Abschottung statt Schutz

Warum ein Konsens in der europäischen Flüchtlingspolitik in weiter Ferne scheint
Ankunft von Flüchtlingen in Tarifa, der südlichsten Stadt Europas, an der Costa de la Luz. Fotos: dpa/ Felipe Passolas
Ankunft von Flüchtlingen in Tarifa, der südlichsten Stadt Europas, an der Costa de la Luz. Fotos: dpa/ Felipe Passolas
Die Entwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die Notwendigkeit für Programme innereuropäischer Solidarität werden auf den Grenzschutz reduziert. Doch dieser kann die Verteilungsprobleme innerhalb der Europäischen Union und die politischen Kontroversen nicht lösen, meint Doris Peschke, Referentin bei der Diakonie Hessen in Frankfurt.

Auch wenn die EU-Staaten bei der Reform für ein neues Gemeinsames Europäisches Asylsystem in den kommenden Monaten weiter nach einem Konsens zur Dublin-Verordnung und der Richtlinie für Asylverfahren suchen wollen, scheint eine Einigung in weiter Ferne.

Eigentlich hätten soziale Fragen für die Zukunft Europas im Mittelpunkt des Treffens der Staats- und Regierungs-chefs der Europäischen Union vor zwei Monaten stehen sollen. Doch wurde die Diskussion wieder einmal von der Migrations- und Flüchtlingspolitik überlagert, die insbesondere aufgrund der innerdeutschen Diskussion um die Verringerung der Flüchtlingszahlen und der „illegalen“ Grenzübertritte in den Vordergrund rückte. Das Treffen des Europäischen Rates markiert aber auch das Scheitern: die Entwicklung des Gemeinsamen Europäische Asylsystems und die Notwendigkeit für Programme innereuropäischer Solidarität werden auf den Grenzschutz reduziert.

Selbst wenn man gemeinsamen Grenzschutz für sinnvoll hält, kann er doch nicht die Verteilungsprobleme innerhalb der Europäischen Union (EU) und die politischen Kontroversen lösen. Schon gar nicht darf Grenzschutz die Aufnahme von Flüchtlingen verhindern, denn damit würde internationales Recht gebrochen.

Was wurde vereinbart? In der Migrationspolitik stellten die Staats- und Regierungschefs fest, dass durch gemeinsame europäische Maßnahmen zur Kontrolle der EU-Außengrenzen die Zahl der festgestellten illegalen Grenzübertritte in die EU seit ihrem Höhepunkt im Oktober 2015 um 95 Prozent verringert werden konnte, auch wenn seit kurzem wieder mehr Migranten über die östliche und westliche Mittelmeerroute kommen. „Der Europäische Rat ist entschlossen, diese Politik fortzusetzen und zu verstärken, um eine Wiederholung der unkontrollierten Migrationsbewegungen des Jahres 2015 zu verhindern und die illegale Migration über alle bestehenden und neuen Routen weiter einzudämmen“, heißt es weiter in der Schlusserklärung des Europäischen Rates.

Entsprechend wurden viele bereits bestehenden Programme und Beschlüsse bestätigt, wie die bessere und schnellere Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung vom März 2016 und die Aufstockung der Mittel für den EU-Africa Trust Fund, aus dem Maßnahmen zur Migrationskontrolle, und in bescheidenem Maße auch der Fluchtursachen, finanziert werden.

Nicht weiterwandern

Alle Staats- und Regierungschefs erklärten sich bereit, die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten einzudämmen. „Was die Lage innerhalb der EU betrifft, so droht die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen Mitgliedstaaten die Integrität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und des Schengen-Besitzstands zu gefährden. Die Mitgliedstaaten sollten alle erforderlichen internen Rechtsetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen gegen diese Migrationsbewegungen treffen und dabei eng zusammenarbeiten“, heißt es in den Schlussfolgerungen.

Sekundärmigration wird die Weiterwanderung von Asylsuchenden sowie von Personen genannt, denen ein Schutzstatus zuerkannt wurde. Die bisherigen Regeln des EU-Asylsystems, insbesondere die Dublin III-Verordnung, führen dazu, dass die Ersteinreisestaaten bei der Aufnahme, den Asylverfahren und dem Flüchtlingsschutz stärker und unverhältnismäßig gefordert sind. Anerkannte Flüchtlinge dürfen sich erst in einem anderen EU-Staat niederlassen, wenn sie eine Daueraufenthaltsgenehmigung, in der Regel nach fünf Jahren, erhalten haben.

Am Rande des Gipfeltreffens wurden bilaterale, administrative Übereinkünfte zwischen verschiedenen Ländern in Aussicht gestellt. Überraschend ist die Ankündigung des griechischen Regierungschefs Tsipras, Asylsuchende nach Griechenland zurückzuführen, denn Griechenland hat im europäischen Vergleich nach wie vor sehr viele Flüchtlinge auf den Inseln sowie zunehmend an der nordgriechischen Landgrenze.

Auch wenn die EU-Staaten bei der Reform für ein neues Gemeinsames Europäisches Asylsystem in den kommenden Monaten weiter nach einem Konsens zur Dublin-Verordnung und der Richtlinie für Asylverfahren suchen wollen, scheint eine Einigung in weiter Ferne.

Die österreichische Präsidentschaft hat in ihrem Programm der Frage der Solidarität keine hohe Priorität eingeräumt, wichtiger scheinen auch hier der gemeinsame Grenzschutz und der Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex. Das Frontex-Mandat wurde bereits 2016 innerhalb einer Rekordzeit geändert und eine Europäische Agentur für Grenzschutz und Küstenwacht begründet, die nicht mehr nur koordinierend, sondern auch eigenständig aktiv werden kann. Neben ausgeweiteten Kompetenzen erhielt die Grenzschutzagentur deutlich mehr Geld, insbesondere für Abschiebungen. Entsprechend wurde die Abteilung „Unterstützung und Koordination von Rückkehrmaßnahmen“ zu einem „Europäischen Rückkehrzentrum“ umgebaut. Nicht nur gemeinsame Abschiebeflüge mehrerer Mitgliedstaaten werden unterstützt, sondern nun auch nationale Operationen.

Dennoch war im Vorfeld des Gipfels von einer weiteren Mandatsänderung und Aufstockung von Frontex die Rede. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates heißt es dazu: „…, dass die effektive Rückführung irregulärer Migranten deutlich verstärkt werden muss. In beiderlei Hinsicht sollte die unterstützende Rolle von Frontex, auch bei der Zusammenarbeit mit Drittländern, durch eine Aufstockung der Mittel und ein erweitertes Mandat weiter ausgebaut werden. Der Europäische Rat begrüßt, dass die Kommission Gesetzgebungsvorschläge für eine effizientere und kohärentere europäische Rückkehrpolitik vorlegen will.“

Medial erhielt die Absicht des Europäischen Rates, „Ausschiffungsplattformen in Drittstaaten mit UN-Organisationen“ aufzubauen, viel Aufmerksamkeit. Hintergrund dafür ist auch der Politikwechsel in Italien. Die im Mai gebildete Regierung hat die generelle Aufnahme von aus Seenot Geretteten beendet und insbesondere den Rettungsschiffen von humanitären Organisationen den Zugang zu italienischen Häfen verwehrt. Schon zuvor waren Rettungsschiffe konfisziert und Gerichtsverfahren wegen Beihilfe zu illegaler Einreise angestrengt worden. Bis heute wurden jedoch von den Gerichten die Anklagen als unbegründet zurückgewiesen, die Schiffe jedoch nicht wieder freigegeben. Die italienische Regierung hat inzwischen auch den Schiffen der EU-Militärmission Sophia untersagt, gerettete Menschen nach Italien zu bringen. Malta verfolgt eine ähnlich ablehnende Haltung, während Spanien sich zur Aufnahme der Rettungsschiffe bereit erklärte.

Ablehnende Haltung

Italien vertritt die Position, dass in den meisten Fällen die libysche Küstenwache für die Rettung und Aufnahme zuständig sei. Dieser Maßgabe folgend wurden vor einigen Wochen von einem italienischen Handelsschiff gerettete Menschen nach Libyen zurückgebracht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sprach von einem möglichen Bruch internationalen Rechtes, da die Flüchtlinge keine Möglichkeit zu einem Asylantrag hatten und sie in bedrohliche Situationen zurückgeschickt wurden.

Für die sogenannten Ausschiffungsplattformen - die vage Bezeichnung deutet auf die schwierige Konsenssuche im Rat hin - sind mehrere Varianten in der Diskussion: Zum einen soll geprüft werden, ob und wo in Europa gemeinsame Anlande- und Aufnahmezentren aufgebaut werden können. Im Vorfeld waren auch Staaten im Westbalkan im Gespräch, es wurde aber auch betont, dass es innerhalb der EU sein müsste, also in Spanien, Frankreich und Italien. Für die zweite, in den Schlussfolgerungen aufgeführte Variante soll die Kommission das Konzept regionaler Ausschiffungsplattformen in enger Zusammenarbeit mit Drittländern sowie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ausloten.

Nach dem Mini-Gipfel vom 24. Juni hat die Europäische Kommission drei Szenarien für solche Plattformen vorgestellt, und auch die rechtlichen Möglichkeiten und Bedenken beschrieben.

Die Kommission hält eine Ausweitung des „Hotspot-Modells“ für denkbar; unklar bleibt, ob das griechische Modell zur Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung vom März 2016, das eine regionale Beschränkung und de facto Inhaftierung vorsieht, gemeint ist oder das italienische, wo die „Hotspots“ in der Regel offen sind. Da die Kommission aber implizit davon ausgeht, dass die „Asylverfahren im Grenzgebiet“, die nach der Asylverfahrensrichtlinie möglich, aber nicht zwingend sind, verbindlich eingeführt und die Richtlinie entsprechend geändert werden müsste, sollen verkürzte Verfahren wohl zur Regel für die Flüchtlinge werden, die über das Mittelmeer ankommen.

Nach dem Szenario der regionalen Anlandeplattformen in Drittstaaten sollen in internationalen Gewässern oder in Gewässern von Drittstaaten aus Seenot gerettete Menschen in Drittstaaten an Land gebracht werden, und eventuell dort auch Zentren eingerichtet werden. Aus Sicht der Europäischen Kommission erfordert dieses Szenario keine Gesetzesänderung, jedoch die zügige Annahme des EU-Rahmenprogramms für Flüchtlingsneuansiedlung - Resettlement. Die Kommission hatte hier vorgeschlagen, dass die Mitgliedstaaten sich auf die Aufnahme von 50?000 Flüchtlingen innerhalb von zwei Jahren verpflichten, die Kontingente jedoch nicht nach Schlüssel vorgeschrieben, sondern freiwillig von den Mitgliedsstaaten eingebracht werden.

Implizit geht die Europäische Kommission davon aus, dass Drittstaaten, hier geht es vor allem um Ägypten, Marokko und Tunesien, nur für eine Kooperation gewonnen werden können, wenn die Aufnahme von Flüchtlingen verbindlich zugesagt werden kann, und für die nicht Schutzbedürftigen Rückkehrprogramme mit der Internationalen Organisation für Migration durchgeführt werden - die von der EU finanziert werden müssten.

Die externe Prüfung von Asylanträgen und Rückkehrverfahren in Drittstaaten - dieses politisch immer wieder vorgeschlagene Szenario sieht vor, dass alle Asylantragstellenden ohne Prüfung in ein Zentrum in einem Drittstaat gebracht werden, wo die Prüfung des Asylantrages durchgeführt werden soll, und von wo aus auch eine Rückkehr in das eigene oder ein weiteres Land organisiert würde.

Die Europäische Kommission sagt deutlich, dass eine Abschiebung ohne Prüfung des Asylantrages gegen europäisches Recht verstoßen und den Grundsatz des Non-Refoulement verletzen würde. Einzelpersonen zu gestatten, einen Asylantrag außerhalb der EU zu stellen, so die Europäische Kommission, würde eine extraterritoriale Anwendbarkeit von EU-Recht voraussetzen, die derzeit weder möglich noch erstrebenswert sei. Auch externen Rückführungszentren gegenüber zeigt sich die Europäische Kommission skeptisch, da es nach EU-Recht nicht möglich ist, eine Person gegen ihren Willen in ein Land zu schicken, das nicht das eigene ist oder durch das die Person gereist ist. Das Risiko, gegen den Non-Refoulement-Grundsatz zu verstoßen, wird als sehr hoch eingeschätzt.

Obwohl seit 2016 auf UN-Ebene über einen neuen Rahmen für den internationalen Flüchtlingsschutz, wie auch für internationale Migration gesprochen wird und im September und Dezember hierzu Vereinbarungen beschlossen werden sollen, findet der EU-Beitrag zu internationalem Flüchtlingsschutz kaum Erwähnung in der aufgeheizten Debatte in Europa. Die hohe Belastung der Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen im Nahen Osten, Afrika und Asien wird ausgeblendet, als käme die Mehrheit der Flüchtlinge nach Europa. In den EU-Diskussionen geht es derzeit fast ausschließlich um die Verringerung der Flüchtlingszahlen und die Erhöhung der Abschiebungen, hinzugekommen ist der Schwerpunkt, die Sekundärwanderung zu unterbinden.

Kaum erwähnt wird beispielsweise, dass es nach wie vor eine große Anzahl von Schutzberechtigten unter den Ankommenden in Griechenland, Italien und zunehmend Spanien gibt, deren „illegaler Grenzübertritt“ gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und auch der beschlossenen EU-Richtlinien nicht geahndet werden darf. Insgesamt wurden in den EU-Mitgliedstaaten und den Schengen assoziierten Ländern im Jahr 2017 728?470 Asylanträge gestellt, deutlich weniger als die knapp 1,3 Millionen Asylanträge im Jahr 2016 oder fast 1,4 Millionen Anträge in 2015. In 2017 waren die Hauptherkunftsländer Syrien, Irak, Afghanistan und Nigeria.

Die Überbetonung von Rückkehr und Abschiebung, auch wenn Rückkehrpolitik natürlich ein Teil einer umfassenden Migrationspolitik ist, lenkt davon ab, dass Flüchtlinge aufgenommen werden müssen. Kirchen in Europa sprechen sich für eine ausgewogene, menschliche Flüchtlingspolitik aus (siehe auch Seite 12?f.). Nach dem Gipfeltreffen Ende Juni hat die Kommission der Kirchen für Migranten in Europa vor einem „Guantanamo für Flüchtlinge“ gewarnt, da mit den Anlande- oder Ausschiffungsplattformen Räume geschaffen werden könnten, die internationalem Recht entgegenstehen.

Es ist dringend notwendig, die Debatte wieder an die Realitäten zu knüpfen. Auch wenn die Zahl der Ankünfte zurückging, starben im ersten Halbjahr 2018 bereits mehr als 1?500 Menschen im Mittelmeer. Auch hier fordern Kirchen und Menschenrechtsorganisationen eine Politik, die Menschenleben schützt und Seenotrettung ermöglicht.

Die Sekundärwanderung sollte nicht kriminalisiert, sondern ermöglicht werden. Bis zum Stockholmer EU-Programm für Migration und Asyl 2008 gab es das Versprechen, auch für Flüchtlinge Möglichkeiten der Freizügigkeit in der EU und die EU-weite Anerkennung des Flüchtlingsstatus zu regeln. Denn in der Tat kann es ja nicht sein, dass nur die negativen Beschlüsse EU-weit gelten, die positiven aber nicht. Freizügigkeit ist ein hoher Wert in der EU, und Flüchtlingen diese zuzusprechen, wäre von Vorteil für alle.

Doris Peschke

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