Auf der Höhe der Zeit
Er war sicher einer der öffentlich präsentesten Theologen der Bonner Republik. So ist es kein Zufall, dass man, wenn man in Medienarchiven nachschaut, unter dem Namen „Helmut Gollwitzer“ eine reiche Ausbeute erhält. Er gehörte zu den Menschen, die von Radio-Nachrichtensendern interviewt wurden, wenn sie einen runden Geburtstag hatten.
Umso erstaunlicher ist es, dass er nach seinem Tod am 17. Oktober 1993 schnell in Vergessenheit geriet. In Kirche und Theologie scheint er keiner zu sein, an dem abzuarbeiten als lohnend betrachtet wird. Die Medien erinnern routiniert nur an ganz runden Festtagen an ihren ehemaligen Star, den Kirchenmann, der sich als Sozialist bekannte und immer wieder konkrete „Veränderungen im Diesseits“ einforderte.
Die einfachste und vordergründigste Erklärung für das rasche Verschwinden Gollwitzers aus dem öffentlichen Bewusstsein wäre die, dass er seine Theologie zu sehr an den politischen Tagesfragen orientiert habe. Deswegen habe er nur wenig „Bleibendes“ hinterlassen - und bei seinem politischen Engagement auch noch auf das falsche Pferd gesetzt: Nach 1990 wollte keiner mehr etwas von Sozialismus und Revolution hören; das schien wirklich von gestern zu sein.
Aber diese Erklärung macht es sich zu einfach. Ist es nicht vielleicht gerade so, dass seine Art, sich als Theologe auf die Fragen der Zeit einzulassen, etwas ist, das heute gebraucht wird, wenn Theologie wieder Relevanz für die Gesellschaft jenseits der Kirchenmauern erlangen möchte? Wenn man diese Spur verfolgt, merkt man auch, dass die Themen, mit denen Gollwitzer sich beschäftigte, keineswegs nur Tagesfragen waren, sondern weit über seine Zeit hinausreichten - und zum Teil bis heute drängend sind.
Eher konservativ
Zum Phänomen Gollwitzer gehört auch, dass er in seiner Person Positionen zusammenbrachte, die viele erstaunten: Er, der bayerische Lutheraner, der bei Karl Barth gelernt hatte, war theologisch eher konservativ - wie er in seinen Auseinandersetzungen über die Entmythologisierung und die Relevanz der Stellvertretung bestätigte. Dies paarte sich, durchaus nicht fernliegend, mit einer persönlichen Frömmigkeit: Gollwitzer fasste das, was er erlebte, als Anrufung Gottes auf; am eindrücklichsten dokumentiert in dem Bericht von seiner Kriegsgefangenschaft in Russland.
Aber dann war er eben auch der radikale Linke: Als „Kommunist, ökologischer, marxistischer, lukanischer“ und auch „lutherischer Prägung“, bezeichnete er sich und ließ mit seinem Lehrer Barth keinen Zweifel, dass die Hoffnung auf das Reich Gottes eine Politik in Richtung eines humanistischen Sozialismus fordere.
Interessant ist diese Mischung, weil sie ihm nicht in die Wiege gelegt, also nicht einfach das Ausagieren eines biographisch bedingten Vorurteils war. Gollwitzer war ein Lernender, wie man besonders an seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Marxismus sehen kann: Aus der russischen Kriegsgefangenschaft kommend, sah er im Atheismus die Wurzel für einen säkularen Messianismus, der den Marxismus zum Religionsersatz mache und damit in scharfen Gegensatz zum Christentum bringe.
Diese Position hat Gollwitzer revidiert, wenn er später erklärte, dass es „eine übliche Waffe der bürgerlichen Abwehr gegen den Marxismus“ sei, „diesen als Paradiesutopie hinzustellen“. Er lernte von den revoltierenden Studenten in Berlin, die marxistische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und Ökonomie als ein hilfreiches und notwendiges Instrument zu nutzen, um die eigene Zeit und die Lage der Kirche zu begreifen. Ein wichtiger Anstoß dazu war neben den Berliner Studenten die ökumenische Bewegung, die sich ab Mitte der Sechziger Jahre zunehmend mit der Ungleichheit in der Welt auseinandersetzte und hierin eine Herausforderung für die reichen Christen im globalen Norden sah. Dieser Sicht schloss sich Gollwitzer an und bemühte sich, zum Beispiel bei der EKD-Synode 1968, die politischen Forderungen der wenige Monate zuvor abgehaltenen Vollversammlung des ÖRK in Uppsala den deutschen Glaubensgeschwistern zu vermitteln, also eine großzügigere Entwicklungshilfe, weniger Geld für Rüstung und gerechtere Strukturen im Welthandel. Damals gab es grundsätzlichen Widerstand gegen diese vermeintliche „Politisierung des Glaubens“. Für die Kirchen wurde eine „Überparteilichkeit“ in politischen Tagesfragen eingefordert. Diese Position gibt es auch heute noch.
Gollwitzer aber argumentierte, dass die Kirche parteilich sein solle für diejenigen, denen Gerechtigkeit und Freiheit vorenthalten werde: Etwas, was heute in der allzu bequem aufgerufenen „Option für die Armen“ fast zum common sense geworden ist. Aber damit diese Parteilichkeit nicht zur „frommen Plattitüde“ verkomme, müsse die Kirche sich die Mühe machen und in den politischen Details mitreden, so Gollwitzer.
Zwar hätten die Kirchenleute nicht per se besseren Verstand, wenn es um die Mittel zur Erreichung von Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit gehe, räumte der Theologe ein. Aber die jeweils herrschenden Experten würden oftmals die Mittel schon als Zweck nehmen und innerhalb der Sachzwänge ihrer jeweiligen Funktionsbereiche operieren. Demgegenüber gehe es darum, immer wieder neu zu fragen, welche Mittel, welche Gesetze, welche institutionellen Arrangements und welches Wirtschaftssystem dem Zweck wirklich dienten. Hier wird der Abstand zu heutigen Selbstverständlichkeiten schon deutlicher, wenn die EKD Funktionsträger als „evangelische Verantwortungseliten“ unterstützen will, statt den unter Sachzwängen immer enger werdenden Raum der Verantwortung auszumessen - und nach Alternativen zu fragen.
Für Gollwitzer kommt man nicht darum herum, zu verstehen, wie der bürgerliche Kapitalismus funktioniert. Sich vorschnell darauf festzulegen, dass es zu ihm keine Alternative gebe, hielt Gollwitzer für verfehlt: Und das nicht etwa, weil er im real existierenden Sozialismus des Ostblocks damals eine erstrebenswerte Alternative gesehen hätte. Keineswegs. Die Notwendigkeit einer Alternative ergab sich für ihn aus der „Kapitalistischen Revolution“, wie er sein Buch nannte, das eine eigenständige politisch-theologische Gesellschaftsanalyse ist, wie sie seit Gollwitzer wohl kein anderer deutscher Theologe von Rang mehr vorgelegt hat.
Revolution des Kapitalismus
Mit dieser Analyse stellte Gollwitzer auch das damals diskutierte und umstrittene Problem, ob Christen sich an Revolutionen beteiligen dürften, in eine neue Optik: Die Revolution finde längst statt, aber auf Seiten des Kapitalismus; der revolutioniere fortwährend die Lebensverhältnisse. Aber was für Marx noch materieller Grund einer Fortschrittshoffnung war, wird Gollwitzer angesichts der ersten Erkenntnisse über die ökologische Katastrophe zur Überlebensfrage: „Noch längere Zeit kann sich die Menschheit den Kapitalismus nicht leisten.“ Deswegen brauche es eine Alternative: „Das Problem der sozialistischen Revolution ist deshalb kein anderes als die Aufgabe, die aus ihrer immanenten Gesetzlichkeit ziellos weiterrasende kapitalistische Revolution unter Kontrolle zu bringen.“
Dabei war sich Gollwitzer sehr bewusst, dass es nicht ausreicht, kirchlicherseits wohlfeile Forderungen auszugeben. Einer seiner Lieblingssätze von Marx, die er immer wieder zitierte, ist der, dass die Idee sich immer blamiere, wenn sie nicht mit einem Interesse verbunden sei. Der Blick auf die Interessen bedeutete für Gollwitzer zum einen, dass man für Alternativen durchaus an (langfristige) Interessen der Menschen anknüpfen müsse. Aber es bedeutete auch, dass mit Interessen derer zu rechnen sei, die vom Bestehenden profitierten.
Am deutlichsten hat Gollwitzer dies wohl in einer Rede auf den Punkt gebracht, die er drei Tage nach dem Putsch gegen Salvador Allende in Chile gehalten hat: „Spätestens jetzt kann jeder wissen, was Klassenkampf ist: immer zuerst der Klassenkampf von oben, der Klassenkampf der Privilegierten, zäh entschlossen (.) auch zur Abschaffung der Demokratie, wenn sie nicht mehr zur Sicherung der Klassenherrschaft taugt.“ Die Frage nach den Interessen bedeutete für Gollwitzer auch, dass sich die Kirche über ihren klassengebundenen Standpunkt klar werden müsse. Sie spreche aus der Perspektive des Bürgertums, das im großen Ganzen von den derzeitigen Verhältnissen profitiere: So „besteht auch für unsere Synoden von vornherein die größte Wahrscheinlichkeit, dass ihre Beratungen und Äußerungen sich streng innerhalb des für das kapitalistische System Erträglichen halten“. Hier gelte es, die Theologie nicht unbedacht zur Rechtfertigung klassengebundener Standpunkte zu vereinnahmen.
Dass diese Diagnose nicht veraltet ist, zeigt die Schwierigkeiten der EKD mit dem Thema der „Großen Transformation“: 2012 hatte die EKD zusammen mit dem DGB und dem BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz) einen Transformationskongress abgehalten. Dass man sich - durchaus parteilich - mit Arbeitnehmervertretern und Umweltaktivisten um das Thema Wirtschaft kümmerte unter einem Schlagwort, das heute zwar nicht mehr Revolution heißt, aber als Transformation immer noch ein Jenseits der herrschenden Verhältnisse anvisiert, das war ein Aufschlag auf der Höhe der Zeit nach der Finanzkrise.
Die EKD-Synode war so angetan, dass sie dem Rat der EKD die Weiterarbeit an dem Thema aufgab - allerdings schon mit dem Hinweis, auch die „Unternehmensseite“ einzubinden. Im Rat der EKD aber gab es Widerstände gegen das Thema „Transformation“, und so wurde der Synodenbeschluss mit einer eher unauffälligen Projektstelle „Diskurs nachhaltige Entwicklung“ umgesetzt: Der allgegenwärtige Containerbegriff „nachhaltige Entwicklung“ bewegt sich, in Gollwitzers Worten, dann doch wieder „innerhalb des für das kapitalistische System Erträglichen“.
Der Vorgang zeigt, dass die Themen, denen Gollwitzers theologische und politische Gedanken galten, immer noch aktuell sind. Aber es fehlt vielleicht einer wie Gollwitzer, der sie wirkmächtig im Gespräch hält, der sie zum zentralen Thema von Kirche und Theologie erklärt. Einem Thema, dem die Kirche sich nicht entziehen darf, wenn sie der Botschaft vom Reich Gottes heute Bedeutung geben möchte.
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann ist Theologe und Journalist. Er lebt in Köln.