Der widerspenstige Pfaffe

Warum Bischof Thomas Becket vor rund 850 Jahren vor dem Altar ermordet wurde
Thomas Becket auf einem Kirchenfenster in der Kathedrale von Canterbury.
Thomas Becket auf einem Kirchenfenster in der Kathedrale von Canterbury.
War er ein treuloser Verräter, ein rücksichtsloser Karrierist und impulsiver Streithahn? Oder doch ein frommer und pflichtbewusster Gottesdiener, der nur seinem Gewissen folgte und dafür mit dem Leben bezahlte? Die schillernde Figur des Thomas Becket und sein dramatischer Tod fesseln die Menschen noch heute, 900 Jahre nach seiner Geburt.

Die prächtige Kathedrale ist das Wahrzeichen von Canterbury, Ziel von Touristen aus aller Welt und beliebter Treffpunkt für die Einheimischen. Japanische Reisegruppen lächeln für ihre Selfies, während Bildungsbeflissene rasch noch einmal den Reiseführer studieren. Rentner genießen auf den Holzbänken mit geschlossenen Augen die Sonne und lassen sich auch nicht von den Kindern stören, die um sie herum Fangen spielen. Eine wahrhaft friedliche Idylle. Und doch war der Dom Schauplatz eines brutalen Verbrechens, das die gesamte mittelalterliche Welt erschütterte und bis heute nachwirkt.

Dabei beginnt alles damals, vor rund 880 Jahren, so harmlos und harmonisch. Thomas Becket, der Sohn eines angesehenen Londoner Kaufmanns, hatte in Paris Jura und Theologie studiert und tritt mit 22 Jahren in die Dienste des Erzbischofs von Canterbury. Schon bald wird König Heinrich II. auf ihn aufmerksam, beeindruckt von seiner umfassenden Bildung und dem selbstsicheren Auftreten in der Öffentlichkeit. Kurzentschlossen beruft er ihn zu seinem Lordkanzler und zum Erzieher seines Sohnes.

Ein glücklicher Griff, wie sich schnell zeigt. Thomas Becket macht sich zum leidenschaftlichen Anwalt der königlichen Interessen. Er ist unnachgiebig im Streit mit aufmüpfigen Baronen und hat auch keinerlei Skrupel, selbst die Kirche zu attackieren, wenn es darum geht, die Macht der Krone zu vergrößern. Zwischen dem König und seinem Lordkanzler entwickelt sich eine enge persönliche Freundschaft. Zeitgenossen äußern, dass beide ein Herz und einen Verstand teilten. Dabei ist Becket irdischen Genüssen offenbar nicht abgeneigt und genießt das verschwenderische Hofleben in vollen Zügen.

Die Kathedrale von Canterbury.
Die Kathedrale von Canterbury.
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Thomas und Heinrich sind Saufkumpanen, die ganze Nächte gemeinsam durchzechen. Vielleicht ist es in einer dieser Nächte, dass eine verhängnisvolle Idee entsteht. Erst nur ein verrückter Einfall, belacht, dann übermütig weiter gesponnen, bis er plötzlich zu einem verwegenen, ausgefeilten Plan reift: Becket soll ins andere Lager wechseln und Erzbischof von Canterbury werden. Das politische Kalkül ist einfach und ziemlich genial: Als Oberhaupt der englischen Kirche und zugleich loyaler Diener und Freund des Königs soll Becket den gesamten Klerus unter die Kontrolle der Krone bringen. Dann hätte Heinrich neben der weltlichen auch die kirchliche Macht in seinen Händen - und der Papst bliebe außen vor.

Ewige Gegenspieler

Gesagt, getan. Die passende Gelegenheit ergibt sich, als der bisherige Erzbischof stirbt. Nun geht alles ganz schnell: am 2. Juni 1162 empfängt Thomas Becket die Priesterweihe, nur einen Tag später wird er von den versammelten Bischöfen - unter entsprechendem Druck des Königs - zum neuen Erzbischof von Canterbury gewählt. Damit ist er zugleich das kirchliche Oberhaupt von ganz England. Heinrich II. wähnt sich am Ziel. Nun hat er freie Bahn. Die ewigen Gegenspieler, Kirche, Kurie und der Papst in Rom - sie alle sind nur noch Murmeln in seiner Tasche. Wer soll ihm jetzt noch quer kommen?

Dann aber nimmt die Geschichte eine gänzlich unerwartete, kuriose Wendung. Womit niemand gerechnet hatte: Thomas Becket nimmt sein geistliches Amt ernst. Von Stund an vertritt er die Interessen der Kirche ebenso entschlossen wie zuvor die Belange der Monarchie. Eine dramatische Veränderung geht mit ihm vor, von einem Tag auf den anderen verzichtet er auf den höfischen Prunk und Pomp, stattdessen lebt er fortan wie ein Asket. Gegen den Willen des Königs legt er das ehrenvolle Amt des Lordkanzlers nieder und kümmert sich nur noch um seine Aufgabe als Erzbischof von Canterbury.

Die reichverzierte Decke der Kathedrale.
Die reichverzierte Decke der Kathedrale.

Becket fühlt sich der Kirche mehr verpflichtet als seinem einstigen Mentor Heinrich II. Konsequent hält er sich an den Bibelspruch „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ - damit sind die Konflikte absehbar. So verlangt er, dass die Kirchengüter und Ländereien, die durch langjährige Nutzung in den Besitz des Adels gelangt waren, zurückgegeben werden müssen, was der König strikt ablehnt. Als dieser wiederum verlangt, die Priester Englands sollten sich per Eid offiziell gegen Rom verschwören, stößt er bei Becket auf Granit.

Wie ist dieser radikale Gesinnungswechsel über Nacht zu erklären? Hat Becket ein religiöses Erweckungserlebnis gehabt? Ist dies ein Aufstand des Gewissens gegen politische Instrumentalisierung und Korruption? Oder ergreift hier einfach ein egoistischer Emporkömmling aus niederem Stand die Chance, Karriere zu machen und selbst dem König die Stirn zu bieten? „Thomas war in den Augen des Klerus ein Niemand“, erklärt John Maharry, Historiker und Führer in der Kathedrale. „Er hatte ja gar keinen theologischen oder kirchlichen Hintergrund. All die Priester und Mönche mit ihrer langjährigen Erfahrung blickten auf diesen Parvenü hinab, der plötzlich ihr Oberhaupt sein sollte. Das kränkte Becket, und er tat alles, um ihnen zu zeigen, dass er der bestmögliche Erzbischof überhaupt war.“

Der Altar der Märtyrer.
Der Altar der Märtyrer.

Um das zu beweisen, lässt er keine Gelegenheit aus. Der größte Streit entzündet sich an den kriminellen Klerikern. Die Verfehlungen unter Kirchenleuten hatten offensichtlich solch ein Ausmaß angenommen, dass hier durchgegriffen werden musste. Wer aber darf darüber urteilen? Während der König die weltlichen Gerichte für zuständig hält, kommen für Thomas Becket nur Urteile innerhalb der Kirche in Frage. Der Streit kocht hoch, unversöhnlich stehen sich die beiden Kampfhähne gegenüber. Schließlich gelingt es Heinrich II. auf dem Reichstag von Clarendon im Januar 1164, die Kleriker der königlichen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Im Gegensatz zu den anderen Kirchenfürsten weigert sich Thomas Becket, das Dokument zu unterzeichnen. Daraufhin wird er vom königlichen Hofgericht als Verräter und Meineidiger verurteilt. In einer Novembernacht muss Becket 1164 nach Frankreich fliehen und erhält Asyl im Zisterzienserkloster Pontigny. Erst sechs Jahre später, im Dezember 1170, kehrt Thomas nach Canterbury zurück, wo er von der Bevölkerung begeistert empfangen wird. Für sie ist er ein Volksheld, ein Mann mit Mut und Charakter, der es gewagt hat, Obrigkeit und König die Stirn zu bieten.

Maßlose Erregung

Und gleich gießt der Erzbischof wieder Öl ins Feuer, indem er ausgerechnet am Weihnachtstag 1170 seinen König exkommuniziert. Als Heinrich II., der selbst gerade in Frankreich weilt, davon erfährt, bekommt er einen seiner gefürchteten Wutanfälle. In maßloser Erregung ruft er zornig: „Was habe ich für erbärmliche Diener, dass niemand mich von diesem widerspenstigen Pfaffen befreit!“ Vier der anwesenden Ritter verstehen das als königlichen Mordbefehl und machen sich selbst zu Vollstreckern, aus Überzeugung oder Aussicht auf Karriere. Reginald Fitzurse, Hugh de Moreville, William de Tracy und Richard Brito brechen unverzüglich nach England auf und treffen am 29. Dezember 1170 in Canterbury ein.

An diesem düsteren Dienstag gegen vier Uhr nachmittags poltern sie mit ihren Streitäxten heftig gegen das Kirchenportal, unter den Augen der Schaulustigen, die sich trotz Schneetreibens vor der Kathedrale versammelt haben. „Die Kirche Gottes ist keine Festung“, soll Thomas Becket gerufen haben, im vollen Bewusstsein der Gefahr lässt er die Tore öffnen. Es kommt zum Handgemenge, nach dem Bericht eines Augenzeugen versuchen die eingedrungenen Ritter zunächst mit gezogenen Schwertern, Becket aus der Kathedrale zu drängen, um ihn außerhalb des Gotteshauses zu verhaften. „Thomas ist ein Zwei-Meter-Mann und gibt ihnen mächtig kontra“, lässt John Maharry die Szene lebendig werden. Es kommt zum erbitterten Kampf, Beckets Widerstand und seine scharfen Worte versetzen die Ritter so sehr in Rage, dass sie noch in der Kapelle zuschlagen. In ihrem Mordrausch schlagen sie mit ihren Schwertern so heftig auf ihn ein, dass Beckets Schädeldecke zerbirst und sein Gehirn auf den Pflasterboden spritzt. Der Erzbischof von Canterbury bricht tot in seiner Blutlache zusammen, direkt vor dem Altar. Draußen aber - so weiß die Legende - bricht urplötzlich ein gewaltiger Sturm los und der Himmel verfärbt sich tiefrot wie von Blut.

Hier stand der Sakrophag Beckets, den König Heinrich VIII. aufbrechen ließ.
Hier stand der Sakrophag Beckets, den König Heinrich VIII. aufbrechen ließ.

Als sich die Tat herumspricht, geht ein Aufschrei erst durch England, dann durch ganz Europa. Der Mord an einem Erzbischof in dessen eigenem Gotteshaus, vor dem Altar, ist eine Ungeheuerlichkeit, die die gesamte Christenheit zutiefst erschüttert. Schon bald beginnt ein mächtiger Pilgerstrom zum Tatort, Wallfahrten zu seinem Grab sind bald so beliebt und häufig wie die nach Santiago de Compostela. Immer wieder wird von Wundern berichtet, die dem Ermordeten zugeschrieben werden. Beckets Blut, das Mönche vom Boden aufgekratzt haben, lässt Blinde sehen, Lahme gehen und erweckt selbst Tote zum Leben. Das kann auch der Papst nicht ignorieren, schon zwei Jahre nach seinem Tod wird Thomas Becket heiliggesprochen. Sogar der König pilgert jetzt reumütig zu seinem Grab, im Büßerhemd und mit blutenden Füßen, kniet nieder und lässt sich vom Abt und den achtzig Mönchen geißeln. Beckets Gebeine werden in der Kathedrale in einem goldenen Sarkophag beigesetzt, der über und über mit Juwelen bedeckt ist. In der Kirche wird eine silberne Statue nach seinem Ebenbild aufgestellt, ein originaler Schädelsplitter in den Kopf der Figur eingepasst. Kleine Teile des Skeletts werden im Laufe der Jahrhunderte als begehrte Reliquien an Adelige, Kirchen und Museen verschenkt oder profitabel verkauft. Sogar im Braunschweiger Dom soll ein Knochen Beckets liegen. Der goldene Schrein mit den Gebeinen des Heiligen ist verziert mit Juwelen so groß wie Gänseeier und lockt bewundernde Pilger aus aller Welt an.

Damit könnte die Geschichte eigentlich beendet sein, und doch beschäftigt Thomas Becket die Menschen bis heute. Selbst 400 Jahre nach seinem Tod bringt er noch einmal königliches Blut in Wallung. Heinrich viii, genannt „der Blaubart“ wegen seiner zahlreichen Ehen, die für die Gemahlinnen meist tödlich endeten, ist erfüllt von Hass auf den Erzbischof. Nachdem er sich vom Papst gelöst und die Kirche von England gegründet hat, lässt er Thomas Becket aus dem Heiligenkalender streichen. Nichts soll mehr an den katholischen Verräter erinnern, der als Volksheld verehrt wird, weil er dem König einst getrotzt hat. Der Despot erträgt nicht einmal die Erinnerung an den Widerständler. Die Knochen des Heiligen lässt er 1538 verbrennen und in alle Winde verstreuen, den kostbaren Sarg aber kassiert er ein. Und doch hält sich bis heute das Gerücht, die heiligen Gebeine existierten noch, an einem geheimen Ort, den nur eine kleine Gruppe von Gläubigen kennt.

Wo einst der kostbare Sarkophag stand, brennt heute eine einfache Kerze auf dem Steinboden. Unweit davon steht der historische Sessel, auf dem noch in unseren Tagen jeder Erzbischof von Canterbury in sein Amt eingeführt und damit gleichzeitig das Haupt der weltweiten Anglikanischen Kirche wird. In der Kapelle, in der Becket ermordet wurde, beteten 1982 Papst Johannes Paul II und der damalige Erzbischof von Canterbury gemeinsam, ein bis dahin einmaliger ökumenischer Akt. Thomas Becket würde staunen.

Martin Glauert (Text und Fotos)

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