Licht und Schatten

Plädoyer für ein neues Verständnis kirchlicher Zugehörigkeit
Stop and go - Martin-Luther-Ampel in Worms. Foto: epd/ Kristina Schaefer
Stop and go - Martin-Luther-Ampel in Worms. Foto: epd/ Kristina Schaefer
Vor einem Jahr, im Jubiläumsjahr 2017, war der Reformationstag ein bundesweiter Sonderfeiertag. In diesem Jahr ist er zumindest in vier norddeutschen Bundesländern auf Dauer gestellt worden - zweifellos ein Erfolg. Trotzdem ist die Zahl der Kirchenaustritte wieder gestiegen. Thies Gundlach, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, fordert daraus Konsequenzen für Praxis und Selbstverständnis seiner Kirche.

Wir freuen uns über ein gelungenes Jubiläum 2017, haben aber zugleich weitere Verluste an Mitgliedern, als sei nichts geschehen: 660.000 Menschen weniger gehören den beiden Kirchen an, bei den Evangelischen sind es 380.000, davon der übergroße Anteil durch das sogenannte Unterjüngungsphänomen, also der Tatsache, dass mehr Evangelische sterben als getauft werden.

Austritte hat es auch gegeben, etwas mehr als 2016 (200.000 zu 190.000), viel zu viele - etwa so viele Menschen wie in einer Stadt wie Bielefeld, Münster, Aachen oder Erfurt wohnen (vergleiche zz 9/2018). Wir trösten uns etwas damit, dass die Austritte durch die Taufen (fast) ausgeglichen werden (180.000 zu 200.000), nicht aber die Sterbefälle. Kurzum: Es gilt auch für das große Jubiläumsjahr 2017: Schrumpfen mit dem Trend.

Widerlegen die Zahlen den Erfolg des Jubiläums? Das wäre in etwa so, als würde man den 70. Geburtstag des Opas für misslungen halten, weil er hinterher immer noch Gicht hat. Nur wer das Jubiläum als Mitgliedergewinnungsfest verstanden hat, muss und kann enttäuscht sein. Wer das Jubiläum so versteht, wie es gemeint war - eine historische Aktualisierung und inhaltliche Vergegenwärtigung -, der wird nicht verwundert sein, dass sich an dem Grundtrend zum Thema Kirchenbindung nichts verändert hat. Umgekehrt aber ist dann zu klären: Was war denn nun erfolgreich an dem erfolgreichen Jahr 2017? Dazu vier Gedanken:

Erstens: Die EKD hat in allen offiziellen und inoffiziellen Verlautbarungen festgehalten, das Jubiläum sei ein Beteiligungs-, ein Bildungs-, ein Ökumene- und ein Glaubensjubiläum gewesen. Und tatsächlich wird niemand bestreiten können, dass 2018 mehr Leute mehr über Reformation und Luther Bescheid wissen als vor 2017, dass auch der populistische Gegensatz von (guter) Basisbeteiligung und (schlechter) Zentralveranstaltung als Unsinn erkannt ist, dass die Ökumene sich trotz des aktuellen Straucheln zum Positiven verändern hat und dass wir mit manchen Glaubensthemen und selbstkritischen Reflexionen (wie zum Beispiel Luthers Antisemitismus) vorangekommen sind. Und ein Erfolg ist sicher auch die Tatsache, dass die Diskussion um eine gerechtere Verteilung von Feiertagen zwischen Nord und Süd mit dem Reformationsfeiertag gelöst wurde, der massiven Kritik gerade von jüdischer und katholischer Seite zum Trotz.

Die Diskussion um den Feiertag hat gezeigt: Die Menschen verstehen die Reformation seit der Lutherdekade und dem Jubiläum nicht mehr zuerst als Spaltungs- oder Zerstörungsfest der mittelalterlichen Einheitskultur, sondern als Beginn einer Dynamik, die die Gesellschaft trotz aller mühsamer Lernwege ins freiere, offenere Land gebracht hat.

Reformationserinnerung ist keineswegs nur eine Erinnerung an einen theologisch unversöhnlichen Diskurs, sondern auch an eine Pluralisierung, die zur Befreiung von falscher Religionsdominanz und zur Säkularisierung der Gemeinschaftsfrieden geführt hat. Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg - so der Historiker Herfried Münkler - herrsche die Einsicht, dass die Verfahrensgerechtigkeit zur Klärung von Konflikten, die Regeln des menschlichen Zusammenlebens und die Verantwortlichkeiten einer Obrigkeit gelten etsi deus non daretur - auch wenn es Gott nicht gäbe.

Den Reformationstag als Feiertag in dieser Tradition zu lesen und auch zu gestalten ist nun die gemeinsame Aufgabe von Kirche und Zivilgesellschaft für den Reformationstag 2018: theologisch durchaus als Tag der Konzentration auf das Wesentliche des biblischen Glaubens, gesellschaftlich als Tag des Aufbruches, als Tag der Religionsreflexion und der kritischen Reflexion des Standes der Dinge im Allgemeinen. Diese alljährliche Unterbrechung des leistungsorientierten Alltags ist der Sinn des neuen staatlichen Feiertages, der sich weit über dessen konfessionelle Entstehungskategorien hinausbewegt.

Zweitens: Den wichtigsten Erfolg des Jubiläums haben wir noch gar nicht richtig eingesammelt, denn die eigentliche Überraschung waren die vollen, fast übervollen Kirchen am 31. Oktober 2017! Manche sprachen davon, dass Weihnachten und Ostern zusammenfalle, aber diese Beschreibung verdeckt eher den eigentlichen Clou, denn in die Gottesdienste sind in allen Teilen Deutschlands Menschen gekommen, die sich den reformatorischen Kirchen, ihrer Botschaft und ihrem (Kultur-)Erbe zugehörig fühlen.

Es gibt offenbar viele Menschen, die sich inhaltlich ansprechen lassen vom Kern unserer Botschaft, von unserem Ethos und unseren Traditionen und Kulturwirkungen, ohne Mitglieder der Kirche zu sein. Es gibt mehr Zugehörigkeit zur reformatorischen Sache als Kirchenmitglieder und mehr inhaltliche, geistliche Zugehörigkeit zu unseren Traditionsbeständen als formale Unterstützung.

Unterschiedliche Formen

Der Begriff der „Zugehörigkeit“ ist dabei als eine Art Oberbegriff zu verstehen im Sinne unterschiedlicher Formen der Zugehörigkeit: Zugehörigkeit als rechtliche (Mitgliedschaft, Anstellung, Staatszugehörigkeit, Kunde), biologische (Verwandtschaft, Gattung), soziale (Freundschaft, Bekanntschaft, „Fan“) oder auch rein innerliche Verbindung. Diese unterschiedlichen Formen schließen sich gegenseitig nicht aus, so dass sich ein breites Spektrum möglicher Grade von Verbindlichkeit und Intensität in der Zugehörigkeit ergeben. Es gibt Kirchenmitglieder, die sich kaum noch zugehörig fühlen, und solche, die keine Mitglieder sind, sich aber noch in hohem Maße zugehörig fühlen - und dazwischen viele Übergänge.

Diese am 31. Oktober 2017 sichtbar gewordene Zugehörigkeit ist geistlich eine gute, organisatorisch hingegen eine problematische Einsicht. Denn unsere Kirchen sind prinzipiell auf Mitgliedschaft, nicht auf Zugehörigkeit ausgerichtet. Sie organisieren ihr Selbstverständnis, ihre Angebote, ihre Entscheidungswege und auch ihre Finanzströme weithin entlang der Mitgliederinteressen. Diese Grundorientierung zeigt sich nicht zuletzt beim Thema Konfessionslosigkeit, weil die Kirchen wohl eine Relevanz des Glaubens entfalten können, diese Relevanz aber keineswegs in eine wie auch immer geartete Schnupper-, Probe- oder Phasenmitgliedschaft verdichtet, sondern zu „eigene(n) Formen der Kirchlichkeit“ führen können müssen (Michael Domsgen).

Die sich zugehörig fühlenden Menschen kommen natürlich auch heute schon immer wieder in den Blick - nicht nur bei den Kasualien, sondern auch im ehrenamtlichen Engagement in Fördervereinen oder im diakonischen Raum. Aber sie haben keine angemessene Vertretung in der Kirche, weil ihre Zugehörigkeit eben nicht institutionell ,vereinnahmt‘ werden kann. Andererseits sind sie geistlich gesehen ein zentraler Gewinn für die Kirchen. Denn dieses latente Zugehörigkeitsgefühl, das sich angesichts besonderer Ereignisse wie dem 31. Oktober 2017 aktualisieren lässt, ist sehr tief verankert. Ihren Ursprung zu ergründen, dürfte sehr aufschlussreich sein, gründen solche Haltungen doch oft in Prägungen der Kindheit oder in biographischen Schlüsselerlebnissen wie Krankheit oder Tod. Deswegen bringen diese Menschen oftmals Fragestellungen jenseits der ausgetretenen Fragewege vieler hochverbundener Mitglieder mit, sie stolpern über Stellen und Sprachformen, die ansonsten längst schon verinnerlicht sind, und sie staunen über Inhalte, die zu oft zu schnell als verstanden ausgeben werden.

Deswegen gilt drittens: Zugehörigkeit ist eine Zukunftskategorie, weil sie Engagement und Beheimatung verbindet, ohne zugleich die Frage nach Identifikation und Verantwortung für die Organisation beziehungsweise Institution zu stellen. Das Zugehörigkeitsgefühl ist eine subjektive Kategorie, eine aktive Selbstdefinition, man „fühlt“ sich diesem oder jenem zugehörig, man sucht und entscheidet sich individuell für eine Gemeinschaft oder einen sozialen Bezug, für eine innere Haltung oder für eine äußere Einschätzung, aber all diesen Aspekten fühlt man sich weder zwingend auf Dauer zugehörig noch wohnortnah. Zugehörig fühle ich mich einer Haltung, einer Einschätzung, einem Projekt, einer Position, die mich orientiert und hält, die mir Mitwirkung und Beteiligung eröffnet, die mich aber nicht bindet, festlegt und kapert. Zugehörigkeit ist im Unterschied zur Mitgliedschaft freier, offener, unverbindlicher. Zugehörig kann ich mich einer politischen Haltung fühlen, ohne mich an eine Partei zu binden. Zugehörig kann ich mich einer ethischen Überzeugung fühlen, ohne deswegen gleich Kirchenmitglied zu sein. Zugehörig kann ich mich einem Kirchspiel fühlen, ohne deswegen Gemeindemitglied zu sein.

Willkürlich und unverbindlich

Diese Fluidität, diese Unverbindlichkeit des Zugehörigkeitsgefühls, macht es den Amtskirchen schwer, weil sie kaum Kategorien und Formate haben, diese Zugehörigkeit als „Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein“ zu verstehen. Die Kirchen sind mitgliedschaftsrechtlich noch sehr auf „schwarz oder weiß“, „drinnen oder draußen“, „Ja oder Nein“ fixiert. Und organisatorisch wäre es ja auch nicht einfach, es anders zu machen! Tatsächlich hat diese Zugehörigkeitskategorie etwas Willkürliches, Beliebiges, Unverbindliches: Ich wohne in Berlin, schätze einen Pastor aus Wanne-Eickel, feiere meine Hochzeit in einer Kirche auf Sylt und fördere die Diakonie in der Uckermark - als Kirche sind wir dankbar für all dieses Engagement, aber wie wollen wir diese Vielfalt der Zugehörigkeitsdefinitionen „verwalten“? Und schlimmer noch: Wie lassen sich geistlich aus dieser flexiblen Zugehörigkeitskategorie Glaubensüberzeugungen formatieren, die sich nicht nur den gefälligen, leichterschließenden, freundlichen Aspekten unseres Glaubens zugehörig fühlen? Kreuzestheologie oder das opus alienum (fremde Werk) Gottes sind nicht so leicht zugehörigkeitsaffin. Aber diese Zugehörigkeitsformationen werden in Zukunft schon allein deswegen häufiger vorkommen, weil sie der digitalen Kommunikation unserer Zeit entsprechen: nicht der Wohnsitz, nicht die Gemeinde, nicht dieses oder jenes konkrete Angebot, sondern die “Likes“ definieren mein Zugehörigkeitsgefühl, denn die Verortung der Menschen kommuniziert und finanziert sich zunehmend digital und im Netz.

Viertens: Der 31. Oktober 2017 war der Tag der Zugehörigen, sie haben unsere Kirchen gestürmt, weil sie vielleicht sogar besser als manche Insider gespürt haben: An diesem Tag geht es um etwas, was mich unbedingt angeht, was ein Teil meiner Geschichte ist, was zu mir gehört, obwohl ich mit der Kirche sonst wenig zu tun habe. Insofern stehen wir als Kirche vor der Herausforderung, diesem situativ aufwallenden Zugehörigkeitsgefühl Identifikation und Beheimatung, Kommunikation und Begleitung anzubieten. Wir müssen deutlich machen, warum es sich lohnt, ganz unabhängig von Mitgliedschafts-, Finanz- oder Engagementfragen diese Zugehörigkeit zu pflegen.

Viele Formen dafür gibt es natürlich schon: Ehrenamtliches Engagement wird gewürdigt, ohne es zu formalisieren, Amtshandlungen werden flexibilisiert und „kundenfreundlicher“ gestaltet, Fördervereine gehören weithin zur Grundausstattung kirchlicher Orte. Und die Arbeit der Diakonie spiegelt exakt das entstehende Problem: Sie erzeugt zwar viel Zustimmung zum Ethos, leidet aber nicht selten an der fehlenden Zustimmung zum „Theos“. Wir brauchen daher eine überzeugende Verhältnisbestimmung zwischen verlässlichen und fluiden Formen der Zugehörigkeit. Denn ohne qualifizierte Theologie, ohne refinanzierte Strukturen, ohne widerauffindbare (Kirchen-)Orte und erkennbare Rituale wird sich auch keine Zugehörigkeit etablieren. Wenn man nicht mehr erkennen kann, wozu man eventuell gehören will, wird es schwer.

Größeres Herz entwickeln

Aber können wir uns vorstellen, dass sich die engagierten Kirchenmitglieder zukünftig als Sachwalter dieser fluiden, unverbindlichen, situativ engagierten Form von Zugehörigkeit verstehen lernen? Bräuchte dann die kontinuierlich kleiner werdende Zahl der Mitglieder nicht ein anderes Selbstbewusstsein, eine andere Berufung, ein „Erwählungsbewusstsein“, das nicht zuerst die (eigene) geistliche Versorgung einfordert oder erwartet, sondern die Stärkung von Zugehörigkeitsmöglichkeiten? Kann eine kleiner werdende Kirche ein größeres Herz für jene entwickeln, die sich „nur“ zugehörig fühlen?

Ist es gar eine Verheißung für eine kleiner werdende Kirche, dass sie diese Form der Zugehörigkeit nicht als Kränkung, als Vorstufe zur „Voll-Zugehörigkeit“, als Schnupperphase der Mitgliedschaft oder dergleichen versteht, sondern Gott vielmehr dankbar ist, wenn sie Menschen situativ und ohne Schielen auf Mitgliedschaft Trost spenden, Heimat anbieten und Angstfreiheit zusagen kann?

Dies ist die vielleicht gewichtigste geistliche Aufgabe für unsere Kirchen: Viele Zugehörigkeiten zu ermöglichen, indem wir öffentlich sichtbar bleiben mit dem, was uns wichtig ist. Dazu müssen wir nicht zwingend an jedem Ort präsent und nicht an jedem (Sonn-)Tag aktiv sein, dazu müssen wir vielleicht nicht einmal betont als zwei große verschiedene christliche Konfessionen auftreten, sondern wir müssen vor allem eines klären: Welche Relevanz hat es, sich zugehörig zu wissen? Was gewinnt ein Mensch, der sich zugehörig fühlt zu einem Glauben an jenen Gott, der die Güte stärkt, der die Freiheit will und der die Gerechtigkeit fordert. Am 31. Oktober 2018 können wir zeigen, wie wir diese Frage beantworten!

Thies Gundlach

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Thies Gundlach

Thies Gundlach ist einer der drei theologischen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD und leitet die Hauptabteilung „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“.


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