Institution oder intime Beziehung?

Die Ehe als evangelisch gedeutete Lebensform
Die Hochzeit des vergangenen Jahres: Prinz Harry und Meghan Markle, Windsor Castle, 19. Mai 2018. Foto: dpa/ Jonathan Brady
Die Hochzeit des vergangenen Jahres: Prinz Harry und Meghan Markle, Windsor Castle, 19. Mai 2018. Foto: dpa/ Jonathan Brady
Gibt es eine spezifisch evangelische Ehetheologie? Wenn ja, wie sieht sie aus? Wenn nein, wie könnte sie aussehen? Im ersten Teil einer zeitzeichen-Serie über das evangelische Eheverständnis beschäftigt sich der Göttinger Systematiker Martin Laube mit dem neuartigen, schillernden Begriff der Lebensform.

In der Sozialphilosophie hat seit einigen Jahren der Begriff der Lebensform verstärkt an Aufmerksamkeit gewonnen. Von dort aus wird er zunehmend auch in der Theologie rezipiert. Seine Attraktivität beruht darauf, dass er kollektive Praxiszusammenhänge - „Kulturen gemeinsamen Handelns“ (Rahel Jaeggi) - zu beschreiben erlaubt, die geregelte Verbindlichkeiten aufweisen und doch zugleich im ,Aggregatzustand“ nicht fest gefügt und streng kodifiziert erscheinen. Insofern verbindet sich mit dem Begriff der Lebensform die Erwartung, dass er die unselige Entgegensetzung von intimer Liebesbeziehung und objektivem Rechtsinstitut zu unterlaufen erlaubt, in welche sich die evangelische Ehetheologie weithin scheinbar ausweglos verfangen hat.

Damit ist eine Problemstellung aufgerufen, die seit der in den Siebzigerjahren zunehmenden Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften die gesellschaftliche Debatte über die Ehe maßgeblich beherrscht hat. Nun mag es zwar so scheinen, als stünden heute andere Fragen im Vordergrund: Das beherrschende Schlagwort ist die „Ehe für alle“, nicht die „Ehe ohne Trauschein“. Damit verbindet sich die komplexe Frage nach dem Verhältnis von Ehe und Familie. Sie hat nicht zuletzt durch die EKD-Orientierungshilfe zu Ehe und Familie aus dem Jahre 2013 einen formidablen Schub erhalten. Bei näherem Hinsehen jedoch nimmt diese Orientierungshilfe bereits in ihrem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ jene Spannung zwischen individueller Freiheit und überindividueller Bindung auf, die auch der Entgegensetzung von intimer Liebe und ehelichem Rechtsinstitut zugrunde liegt.

Gedankliche Nachlässigkeit

Freilich belässt sie es dann bei der bloßen Feststellung einer Ambivalenz zwischen beiden Polen; wohl aus ihrer Abneigung gegen die klassischen Ordnungstheologie heraus gibt sie sich damit zufrieden, individuelle Lebensführung und institutionelle Ordnung lediglich gegeneinander zu stellen. In der Folge hat sich daher der Eindruck festgesetzt, die Orientierungshilfe habe - zugunsten einer pauschalen Anerkennung der modernen Vielfalt familiärer Lebensformen - die Bedeutung der Ehe als (rechtlich gestützter) Institution relativiert und so eine grundsätzliche Abkehr vom bisherigen Eheverständnis vollzogen.

Das dürfte in dieser Zuspitzung ein Missverständnis sein. Entscheidend jedoch ist, dass gerade die gedankliche Nachlässigkeit an dieser Stelle das ungeklärte Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Bindung, Intimität und Institution neu in den Vordergrund gerückt und die Aufmerksamkeit für die Frage geschärft hat, wie es gelingen kann, den vermeintlichen Gegensatz zu überbrücken und das Faktum „eines überindividuellen Verpflichtungsgehaltes im Zusammenleben von Menschen“ (Klaus Tanner) gedanklich zu plausibilisieren.

Kennzeichnend für das evangelische Eheverständnis ist, dass Liebe, Ehe und Familie zwar nicht unterschiedslos zusammenfallen, aber doch sehr wohl gedanklich aufeinander bezogen und miteinander verschränkt sind. Das gravierende Defizit der traditionellen Ehetheologie besteht darin, dass sie Liebe, Ehe und Familie von vornherein und grundsätzlich ineinander aufgehen ließ. Andererseits kann jedoch nicht ernsthaft strittig sein, dass aus evangelisch-theologischer Perspektive Liebe, Ehe und Familie in einem inneren Verweisungszusammenhang stehen. Hier nun scheint der Begriff der Lebensform fruchtbare neue Möglichkeiten zu eröffnen. Denn er impliziert eine Balance zwischen Variabilität und Bestimmtheit, individueller Gestaltungsoffenheit und objektiver Vorgängigkeit, die geeignet sein könnte, festgefahrene Alternativen und Dichotomien zu überwinden.

Unstreitig zielt die klassische theologische Bestimmung der Ehe auf ihren Charakter als rechtlich abgestützte Institution. Im Hintergrund stand dabei ein Bild der Ehe als göttlicher Not- und Erhaltungsordnung, um die sündhafte Sexualität zu kanalisieren, für die Zeugung von Nachkommen zu sorgen und die elterliche Erziehungsgemeinschaft sicherzustellen. Der Begriff der Institution verband sich so mit der Konnotation eines starren und rigiden „Zwangsgehäuses“, das vornehmlich auf die konformierende Einhegung von Freiheit ausgerichtet ist. Es kann daher nicht verwundern, dass der Begriff der Institution heute weithin diskreditiert und problematisch erscheint.

Ganz anders der Begriff der Lebensform. Er bezeichnet „Bündel“ eingelebter gemeinsamer Praktiken und Verhaltensweisen, die zwar durchaus normativ imprägniert sind, aber zugleich eigentümlich flexibel bleiben: „Sind die entsprechenden Praktiken im Fall der Institution festgefügt und tendenziell kodifiziert, so erscheinen sie im Zusammenhang mit Lebensformen „weicher“ und „informeller“ (Rahel Jaeggi). Das macht den Begriff der Lebensform für das Nachdenken über die Ehe interessant.

Zunächst mag es nun so scheinen, als könnte der Begriff der Lebensform die in Verruf geratene Bestimmung der Ehe als Institution ersetzen: Statt Liebe, Ehe und Familie weiterhin einem rigiden normativen Diktat zu unterwerfen, werde es nun möglich, der Vielfalt intimer, partnerschaftlicher und familiärer Lebensformen Rechnung zu tragen. Doch so würde der Erschließungsgewinn des Begriffs der Lebensform gerade verspielt. Die Beschreibung der Ehe als Lebensform ersetzt deren Verständnis als Institution nicht; vielmehr verhilft sie dessen Grundsinn zu überzeugenderer Darstellung. Maßgeblich dafür ist der Gedanke, dass Institutionen gerade nicht der Einhegung, sondern vielmehr der Förderung individueller Freiheit dienen. Ihre Regeln sind keine Vorschriften, die gehorsame Observanz verlangten; stattdessen spannen sie einen Rahmen auf, dessen selbständig freie Ausgestaltung sie ermöglichen und anregen. Darin schlägt sich die Einsicht nieder, dass Ordnung und Freiheit nicht einfach gegeneinander stehen, sondern sich vielmehr wechselseitig bedingen und ermöglichen - so sehr jede Freiheit zugleich in Anomie und jede Ordnung in Unfreiheit umschlagen kann.

Der Begriff der Lebensform nun vermag mit seiner Verschränkung von Leben und Form - Gestaltung und Gestalt - eben diesen Grundgedanken zur Geltung zu bringen. Darin liegt sein außerordentlicher Gewinn für das theologische Nachdenken über die Ehe. Denn das überkommene Modell der Ehe als „Notordnung“ hat sich schon lange als unzureichend erwiesen. Angesichts der Neubewertung menschlicher Geschlechtlichkeit und Sexualität einerseits, der Neubesinnung auf die Freiheitssignatur ethischer Lebensführung andererseits lautet die Aufgabe, die eheliche Lebensgemeinschaft als eine Ordnung zu beschreiben, die ihre individuell-selbständige Gestaltung nicht beschneidet, sondern vielmehr ebenso fordert wie fördert - und so die Freiheit Wirklichkeit werden lässt, die aus der liebenden Verbundenheit der Ehepartner erwächst.

Eigentümliche Dialektik

Der Begriff der Lebensform vermag hier einen wichtigen Dienst zu leisten. Seine charakteristische Pointe besteht darin, dass er die praktische Vollzugsdimension der Ehe hervorhebt. Lebensformen zeichnen sich - so schlicht es klingt - dadurch aus, dass sie gelebt werden, dass Menschen in ihnen leben, indem sie sich in den entsprechenden Handlungsrahmen einfügen, den sie im eigenen Tun zugleich fortschreiben. Gleiches gilt für die Ehe. Auch sie steht unter der eigentümlichen Dialektik, dass sie den Ehepartnern ebenso vorgängig ist, wie sie umgekehrt allein durch deren Handeln Bestand hat. Eben diese Dialektik bietet nun den Ansatzpunkt, um jene charakteristische Verschränkung von Ordnung und Freiheit aufzuschlüsseln, an welchem dem evangelischen Eheverständnis so zentral gelegen ist. Dabei lassen sich drei Momente unterscheiden.

Erstens: Mit dem Übergang in die Lebensform der Ehe treten die Ehepartner in einen vorgegebenen, überindividuell-sozialen Praxiszusammenhang ein. Sie übernehmen eine Form des Zusammenlebens, deren Regeln sie nicht erfinden, sondern vielmehr vorfinden - wie flexibel und variabel diese im Einzelnen dann auch aus- und umgestaltet werden mögen. Das gilt keineswegs erst für rechtlich geschlossene Ehen, sondern nicht minder für die verschiedenen Formen nichtverheirateter Lebensgemeinschaften. Das soeben zusammengezogene studentische Paar erkennt dies spätestens dann, wenn erstmalig das Putzen der gemeinsamen Wohnung ansteht. Schlechthin entscheidend ist nun aber, dass die Vorgängigkeit des Praxisrahmens, in den die Ehepartner eintreten, in keiner Weise gegen die Freiheit ausgespielt werden kann, diesen Rahmen nach je eigenen Vorstellungen auszufüllen und umzugestalten - im Gegenteil: Die impliziten Praxisregeln der Lebensform spannen gleichsam einen Möglichkeitsraum auf, dessen je individuelle Ausgestaltung sie nicht nur freisetzen, sondern zugleich fordern. Der Eintritt in die Lebensform der Ehe bedeutet also gerade nicht, sich einem rigiden normativen Korsett einzufügen oder zu unterwerfen. Vielmehr „gibt“ es die Ehe nur dadurch, dass sie von den jeweiligen Ehepartnern selbständig und nach eigenen Vorstellungen gestaltet wird. Freiheit und Ordnung stehen so nicht gegeneinander. Vielmehr erweist sich die Ehe als eine Lebensform, die überhaupt nur frei gelebt werden kann.

Zweitens: Das für die Lebensform charakteristische Ineinander von Ordnung und Freiheit betrifft nicht nur die Freiheit, mit der die Ehe geführt wird, sondern auch die Freiheit, die aus der geführten Ehe erwächst. Die Figur der Lebensform macht anschaulich, dass eine Ehe mehr und anderes ist als die vertragsförmig geregelte Verbindung zweier Individuen zum wechselseitigen Vorteil. Denn indem man die Ehe eingeht, geht man gleichsam selbst in die Ehe ein. Die Ehe - so heißt es bereits bei Trutz Rendtorff - „ist im ethischen Grundsinn eine Lebensgemeinschaft, in der Menschen (...) an einer Wirklichkeit gemeinsamen Lebens Anteil gewinnen, die keiner für sich selbst alleine hat und haben kann und die keinem für sich selbst und alleine zur Verfügung steht“. Indem die Ehe alle Bezüge des individuellen Lebens zu einer gleichsam „überindividuelle(n) Biographie für individuelle Menschen“ zusammenschließe, eröffne sie „eine Erweiterung des Lebens, zu der niemand von sich selbst her und alleine fähig ist, die vielmehr dem Menschen (...) erst durch diese Lebensgemeinschaft gegeben wird. Insofern ist die Ehe eine Steigerung der Personalität und Individualität des Menschen über sein Selbstkönnen hinaus.“

Für Trutz Rendtorff markiert dieses Steigerungsmoment eine überindividuelle Verbindlichkeit, welche die Ehe zum einen aller externen Instrumentalisierungen enthebt und zum anderen „mit innerer Notwendigkeit auf die Dauer des Lebens“ bezogen sein lässt. Insofern ermöglicht die Lebensgemeinschaft der Ehe den Ehepartnern eine Freiheit des Selbstseins, die sie über die Grenzen ihrer „solitären“ Autonomie heraushebt. Sie werden durch die Ehe zu Personen, die sie zuvor nicht waren.

Drittens: Die für die Lebensform charakteristische Dialektik von Gestalt und Gestaltung erlaubt schließlich auch, die besondere Bedeutung der Eheschließung herauszustellen, ohne damit im Gegenzug nichtverheiratete Lebensgemeinschaften moralisch abwerten zu müssen. Die Vorgängigkeit der Lebensform ,Ehe“ bedeutet, dass beide Partner in einen Praxiszusammenhang eintreten, der neben bestimmten Handlungsroutinen auch implizite, normativ geprägte Orientierungen und Werthaltungen einschließt - und das gilt nicht erst für die rechtlich geschlossene Ehe, sondern bereits für jede Form intimer Zweisamkeit und Liebesgemeinschaft.

Kulturelle Wirkungsgeschichte

Soziale Beziehungen sind als solche stets schon durch implizite Praxisregeln bestimmt - wie auch immer diese dann aufgenommen und umgestaltet werden mögen. Daraus folgt, dass Intimität und Institutionalität nicht einfach gegeneinander ausgespielt werden können - weder mit dem Ziel, im Namen der reinen Liebe die Ehe zur verkrusteten Institution abzuwerten, noch in der gegenläufigen Absicht, intime Beziehungen und Liebesverhältnisse ohne ehelichen „Segen“ als unmoralisch zu diskreditieren.

Stattdessen belegen zahlreiche Erhebungen, dass auch diese Beziehungsformen implizit bereits durch eben die normativen Erwartungen geprägt sind, die gemeinhin der Ehe zugeordnet werden: Ganzheitlichkeit, Verlässlichkeit und nicht zuletzt Dauerhaftigkeit.

Man wird vielleicht nicht fehlgehen, darin einen Niederschlag der kulturellen Wirkungsgeschichte des christlichen Eheverständnisses zu erblicken. Damit aber lässt sich der förmliche Eheschluss nicht so verstehen, als würde nun erst das bis dahin ungezügelte Liebesleben in eine Form der verbindlichen Gemeinschaft überführt. Stattdessen stellt er die ausdrückliche und förmliche Stellungnahme der Ehepartner zu eben der normativen Verbindlichkeit dar, die ihr gemeinschaftliches Zusammenleben bisher bereits geprägt hatte. Die vorgängige Gestalt der Lebensform wird so nicht nur anerkannt, sondern zugleich als Aufgabe der eigenen Gestaltung übernommen.

Im Akt der Eheschließung realisiert sich damit jene unvertretbar eigene Stellungnahme zur vorgängigen ethischen Lebenswirklichkeit, die nach dem Verständnis Trutz Rendtorffs die spezifische Freiheit evangelischer Lebensführung kennzeichnet.

Informationen

Eine Langfassung dieses Textes ist als epd-Dokumentation erschienen. Bestellung unter Telefon: 0800/758 753 7 oder E-Mail: kundenservice@gep.de. Als nächster Text zum evangelischen Eheverständnis erscheint in der Märzausgabe ein Beitrag von Reiner Anselm.

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Martin Laube

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