein müsse. Ihr macht Hoffnung, dass die Taufquote immer noch bei etwa 70 Prozent liege – und dass die Konfirmation weiterhin so ein wichtiges Fest in einer durchschnittlichen isländischen Familie sei.

Dennoch, die Staatskirche und Bischöfin Agnes sind in der Defensive. Einer Umfrage im Oktober 2018 zufolge sank die Zustimmung zur Oberhirtin von 45 Prozent im Jahr ihrer Amtseinführung auf nur noch 14 Prozent im vergangenen Herbst. Ähnlich bei der Staatskirche – 40 Prozent der Isländer gaben an, ihr nur noch sehr wenig zu trauen. Das hat auch mit einem Missbrauchsskandal zu tun. Mehrere Frauen klagten den Vor-Vorgänger von Agnes Sigurðardóttir im Bischofsamt, Ólafur Skúlason, an, sie sexuell misshandelt zu haben. Zwei Jahre nach seinem Tod 2008 beschuldigte ihn auch seine Tochter, dass er sie als Kind missbraucht habe.

Auch die winzige katholische Kirche in Island hatte ihren Sexskandal. Im November 2012 wurde ein Bericht über die angesehene katholische Schule am Bischofssitz Landakot in Reykjavik veröffentlicht, in dem zwei Lehrer der physischen und psychischen Gewalt sowie des sexuellen Missbrauchs an Schülerinnen und Schülern beschuldigt wurden. Die Vorwürfe betrafen den früheren Schuldirektor und eine ehemalige Lehrerin, die seine Assistentin war. Beide waren schon 2008 gestorben – die Lehrerin hatte Suizid begangen. Sie hatte sich aus dem Turm der Schule gestürzt, in dem sie wohnte, wie damals gemeldet wurde. Die isländische Regierung zahlte später über dreißig ehemaligen Schülerinnen und Schülern Entschädigungen für das ihnen angetane Leid.

Island hat nur etwa 350.000 Einwohner, irgendwie kennt jeder jeden. Auch deshalb hängen die beiden Missbrauchsskandale der kleinen katholischen Kirche und der großen Staatskirche nach. Dennoch scheint die Lage der katholischen Kirche derzeit etwas besser zu sein. Zwar gehören ihr nur knapp vier Prozent der Isländer an – das sind gerade mal rund 13.000 Seelen. Aber diese Gemeinschaft wächst, anders als die Staatskirche.

Zuwachs durch Migranten

Der Hauptgrund ist die Zuwanderung durch Menschen katholischer Herkunft, vor allem aus den Philippinen, aus Polen und aus dem Baltikum. Sie suchen auf der wirtschaftlich aufblühenden Insel ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Die Migranten bringen ihren Glauben mit, ihre Frömmigkeit strahlt aus, auch auf die gebürtigen Isländerinnen und Isländer. Neue Kirchen, Gemeindehäuser und Kapellen werden gebaut.

Eine Darstellung des Überfalls algerischer Korsaren aus Nordafrika auf die Westmännerinseln 1627.
Eine Darstellung des Überfalls algerischer Korsaren aus Nordafrika auf die Westmännerinseln 1627.

Die Dynamik der katholischen Kirche ist nicht zuletzt auf dem Landakot-Hügel in Reykjavik zu erleben – im Volksmund der isländische Vatikan genannt. Hier ist, neben der genannten katholischen Schule, vor allem die Kathedrale Landakotskirkja zu finden. Es ist die Hauptkirche des Bistums Reykjavik, das ganz Island umfasst. Die ausliegenden Gebetsbücher sind nicht nur in Isländisch verfasst, sondern auch auf Latein, Englisch und Polnisch. Wären sie nur auf Isländisch, würden zu wenige Gläubige sie verstehen.

Die Internationalität der katholischen Kirche auf der Insel ist ein zwiespältiger Segen. Keine der Ordensfrauen und kein amtierender katholischer Priester in Island wurden hier geboren, der letzte gebürtige isländische Priester ist gerade in Pension gegangen. Das bedeutet, dass alle, auch der Bischof, mühsam die ausgesprochen schwere isländische Sprache lernen müssen.

Fehlende Sprachkenntnisse in Isländisch erschweren die katholische Seelsorge ungemein. Umso wichtiger sind Menschen wie die Isländerin Unnur Gunnarsdottir, eine ehemalige Stewardess, die die Katecheten in Island koordiniert. Die katholische Kirche in Island ist arm. Ohne ihre starke Subventionierung vor allem durch das deutsche Bonifatiuswerk wäre sie kaum lebensfähig. Eigengewächse wie Unnur Gunnarsdottir sind da Gold wert. Sie erzählt, träte sie in einen Orden ein, wäre sie die erste gebürtige isländische Nonne seit der Reformation.

Bild
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Vielleicht hat das karge katholische Leben auch mit der Reformation selbst zu tun. Denn sie wurde in Island innerhalb kürzester Zeit und mit ziemlicher Brutalität auf Geheiß des dänischen Königs ab 1537/38 durchgesetzt – verbunden mit dem letzten politischen Mord, den die Insel seitdem erleben musste. Der zuletzt einzige katholische Bischof der Insel, Jón Arason, wurde 1550 mit zwei seiner Söhne enthauptet. Jón Arason gilt seitdem als eine Art Freiheitsheld der Insel.

Im Zuge der Reformation wurden auch alle Klöster aufgelöst, was ein ungeheurer Verlust an Kultur und Caritas auf der Insel bedeutete. Viele der reichen Kulturschätze aus den Klöstern, ungezählte Heiligenstatuen und -bilder auch aus normalen katholischen Kirchen wurden nach Dänemark geschafft. Ein Mittel nicht zuletzt der Bereicherung der dänischen Krone und der Disziplinierung der isländischen Bevölkerung.

Ein halber Historikerstreit

Als die Historikerin Steinunn Kristjansdóttir vor wenigen Jahren die vergessenen Klöster Island archäologisch erforschte und dabei anmerkte, dass sie die Reformation auch als einen Verlust an Kultur begreife, brach ein halber Historikerstreit aus: Das über Jahrhunderte hoch gehaltene Bild der Reformation als reine Fortschrittsgeschichte kam ins Wanken.

Ganz unterschiedliche Christen in Island: Kristjan Hildibrandsson...
Ganz unterschiedliche Christen in Island: Kristjan Hildibrandsson...
... und die argentinische Schwester Sabiduria von den „Blauen Schwestern“
... und die argentinische Schwester Sabiduria von den „Blauen Schwestern“

Insgesamt aber sind das religiöse Zusammenleben und die Ökumene auf Island von gegenseitigem Respekt geprägt. Es ist übliche Praxis, dass lutherische Pfarrer ihren katholischen Kollegen, wenn nötig, ihre Kirchen für Messen zur Verfügung stellen. Die katholischen Nonnen der Insel werden geachtet und auch für ihren Einsatz bestaunt – wie etwa die argentinische Schwester Sabiduria vom Orden „Dienerinnen des Herrn und der Jungfrau Maria von Matará (SSVM)“, wegen ihrer Ordenstracht „Blaue Schwestern“ genannt.

Die dynamische junge Nonne ist überall mit ihrer Gitarre unterwegs, singt Marienlieder in mehreren Sprachen, betet ein Gebet an der lutherischen Kapelle von Kristjan Hildibrandsson gleich neben dem Hai-Museum und betreut selbstverständlich nicht nur die katholischen, sondern auch die lutherischen Kinder, die zu ihrer religiösen Gruppenstunde in den Räumen des „Fransiskus-Hospitals“ (so geschrieben!) in Stykkishólmur im Westen Islands kommen. Auf die Frage, wie sie mit den Unbillen des isländischen Lebens, vor allem der ewigen Dunkelheit und harschen Kälte im Winter umgeht, sagt sie nur: „Hey, wir sind Missionarinnen.“ Schwierigkeiten brächten einem dem Leiden Jesu näher.

Diese Dynamik und die Glaubensstärke sind beeindruckend – ebenso wie der Pragmatismus der Isländer auch in religiösen Dingen. Er gründet vielleicht auch in der besonderen Christianisierung der Insel. Denn die geschah im Jahre 1000 de facto mithilfe eines fast augenzwinkernden Kompromisses im ältesten Parlament der Welt, dem Althing, auf den die Isländer mächtig stolz sind. Nachdem es zuvor Jahrzehnte lang Kämpfe zwischen christlichen und heidnischen Bewohnern der Insel gegeben hatte, folgten die Stämme der Insel beim Althing dem Vermittlungsspruch des zuvor auserkorenen Gesetzessprechers Þorgeir Ljósvetningagoði Þorkelsson: Der schlug vor, alle Isländer sollten von nun an Christen sein, aber zugleich ihre alten heidnischen Riten befolgen dürfen. Allerdings unter der Bedingung, dass sie dies nur im Geheimen täten. Ein salomonisches Urteil, das den Religionsfrieden wiederherstellte.

Darin erinnert auch Pastor Geir Waage, der eine Zeitlang dem Pfarrerrat der Staatskirche vorstand und ein Intellektueller von Rang ist. Ein Gespräch mit ihm, gespickt mit Dutzenden Anekdoten und Zitaten aus den Sagen der Insel, ist wie ein furioser Ritt durch die tausendjährige Geschichte der Insel und ihrer religiösen Kultur.

Pastor Geir Waage
Pastor Geir Waage

Pastor Waage hat in dem Kulturzentrum Reykholt, das sich dem isländischen Kulturerbe verschrieben hat, neben einem Museum auch eine besondere lutherische Kirche errichten lassen. In der hält er höchstpersönlich gelegentliche Marien-Gottesdienste ab, mit eigens angefertigtem Talar. Auf die Frage, was ihm Maria bedeute, sagt der evangelische Pfarrer nur: „Sie ist der Weg in den Himmel.“ Und das ist selbst für Island eine ziemlich verrückte Geschichte.

Philipp Gessler (Text und Fotos)

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